Street View: Frische Bilder, verlorene Vergangenheit

Im Jahr 2010 begrüßte ich Google Street View mit einem frühen Artikel. Im Gegensatz zum erschreckend großen fortschrittsfeindlichen Teil der Bevölkerung fand ich die Möglichkeit, Straßen virtuell zu wandeln, ziemlich klasse.

Leider hatte Street View das Problem, dass viele Menschen klagten und ihre Häuser verpixelt sehen wollten, unterstützt von Panik machenden Politikern und einer generell Google eher feindlich gesinnten Presse. Teilweise erinnerte mich die Hysterie an den Widerstand gegen die Volkszählung in den 80ern. Ende vom Lied: Google beließ es bei den Aufnahmen der ungefähr 20 größten deutschen Städte und aktualisierte die Aufnahmen nach 2008 auch nicht mehr.

Die Tatsache, dass Google sein Bildmaterial nicht erneuerte, führte im Laufe der Jahre zu einem kuriosen Effekt – statt veraltet waren die Bilder irgendwann historisch. Hier waren längst abgerissene Wohngebiete noch zu sehen, unbebaute Grundstücke, aufgegebene Geschäfte. Street View und die Wirklichkeit entfernten sich zunehmend voneinander und bildeten ein interessantes vorher/nachher-Duo.

Auch darüber habe ich natürlich geschrieben – 2015 war das. Da sah man mein längst aufwändig renoviertes Haus noch im alten Zustand:

Und um die Ecke gab es noch den Hertie – weder das Gebäude noch die Firma haben es in die 20er Jahre des neuen Jahrtausends geschafft:

Ich fand faszinierend, was eigentlich ein Ärgernis war – so stellt Apple mit seinem eigenen “Karten”-System längst aktuellere, bessere und weitgehend unverpixelte Aufnahmen bereit. Mein Haus sieht seit Jahren frisch wie der junge Morgen aus:

Apple hat übrigens auch die Technik besser im Griff als Google: Die Übergänge zwischen den Aufnahmen sind derart smooth, dass man durch die Straßen zu schweben glaubt.

Nun ist es aber soweit: Google hat die Street View-Aufnahmen nach fast 15 Jahren aktualisiert, vorerst wieder für die 20 größten deutschen Städte. Statt dem Hertie sehen wir nun den neu gebauten Woolworth:

Mein Haus ist nicht nur renoviert – auch der Skandalabriss des Uhrmacherhäusels gegenüber ist dokumentiert:

Alles gut und schön. Kartenmaterial sollte grundsätzlich so up to date wie möglich sein. Sieht man exemplarisch am eigenen Navi. Aber dennoch möchte ich hoffen, dass Google sich einer gewissen historischen Verantwortung bewusst ist und das alte Street View-Material irgendwo gespeichert hat. Momentaufnahmen von 20 deutschen Großstädten – jede Straße, jedes Haus – werden mit fortschreitenden Jahren immer mehr Wert haben. Es sind nicht nur Schnappschüsse. Es sind Dokumente.

Ich will das gerne an einem privaten und einem öffentlichen Beispiel verdeutlichen. Wenn ihr euch weiter oben das alte Bild meines Hauses anschaut, seht ihr im Hintergrund meinen längst verschrotteten Aprilia-Roller stehen. Daneben: mein damals frisch gekaufter Toyota Aygo.

Auf den neuen Aufnahmen des Hauses, in dem wir heute wohnen, kann man den Aygo auch noch sehen – sie stammen von März 2022:

Ein paar Monate später hat eine junge Dame den Wagen per Auffahrunfall geschrottet. So gesehen dokumentiert das alte Bild die “Geburt” des Aygos und das neue Bild seine Zielgerade. Dazwischen: 14 gute Jahre. Mich macht das nostalgisch.

Und selbst die neuen Aufnahmen von Street View haben in dieser schnelllebigen Zeit schon wieder dokumentarischen Wert. Hier ist noch der alte Hauptbahnhof zu sehen, in dem ich 1990 blauäugig und aufgeregt München erreichte:

Das “neue” Bild ist ein altes, der Bahnhof mittlerweile auch schon abgerissen. Aber bedeutet das, dass dieses Bild keinen Wert mehr besitzt?

Wie seht ihr das, generell und ganz speziell? Nutzt ihr so etwas wie Google Maps Street View überhaupt? Oder ist das Schnickschnack und kann weg?