08
Apr 2024

Eine Geschichte meiner Mutter

Themen: Neues |

Heute wäre meine Mutter 81 geworden. Leser meines Blogs wissen – sie starb am 29. August 2022. Was ich seinerzeit im Nachruf schrieb, hat sich bewahrheitet: Mit der Erinnerung verblasst der Schmerz, aber auch die Gegenwärtigkeit. Ich kann sie nicht mehr riechen, nicht mehr hören. Vor der Säule auf dem Friedhof, auf der ihr Name eingraviert ist, intensiviert sich das Gefühl nicht mehr. Sie ist weg, präsent nur noch in den Gesprächen zwischen meinem Bruder und mir – oder in kleinen Anekdoten, die ich mit meiner Frau teile.

Vielleicht wird es eine kleine jährliche Reihe, dass ich einzelne Fragmente aus dem Leben meiner Mutter mit euch teile. Damit sie nicht verloren gehen.

So ziemlich das letzte Geschenk, das mir meine Mutter machte, war diese Blechdose mit Reproduktionen klassischer Düsseldorfer Postkarten-Motive:

Sie wusste, dass ich “meinen Kiez” manchmal vermisse. Oder wie ich es ausdrücke: Düsseldorf ist meine Heimat, München mein Zuhause, London mein Traum.

Erst nachdem meine Mutter im Sommer 2022 wieder nach Düsseldorf zurück gefahren war, fiel mir auf, dass eine der Postkarten deutlich vergilbter war als die anderen (unten rechts). Es war keine Reproduktion. Es war eine Postkarte, die meine Mutter mit 13 an einen “Opa” in Belgien geschickt hatte, der nicht wirklich ein Opa gewesen war. Datiert ist die Postkarte auf den 28.6.1956.

Etwas historischer Background: Mitte der 50er ist die Familie aus St. Vith in Belgien nach Düsseldorf umgesiedelt. Mein Großvater (alte belgische Familie), meine Großmutter (aus Düsseldorf stammend), die drei Kinder Klaus, Monika und Hildegard (meine Mutter).

In Belgien sah mein Großvater keine wirtschaftliche Perspektive, keine berufliche Zukunft für die Kinder. Also gab er sein kleines Uhrmacher-Geschäft auf und nahm eine Stelle als Feinmechaniker in einem mittelständigen Unternehmen in Eller an. Nach einigem Hin und Her kaufte er ein Haus ganz in der Nähe in der Richardstraße. Es wurde der Familienstammsitz für die nächste Generationen.

Meine Mutter hatte immer mal wieder angedeutet, dass ihr die Umsiedlung schwer gefallen war. Sie war 12, hatte Freunde in Belgien, ging dort zur Schule. Ein typisches einfaches Dorfleben. Düsseldorf war Großstadt, fremd und anonym. Aber mein Großvater war bei allen guten Absichten kein Mann, der seine Familie in Entscheidungen einbezog. Drei Jahre später teilte er meiner Mutter beim Frühstück mit, dass er nichts von ihren Plänen hielt, Lehrerin zu werden. Er hatte sie bei der Schule abgemeldet und eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau in die Wege geleitet. So wurde meine Mutter gegen ihren Willen Verkäuferin.

Und nun also diese Postkarte:

(Hinweis: Der zweite Vorname meiner Mutter war ihr Rufname)

Ich habe meine Mutter nur wenige Wochen vor ihrem Tod danach gefragt und es fiel ihr sichtlich schwer, darüber zu sprechen:

“Die Karte, ach ja. Die ist in Belgien wieder aufgetaucht. Es ist schon komisch. Ich klinge so aufgeweckt, fröhlich und neugierig. Dabei war ich tot unglücklich und habe jede Nacht geweint vor Heimweh nach Belgien.” 

Dann erzählte sie etwas, das ich ungleich schlimmer fand:

“Es ist auch noch ein Stapel weiterer Postkarten aufgetaucht, die ich geschrieben habe, alle an meine Freundinnen. Da konnte ich mein Herz ausschütten, konnte versuchen, die Verbindung in die Heimat aufrecht zu erhalten. Erst Jahre später habe ich erfahren, dass meine Mutter sie nie abgeschickt, sondern einfach in einer Schublade aufbewahrt hat. Dort habe ich sie nach ihrem Tod gefunden. Kein Wunder, dass meine Freundinnen nie auf meine Postkarten geantwortet haben – sie haben sie nie bekommen. Das hat mir das Herz gebrochen.”

Ich kann nicht adäquat beschreiben, wie sehr mir diese Worten meiner Mutter in den Magen schlugen, welche Wut gegen meinen Großvater und meine Oma hochkochte – aber Mutti beschwichtigte mich gleich:

“20 Pfennig Porto waren damals viel Geld und deine Oma musste genau haushalten – da war für meine Postkarten einfach nichts übrig.”

Vielleicht ist das auch der Punkt, an dem wir eine Lehre aus der Geschichte ziehen können. Meine Großeltern waren nicht arm, nicht bedürftig. Das Haus in der Richardstraße hat Opa günstig gekauft und dann in Eigenleistung in über 10 Jahren komplett saniert, bis aus dem Altbau mit dem Kohlenkeller ein modernes Anwesen mit 3 Wohnungen und einem Keller-Apartment geworden war.

Our house, in the middle of our street. Wir hatten als Familie keinen Luxus, aber ich erinnere mich nicht, dass jemals etwas fehlte. Wir waren nach dem Maßstab der 50er, 60er und 70er Jahre solider Mittelstand. Niemand hätte das bestritten.

Und dieser Mittelstand bedeutete damals eben, dass für die tränenreichen Postkarten der Tochter an die Freundinnen in Belgien das Geld nicht reichte. Dass man sich keinen Urlaub leisten konnte und beim Metzger so lange angeschrieben wurde, bis mal wieder Geld ins Haus kam. Alle Familienmitglieder passten sich diesem Lebensstandard an, trugen dazu bei – und von allen wurde erwartet, dass sie hart arbeiten, um ihn zu verbessern. Die klassische Nachkriegsgeschichte.

Mein Großvater wollte, bei aller Härte und Autorität, dass es seinen Kindern mal besser geht. Mein Vater und meine Mutter wollten das auch für uns. Das war nicht primär ein materielles Ziel. Wir sollten Abitur machen, weil es uns Chancen ermöglichen würde, Freiheiten. Wir sollten Abitur machen, weil unsere Eltern es nicht machen durften. Darüber hinaus ließen sie uns bei der Berufswahl freie Hand. Weil sie keine freie Hand gehabt hatten. Dafür sind wir bis heute dankbar.

Trotzdem. Mama, das hätte Oma nicht mir dir machen dürfen. Nicht mit 13. Nicht so weit weg von der Heimat und deiner Kindheit. Wenn ich könnte, ich würde jede deiner alten Postkarten nehmen, würde die noch lebenden Freundinnen aus deiner Kindheit aufsuchen, ihnen die Karten geben und von dir erzählen.

Nicht vergessen. Bis ich selber die Augen schließe.



Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

7 Kommentare
Älteste
Neueste
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Thor
Thor
8. April, 2024 15:04

Uff. Pippi in die Augen.
<3

Flusskiesel
8. April, 2024 15:47

Danke fürs Teilen!
*schnüff*

Nikolai
Nikolai
8. April, 2024 22:39

Wegen solcher Geschichten lese ich hier mit.
Danke dafür.

Thomas Bunzenthal
Thomas Bunzenthal
9. April, 2024 09:20

Sehr schön.

Sven
Sven
9. April, 2024 18:49

Wow;–(

Maik
Maik
10. April, 2024 10:50

Geschichten dieser teilweise harten Abwägungen kenne ich auch aus meiner Familie. Das war oft die Schattenseite von „Früher konnte man mit einem Feinmechanikergehalt ein Haus kaufen“ ( noch 1957: wozu braucht die Tochter Abitur, wozu einen Führerschein war erstmal die Grundeinstellung gegen die sich meine Mutter aber durchsetzen konnte).

Matts
Matts
12. April, 2024 23:04

So ist das Heute, so war das Damals.
Schön war die Zeit, aber nicht immer leicht.