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Feb 2024

Fantasy Filmfest White Nights 2024 München (8): RED ROOMS

Themen: FF White Nights 2024, Film, TV & Presse |

Kanada 2023. Regie: Pascal Plante. Darsteller: Juliette Gariépy, Laurie Babin, Elisabeth Locas, Natalie Tannous, Maxwell McCabe-Lokos

Offizielle Synopsis: Kim (16), Justine (14) und Camille (13) sind tot. Entführt, gefoltert, sexuell missbraucht und zerstückelt fanden sie ihr bestialisches Ende vor laufender Kamera im Darknet. Monate später steht ihr mutmaßlicher Peiniger vor Gericht: Mit stoischer Miene und hinter Sicherheitsglas verfolgt Ludovic Chevalier die verstörende Beweisführung der Staatsanwältin und blickt den traumatisierten Angehörigen ins Gesicht. Sein Verteidiger plädiert auf „nicht schuldig“. Mit im Saal beobachten zwei Frauen den Prozess gegen den „Dämon von Rosemont“ mit fragwürdiger Faszination: Clémentine hat sich in Chevalier verliebt, verteidigt ihn mit Feuereifer auch vor der Kamera. Noch tiefer verliert sich Model und Hackerin Kelly-Anne in ihrer Obsession für das, was in Chevaliers „Red Rooms“ vor sich gegangen sein muss.

Kritik: Das ist der Film, auf den ich mich am wenigstens gefreut habe – und das nicht nur, weil er am Sonntag der einzige war, der an der 2 Stunden-Grenze kratzen wollte. Ich entwickle langsam eine Abneigung gegen üppige Laufzeiten. Hauptsächlich sprach aber das Schlagwort “Darknet” (alternativ: “dark web”) gegen RED ROOMS. Das ist meistens ein Euphemismus für “alles geht”, wenn faule Drehbuchautoren irgendwas wild daher behaupten wollen. Letztlich eine Leerstelle wie “virtual reality” oder “Quantenmechanik”. Weil keiner weiß, was es bedeutet, kann es alles bedeuten. Ich habe das anderweitig schon thematisiert.

Ich erwartete also einen Film, in dem Leute nervös auf Monitore starren, auf denen jungen Frauen in grobkörnigen Bildern Gewalt angetan wird.

Falsch gedacht.

Tatsächlich ist RED ROOMS (der sich nur sehr peripher mit dem Phänomen der  Red Rooms beschäftigt) ein Film über unsere Faszination mit der Gewalt. Nicht nur die Faszination, der Gewalt zuzuschauen, sondern auch die Faszination der Gewalttäter. In der Figur Clementine werden hervorragend all jene Frauen aufgearbeitet, die Serienkillern Liebesbriefe schreiben, weil sie sich ein Weltbild konstruiert haben, das keine Verbindung mehr zur Realität haben muss.

Ebenso gut beobachtet wie die psychologische Seite ist die technische. Zwar sieht das Hacking und Online-Gaming von Kelly-Anne etwas glamouröser aus als in Wirklichkeit, aber die Mechanismen sind plausibel und nachvollziehbar. Hier hat der Drehbuchautor tatsächlich seine Schulaufgaben gemacht. Wir sehen Kelly-Anne nicht wild in irgendwelche grafischen Interfaces tippen und dabei vor sich hin murmeln, damit wir verstehen, was passiert – wir verstehen es durch die Interfaces selber, durch die Buttons, die Klicks, die Fortschrittsbalken

Im Zentrum des Films steht aber nicht “der Fall”, oder “der Prozess”. Es ist Kelly-Anne selber. Ein Model, eine Hackerin, eine seltsam isoliert lebende urbane Schönheit, deren Intelligenz außer Frage steht und deren Motivation für uns komplett im Dunkeln bleibt. Ich kann mich an kaum einen anderen Film erinnern, der so sehr beabsichtigt und dem es so sehr gelingt, die Motivation und das Ziel der Hauptfigur zu verschleiern. Wir beobachten 90 Minuten lang, was Kelly-Anne tut – ohne die geringste Ahnung, warum sie es tut. Und selbst als die Karten auf dem Tisch liegen, bleiben Zweifel, bleibt die Frau eine Chiffre.

Ist das ein Horrorfilm? Ein Thriller? Ein Gerichtsdrama? Alles und doch nichts davon. RED ROOMS lebt zwischen den Subgenres und muss keines von ihnen billig bedienen. Primär ist er ein moderner Film über den Wandel unserer Zeit, der neue Konflikte, Ängste und Spannungen findet, die er aufarbeiten kann. Bemerkenswert.

Fazit: Eine hypnotische Meditation über den Reiz des Verbotenen und die fluide Qualität von Moral in einer vernetzten Gesellschaft, die bis zum Schluss erstaunlich gut darin ist, die spröde Hauptfigur spannend zu halten. 9 von 10 Punkten.

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4 Kommentare
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Nummer Neun
12. Februar, 2024 17:24

Zu gerne hätte ich deine Einschätzung nach den anfänglichen Monologen im Gerichtssaal gehört. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schlimmste Befürchtungen, aber zum Glück diente diese Sequenz nur dazu, den Fall zu etablieren.

Thies
Thies
12. Februar, 2024 22:17

Die Zeit wann ein Film läuft kann viel auf die Wahrnehmung auswirken. Dies war der letzte Film am Samstag und nach sieben Stunden Schicht und zwei Filmen davor, war es eine sehr zähe Geduldsprobe. Der Beginn mit dem Plädoyer beider Parteien ließ mich befürchten den ganzen Prozess in Echtzeit sehen zu müssen.

Die beginnende Freundschaft zwischen Clementine und Kelly-Anne führt wenigstens dazu letztere etwas zugänglicher zu zeigen, denn ihr Verhalten war bis dahin nahe dem Autismus. Ich hatte alles was sie tat in den ersten zwei Dritteln als schwer nachvollziehbar aber glaubhaft registriert. Ab einem bestimmten Punkt, den ich ohne massiven Spoiler nicht näher benennen kann hatte sie und damit der Film mich komplett verloren. Was vorher nur fremd erschien wurde völlig unplausibel.

Der Regisseur bezeichnete seinen Film als Slow-Burner, aber auch in einem leise köchelnden Gericht muss man ab und zu umrühren damit es nicht anbrennt. Das wurde für meinen Geschmack hier vergessen.

Will Tippin
Will Tippin
13. Februar, 2024 22:40
Reply to  Thies

Kann ich nur bestätigen. In Stuttgart war er zwar mittendrin und ich rede mir ein, dass es irgendwie daran lag. Direkt nach Abspann war der für mich die Gurke des Festivals, rückblickend betrachtet ist er aber wirklich clever konstruiert und ich will ihn besser finden. Im Kinosaal haben bei mir die 15 Minuten Echtzeit-Prozesseröffnung halt gleich mal Minus gemacht, dazu laaangsames Tempo und keine echte Nachvollziehbarkeit wer warum so handelt. Da bin ich buchstäblich mehrmals eingepennt. Dafür war die… ich nenne es mal spoilerfrei “finale Szene am PC” so gut gemacht, dass im Saal hörbar erleichtert aufgeatmet wurde, als “es” geklappt hat. Auch wenn da noch nicht ganz klar war, ob die Beweggründe jetzt gut oder schlecht sind.