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Mrz 2012

Kino-Kritik: "Chronicle"

Themen: Film, TV & Presse, Neues |

USA 2012. Regie: Josh Trank. Darsteller: Dane DeHaan, Alex Russell, Michael B. Jordan, Michael Kelly, Anna Wood.

Story: Andrew ist ein Loser mit einer todkranken Mutter und einem saufenden Vater. Zusammen mit Cousin Matt und Kumpel Steve stößt er im Wald auf eine seltsame Art Tunnel, an dessen Ende sie ein leuchtendes Kristallgebilde finden. In den Wochen darauf wird ihnen klar, dass die Begegnung mit dem mittlerweile verschütteten Artefakt sie verändert hat: Telekinese, Unverwundbarkeit, Flugfähigkeit – die drei Teenager sind nun Superhelden. Doch nach einigen Späßen und Spielereien stellt sich die Frage: was sollen sie mit den Kräften anfangen? Es ist Andrew, der unter dem Druck der Verantwortung beginnt, seiner dunklen Seite nachzugeben…

Kritik: Eine gute Freundin von mir hat den Film letzte Woche in New York gesehen. Ihr kurzes Urteil: Der fängt schwach an, entwickelt aber dann unglaublichen Drive. Und präziser kann man "Chronicle" kaum zusammen fassen.

Zuerst einmal zum offensichtlichsten Schwachpunkt: Es ist mal wieder alles angebliche Doku-Footage. Die Kamera ist nicht autark, sondern wird von wechselnden Protagonisten geführt. Und es ist ein Gimmick, ein unnötiger Kunstgriff, der wenigstens nicht so restriktiv eingesetzt wird wie weiland bei "Blair Witch Project" oder "Paranormal Activity". Das scheint sogar den Machern klar, denn je länger "Chronicle" dauert, desto mehr rückt die subjektive Kamera in den Hintergrund, morpht förmlich zum autonomen Auge außerhalb des Geschehens.

Und richtig: "Chronicle" braucht ein bisschen, um in die Puschen zu kommen. Die ersten 20 von gerade mal 84 Minuten mühen sich ein wenig zu sehr, Andrews deprimierendes Leben bis ins klischeebeladene Detail zu zeigen. Zu lange muss man als Zuschauer fürchten, dass der Film eher eine Studie über Außenseiter bleibt und die wachsenden Kräfte der Protagonisten nur als Katalysator versteht.

Aber dann dreht "Chronicle" auf und wird doch noch zu einem waschechten Actiondrama über Teenager, die mit Gedankenkraft Häuser zerstören und über den Wolken fliegen können. Zum großen Showdown geht dann endgültig jede Zurückhaltung flöten und ein ganzes Stadtviertel wird zum Kollateralschaden.

Trotzdem bleibt "Chronicle" an jeder Stelle bemüht, nicht glamourös zu werden, die Macht seiner Protagonisten nicht als Chance, sondern als Herausforderung und sogar als Risiko zu begreifen. Das Leben der drei Freunde wird nicht leichter, es wird komplizierter – und lebensgefährlich. Ohne ebenbürtige Gegner bleibt ihnen am Ende nur der Kampf gegeneinander, den letztlich keiner gewinnen kann.

"Chronicles" macht alles richtig, was der ähnlich gelagerte "Ich bin Nummer Vier" falsch macht: Er baut potente Konflikte und glaubwürdige Charaktere, verkitscht die Probleme der Protagonisten nicht, schielt nicht permanent auf die Zielgruppe der Teenager-Mädchen, bleibt mit den Hauptfiguren auf Augenhöhe, statt sie von oben herab zu behandeln. "Chronicle" ist das Ergebnis echter Liebe zum Genre, wo "Ich bin Nummer Vier" zynische Abzocke ist. Schön, wenn man es so leicht unterscheiden kann.

Die tatsächlichen Gene von "Chronicle" sind vielfältig: "Akira" ist mit drin, sicher auch "Watchmen". Streckenweise erinnert der graue Realismus an "Unbreakable", Pate dürfte auch "Kick Ass" gestanden haben, vielleicht sogar "Smallville". Aber die Entnahme von Elementen und Motiven resultiert nicht in Stückwerk, sondern in einem stimmigen, reifen und kohärenten Drama über die Unmöglichkeit, von heute auf morgen erwachsen zu werden – und die Erkenntnis, dass mit großer Kraft vielleicht große Verantwortung kommt, diese aber auch überfordern kann. Autor Max Landis hat verstanden, dass es längst nicht mehr nötig ist, für eine gute Heldengeschichte mit Stars und Kostümen zu hantieren – im Geist der Independent-Comics sucht und findet er den Kern hinter der polierten Oberfläche, die hässliche Wahrheit über den Fluch der Macht. Und rockt dabei noch wie die Hölle.

Ich will nicht sagen, dass "Chronicle" perfekt ist. Die meisten Flugszenen sind holperig aus Wire-Stunts und Fallschirmsprung-Compositing zusammen gestoppelt. So "slick" wie "Spider-Man" oder "Iron Man" kann und will "Chronicle" nicht sein. Aber bei einem Film, der angeblich nur 12 Millionen Dollar gekostet hat, ist das Geleistete weit über dem Erwarteten – und ich stelle mal die Behauptung in den Raum, dass der große Schlusskampf der packendste Heldenfight ist, den ich seit "Superman 2" gesehen habe.

Ich habe es schon oft gesagt und ich sage es gerne wieder: Comicfans leben in einer großartigen Zeit, die uns pro Kino-Saison mittlerweile mehrere Highlights beschert. Für jeden "Ghost Rider" gibt es einen "Captain America", für jeden "Green Hornet" einen "Iron Man". Man kann mit gelungenen Superhelden-Zeichentrickfilmen und Serien ganze DVD-Regale füllen und auch in den Bereichen Comedy und Drama tummeln sich die Capeträger. Endlich gelingt es, den Mythos des Superhelden so präzise und plausibel auf die große Leinwand zu bringen, dass man sich sogar daran machen kann, ihn jetzt wieder zu dekonstruieren. "Chronicle" ist damit kein alleinstehender Film, sondern das logische Ergebnis einer Entwicklung. Er ist und braucht Kontext.

Fazit: Ein weiterer würdiger und über weite Strecken überzeugender Versuch, dem Superhelden-Subgenre einen neuen Blickwinkel abzuringen, ohne es dabei zu verraten. Absolut empfehlenswert.

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Peroy
Peroy
1. März, 2012 09:07

"Für jeden “Ghost Rider” gibt es einen “Captain America“, für jeden “Green Hornet” einen “Iron Man“."

Umgekehrt.

heino
heino
1. März, 2012 10:11

Auf den freue ich mich auch schon wie Bolle, obwohl ich den Wackelkamera-Scheiss echt nicht leiden kann. Hoffe mal, da shält sich hier in Grenzen

Jim
Jim
1. März, 2012 12:29

Ich dachte schon, gleich kommt der urste Verriss von wegen Jugendliche, billiger Plot, Actionverherrlichung und Justin-Bieber-Attitüden.. doch so klingt es durchaus interessant. Danke für die Kritik.
Jim

Marcus
Marcus
1. März, 2012 17:46

"“Für jeden “Ghost Rider” gibt es einen “Captain America“, für jeden “Green Hornet” einen “Iron Man“.”

Umgekehrt."

Ach, Peroy…. 🙁

Comicfreak
Comicfreak
1. März, 2012 17:49

..den will ich jetzt unbedingt sehen!

Thies
Thies
1. März, 2012 20:04

Der Trailer sah wirklich gut aus hatte mich sofort angefixt. Das Review werde ich aber erst in drei Wochen lesen, da er dann auf den FFF-Nights läuft. Es reicht mir schon, dass ich bei einem Slashfilm-Podcast einen das letzte Drittel betreffenden Spoiler aufgeschnappt habe. Ein paar Geheimnisse darf der Film bei der Erstsichtung gerne noch haben.

Olsen
2. März, 2012 00:55

Das mit den Comicfans stimmt, schätze ich. Und leider auch der Umkehrschluss: Wenn man nichts mit Comics anfangen kann, ist das Mainstream-Action-Kino momentan eine Wüstenlandschaft ohne Aussicht auf Niederschlag.

heino
heino
1. April, 2012 10:57

Gestern gesehen und weitestgehend, aber nicht völlig zufrieden. Ich hätte es interessanter gefunden, wenn sich der Film nicht auf Andrew eingeschossen, sondern einen der anderen hergenommen hätten, denn wie du oben schon sagst, ist die Figur Andrew und sein Umfled so dermassen klischeebeladen, dass man schon nach wenigen Minuten ahnt, wie es für ihn enden wird. Die teilweise etwas unfertig wirkenden Effekte haben mich überhaupt nicht gestört, richtig gut fand ich den Teil, in dem die 3 ihre Kräfte entdecken und der Film zeigt, was sie dann erstmal für einen Unsinn damit anstellen, einfach nur, weil sie es können und Freude an ihren Fähigkeiten haben. Insgesamt ein guter Film, der einen etwas lahmen Anfang hat und etwas zu billige Klischees durchkaut.

Wortvogel
Wortvogel
1. April, 2012 11:30

@ heino: Absolut richtig. Aber mir gefällt, wie Andrew als Protagonist der dunklen Macht verfällt und es gerade die langweiligste Milchkeks-Figur des Films ist, die ihn stoppen muss – und am Ende sogar stoppen kann. Der Tod Andrews war für mich wirklich ergreifend – nicht, weil ich Andrew so mochte, sondern weil klar war, wie schwer es Matt fällt.