06
Nov 2019

An der Audiotheke in Wortvogels Hör-Bar

Themen: Film, TV & Presse, Neues |

Ich werde nicht müde, es zu erzählen – und ihr werdet gefälligst nicht müde, es euch anzuhören: Podcasts, Hörspiele, Radio Features und Comedy-Specials sind eine tolle Sache, wenn man auf langen Autofahrten die Zeit überbrücken muss.

Man muss keine alten EUROPA-Kassetten digitalisieren oder ein Audible/Spotify-Abo haben, um sich den Speicher mit anspruchsvoller Hörkost zu füllen. Im Gegensatz zu Filmen und Serien kann man Sackladungen MP3 kostenlos und weitgehend legal aus dem Netz ziehen. Die Audiothek hatte ich euch ja schon vorgestellt, ebenso das englische Äquivalent BBC Sounds und die Möglichkeit, sich bei YouTube zu bedienen. Wessen Auto-Stereoanlage noch nicht für das 21. Jahrhundert gerüstet ist, kann sich mit Hardware für eine Handvoll Euro behelfen.

Mein Auswahlkriterium ist neben dem Thema noch die Laufzeit – unter 15 Minuten ist mir zu knapp, über eine Stunde zu lang. Ich mag es, wenn meine Playlist ungefähr jede halbe Stunde die Richtung wechselt und mich überrascht. Darum höre ich keine Hörbücher oder ungekürzte Lesungen.

Weil die Praxis immer besser ist als die Theorie, stelle ich euch heute die Sendungen vor, die ich auf über 2000 Kilometern in den letzten 72 Stunden gehört habe.

Jetzt gibt’s was auf die Ohren!

DEUTSCHES HÖRGUT

Ich bin jetzt nicht der Mega-Fan von FAZ-Kulturredakteur Dietmar Dath. Der ist mir ein wenig zu besoffen von sich selbst. Dieses Interview zu seinem neuem Mammutwerk NIEGESCHICHTE über die Geschichte der Science Fiction macht allerdings Lust, sich den Wälzer zu kaufen. Außerdem hat der Mann ein paar kluge Ansichten zum Genre.

Man muss weder Doris Wishman noch ihre Filme noch Jörg Buttgereit noch seine Filme mögen, um SATAN WAS A LADY einen hohen Unterhaltungswert zu attestieren. Das Leben der Regisseurin/Produzentin/Autorin diverser schrottiger Sexploitation-Streifen bietet einen faszinierenden Einblick in die Untiefen amerikanischer Kinokultur.

ANGST IM HÖRSPIEL – WIE ENTSTEHT DAS GRUSELN? ist so etwas wie eine Mogelpackung. Um die Angsterzeugung geht es nach der Einleitung nur noch begrenzt. Dafür bekommt man einen guten Eindruck, wie Hörspiele für deutsche Radiosender konzipiert werden. Wieder mit Jörg Buttgereit und mit 9 Minuten deutlich zu kurz.

Kommen wir zu einem Negativbeispiel – ALLES NUR KETCHUP? GEWALT IM FILM ist ein so strunzdummes und faktenfreies Gejaule gegen die angebliche Verrohung in Film und Fernsehen, dass man meint, Autorin Carolin Courts wäre in der Hysterie der VHS-Ära stecken geblieben. Die beteiligten “Experten” bekleckern sich weder mit Ruhm noch mit Ketchup. Aber als Aufreger kann man sich die 20 Minuten prima anhören.

Wo wir gerade bei den Ärgernissen sind: Die Sendung DARF ICH NOCH MICHAEL JACKSON HÖREN? UND WENN JA, WIE? POP, ETHIK UND IDENTITÄTSPOLITIK ist so unsäglich wie ihr Titel. Es geht natürlich um Michael Jackson, Roman Polanski und Kevin Spacey, um die Trennung von Künstler und Werk, um die Cancelled-Kultur. Besonders Lisa Ludwig profiliert sich hier als ständig “unfassbar” murmelnde Festlegerin dessen, was geht und was nicht. Keiner der beteiligten Männer versucht sich auch nur an leiser Kritik der These, dass Vorwürfe schon völlig ausreichen dürfen, um Karrieren zu vernichten. Weil es hier nicht um Wahrheit geht – nirgendwo. Einzig Samira El Ouassil kommt dank durchdachter Thesen und beeindruckendem Wortschatz unbeschadet davon. Die können alle froh sein, dass ich nicht vor Ort war…

Die der Sendung zugrunde liegende Podiumsdiskussion kann man sich auch komplett auf Video anschauen – sie wird dadurch nicht besser:

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Grundsätzlich finde ich den Podcast SMARTER LEBEN vom SPIEGEL nicht schlecht. Und auch das Thema Hochstapler-Syndrom erregte meine Aufmerksamkeit. Vor allem, weil ich selber bis vor wenigen Jahren immer wieder schockgleich dachte “boah, hoffentlich findet niemand raus, dass ich den Autor nur vortäusche”. Aber letztlich fehlt hier ein bisschen das Fleisch – es geht halt doch nur um ein vages Gefühl, das jeder mehr oder weniger irgendwann mal hat.

DAS GANZ GANZ GROSSE GLÜCK ist ein hörenswertes Stück über Schlagerkultur, in dem Texter und Sänger zu Wort kommen. Ich hadere nur ein wenig mit dem (leider nicht seltenen) Zwang, in einer Parallelhandlung einen subjektiven Blickwinkel einzubauen, den man als atmosphärische Hilfestellung, aber auch als unnötige Streckung sehen kann.

Es gibt dabei auch einen Einblick in die Genese dieses Monsters:

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Ich bin nur gelegentlicher Tee-Trinker. Keine Ahnung, warum ich eine MDR-Sendung zur Teeforschung runtergeladen habe. Tatsächlich entpuppte sich diese als sehr interessant und räumt mit vielen Mythen um das Heißgetränk auf. Welche Stoffe machen uns wach? Bei welcher Temperatur aufbrühen? Woher kommt die Kannenform? Ideales Häppchen-Wissen für die nächste Stehparty. Ich gehe nicht auf Stehpartys.

Ein Hörspiel habe ich mir dann doch gegeben: DER TOD DES LETZTEN SCHRIFTSTELLERS setzt als Rahmen eine Fernsehdebatte unter Quotendruck, in der über das Ableben des letzten Schriftstellers in einer medial verdummten Dystopie diskutiert wird. Eine gewisse Ähnlichkeit zu HARRISON BERGERON von Kurt Vonnegut ist kaum zu bestreiten. Durch das Produktionsjahr 1984 natürlich schon massiv gealtert, aber in seinen Themen durchaus noch relevant. Besonders beeindruckt haben mich die bekannten und sehr spielfreudigen Sprecher. Kopffutter.

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Zum Abschluss noch was für Seele und Intellekt, zur geistigen Entspannung: Max Goldt QQ habe tatsächlich nicht aus dem Netz gezogen, sondern von einer CD. So oldschool wie der Künstler selbst. Bezaubernd, lebensbejahend und so lecker wärmend wie ein frisch geschmolzener Block Rahmspinat.

RULE BRITANNIA

The Golden Age of American Radio. Es ist wirklich unfassbar, wie viel in den 30er bis 50er Jahren für das amerikanische Radio produziert wurde – und wie viel davon heute noch verfügbar ist. In dieser dreistündigen Dokumentation wird nicht nur die Geschichte der goldenen Ära des Radio-Dramas beleuchtet, es werden auch ein paar ausgesuchte Beispiele ausgespielt, z.B. eine THE SAINT-Episode mit Vincent Price und die Adaption einer Geschichte von Ray Bradbury. Vergleichbar mit der Towers-Doku.

Wem ich noch die Genialität von LITTLE BRITAIN erklären muss (inklusive der kongenialen deutschen Synchro von Oliver Kalkofe), der ist hier falsch. Mit LITTLE BREXIT haben David Walliams und Matt Lucas nun einen Nachschlag produziert, leider nur als Radio-Comedy. Aber alle Lieblinge sind dabei, allen voran Vicki Pollard. Und so bleibt am Ende die schadenfrohe Erkenntnis: Brexit says no.

LITTLE BREXIT wurde in einer Sendereihe ausgestrahlt, die primär dazu dient, jungen Comedians eine Plattform zu bieten. Als Testballon habe ich mir da noch Heidi Regans Programm OVERTHINKER angehört. In der Tat – sehr unterhaltsame 28 Minuten.

MR James ist absoluter Kult und in England wird praktisch jedes Jahr zur Weihnacht eine seiner Gruselgeschichten adaptiert. Mark Gatiss, einer aktuell gefragtesten TV-Masterminds (Doctor Who, Sherlock), hat in einem Radiodrama mehrere Geschichten von James umgesetzt – mit sich selbst als Rahmen setzender Autor. Gepflegter Grusel für Freunde von wehenden Vorhängen und flackerndem Kerzenschein.

Diese Version von MR James’ MEZZOTINT finde ich besonders schön:

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CHAIN REACTION ist eine so sensationell geile Idee für eine Interview-Reihe, dass ich schon wieder fluche, warum hier niemand so etwas macht. In kurz und knapp: ein populärer Promi interviewt 30 Minuten lang einen anderen Promi, den er persönlich bewundert – und dieser Promi interviewt dann wiederum in der Woche drauf den nächsten Promi. Und so weiter. Schönes Beispiel: Lenny Henry und Bill Bailey.

EVIL GENIUS ist eine weitere Granatenidee – drei Komiker diskutieren das Leben einer verstorbenen Legende. Dabei werden nach und nach die dunklen Seiten der Figur enthüllt und am Ende wird abgestimmt, ob der Legendenstatus überhaupt haltbar ist. Begeistert hat mich hier die intelligente, aber immer respektvolle Diskussionskultur, die man z.B. von Facebook oder aus deutschen Talkshows ja so gar nicht mehr kennt. Als Beispielepisode empfehle ich Amy Winehouse.

Nun sind die Briten ja generell massive Fans von sogenannten Panel Shows, in denen vier bis sechs Prominente lässig von der Leber weg plaudern, was irgendwie zu Punkten führt und einem seltsam vage definierten Gewinner. Die Panel Show ist das allgegenwärtige Gegenstück zu den unsäglichen deutschen Talkshows – nur viel unterhaltsamer. Im Radio gibt es auch viele, viele weitere Versionen, u.a. THE UNBELIEVABLE TRUTH. Hier wird den Kandidaten eine Reihe von absurden Lügengeschichten aufgetischt, die aber mitunter schräge Wahrheiten enthalten, die identifiziert werden müssen. Wie immer lebt das nicht vom Thema, sondern von der launigen Interaktion der Teilnehmer.

Vermisst jemand die KNOFF HOFF SHOW? Dann habe ich was für euch. Domestic Science dauert nur 15 Minuten, präsentiert faszinierende wissenschaftliche Erkenntnisse, lustige Experimente, das Element der Woche – und einen Song zum Thema Naturwissenschaften. Wusstet ihr, dass man 70.000 Bananen essen müsste, um das Potassium-Level eines Flugs von London nach New York zu erreichen? Eben.

Zum Abschluss noch “was mit Musik”. Craig Charles ist dank seiner Rolle als Lister in der SF-Sitcom RED DWARF sowieso schon Kult. Ich wußte auch, dass er seit Jahren in einer  britischen Soap mitspielt. Von seiner samstäglichen Radioshow CRAIG CHARLES HOUSE PARTY hatte ich allerdings noch nie gehört. Gute Musik auflegen und entspannt plaudern – das kann er. Radio wie in den glorreichen 70er Jahren. Besonders die Episode MIXTAPE COVERS hat mir eine lange Nachtfahrt erträglicher gestaltet.

Da gehen auch acht Stunden auf deutschen Autobahnen rum wie nix. Ich sollte öfter Auto fahren, nur um mehr Radio zu hören…



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2 Kommentare
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Gerrit
Gerrit
6. November, 2019 13:59

Danke, das funktioniert auch wunderbar beim Radeln. Insbesondere der Quizmaster in mir dankt.

Rudi Ratlos
Rudi Ratlos
7. November, 2019 12:01

Danke für den Little-Britain-Tipp – Hörspaß für die Mittagspause 🙂
Im Auto könnte ich solche Geschichten aber nicht hören, dass würde mich zu sehr ablenken – bin aber auch kein Vielfahrer.