25
Apr 2024

Gänsehaut zur Geisterstunde (3): “Fiona” von Marko Heisig

Themen: Film, TV & Presse, Neues |

“Ich liebe dich”, sagte ich.

Die Andeutung eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht, doch sie blickte zu Boden. Lange Zeit schwieg sie.

“Mark . . . wir kennen uns schon so lange, und . . . laß uns doch einfach gute Freunde bleiben, ja?”Ihr schulterlanges braunes Haar wurde vom Wind zerzaust. Sie sah mir fest in die Augen. Ich wandte den Blick ab und schaute zu der Gruppe von Campingwagen, wo unser Zelt stand. Es war Ende August. Die Sonne schien heiß vom Himmel herab, dennoch fröstelte ich, und das lag nicht nur am alles andere als warmen Küstenwind.

“Ja”, sagte ich tonlos. »Freunde.”

Fiona war sechzehn. Wir hatten uns schon immer gut verstanden, doch für mich war sie mehr als ein guter Freund, mit dem ich mal für ein Wochenende zum Campen fahren konnte. Mit meinen zwanzig Jahren hatte ich eine Reihe hübscher junger Mädchen kennengelernt, aber bei keiner hatte ich bisher das Gefühl gehabt, daß es richtig war. Ich wollte mich auch nicht verlieben… ich durfte es nicht.

Dennoch war es passiert.

“Dann werden wir uns in Zukunft wohl nicht mehr so häufig sehen”, sagte ich.

Sie sah mich verwirrt an. »Wieso nicht?”

Ich lächelte, obwohl mir die Augen brannten. “Fiona, ich liebe dich, und ich könnte dich niemals mit den Augen eines bloßen Freundes sehen. Außerdem glaube ich, daß dein Freundeskreis groß genug ist. Du brauchst mich nicht.”

Den letzten Satz hatte ich verbitterter ausgesprochen, als ich wollte; Fiona blickte wieder zu Boden.

“Mein Freundeskreis ist bei weitem nicht so groß, wie du vielleicht denkst”, sagte sie leise. “Sicherlich, Bekannte habe ich viele. Aber Freunde, richtige Freunde wie dich, habe ich viel zu wenig. Ich brauche dich . . aber nicht als Liebhaber. Es… würde nicht funktionieren.”

Sie stockte, und erstaunt stellte ich fest, daß ein kleiner Tränenschleier in ihren Augen glänzte. Ich schluckte. Für eine Weile schwiegen wir beide. Während ich weiterhin zu den Campingwagen starrte, blickte sie auf die festgestampfte Erde unter unseren Füßen. Sie sah nicht sehr glücklich aus.

Ein vertrautes Gefühl stieg plötzlich in mir auf, doch ich kämpfte dagegen an. Nicht jetzt, dachte ich hasserfüllt, nicht jetzt, und auf keinen Fall bei ihr!

Dann lief eine Träne an ihrer Wange herab. »Ich … kann mich nicht zwingen, dich zu lieben”, sagte sie mit zitternder Stimme. »Bitte . . . ich möchte dich nicht verlieren. Wir müssen Freunde bleiben.”

In mir tobte weiter der Kampf. Ich muß hier weg, dachte ich hysterisch, sonst passiert etwas.

Ich war überrascht, wie ruhig meine Stimme klang, als ich sagte: »Entschuldige mich einen Moment.

Ich drehte mich um und lief fort, Richtung Strand. Dabei warf ich keinen Blick zurück, doch ich spürte, Fiona blickte mir lange hinterher.

*

Was soll das? fragte die Stimme in meinem Kopf erbost. Sie ist ein Mädchen wie alle anderen auch. Sie gehört mir!

“Nein”, sagte ich, und mit schnellen Blicken überprüfte ich, ob ich alleine war. Das Wasser der Ostsee war heute nicht sonderlich warm, so daß glücklicherweise nur vereinzelt ein paar Menschen am Strand lagen. Ich stand zwischen zwei Felsen, während ich, wie es aussehen mußte, ein Selbstgespräch führte.

Denk an die Abmachung. Die Stimme hatte einen drohenden Unterton.

“Das tue ich Tag für Tag.”

Das stimmte. Und ich dachte nicht nur an diese Abmachung, ich verfluchte mich regelmäßig selbst dafür, daß ich so dumm gewesen sein konnte.

Es war vor vier Jahren. Ich war ein Jugendlicher gewesen wie viele andere auch. Meine schulischen Leistungen waren nicht überragend, aber auch nicht schlecht, Durchschnitt eben. Meine Familie war intakt. Ich hätte eine zufriedene Kindheit haben können. Dennoch gab es etwas, das mit roten Leuchtbuchstaben in meinem Kopf aufleuchtete, wenn ich nur daran dachte: Neurodermitis. Wer dieses Wort noch nie gehört hat, kann sich glücklich schätzen; Neurodermitis ist eine Hautkrankheit. In den meisten Fällen ist sie nicht sonderlich schlimm, heutzutage keine Seltenheit mehr man hat hin und wieder ein paar rote Stellen auf der Haut, die man mit Cortisonsalbe leicht in den Griff bekommt. Aber bei mir war es anders.

Ich hatte am ganzen Körper, vom Kopf bis zu den Füßen, eine einzige rote, juckende und schuppende Hautoberfläche. Ein Hautarzt nach dem anderen erklärte mir, da könne man nichts machen; sie verschrieben mir ein paar Salben zum Pflegen, das war alles. Es war entsetzlich. Gott möge mir vergeben, in dieser Zeit habe ich an seiner Existenz gezweifelt.

Aus diesem Grunde hatte ich mich, ausgestoßen, wie ich war, einer Gruppe Jugendlicher angeschlossen, die in ihrer Freizeit Schwarze Messen abhielt. Ich dachte mir nichts dabei. Ich war in einer Gruppe, und ich wurde endlich nicht als Aussätziger behandelt. Ich hätte alles getan.

Der Großteil dieser Messen war harmlos. Wir tanzten um offene Feuer auf Friedhöfen, tranken jede Menge Bier und hörten Metal-Musik. Unmengen von Aufputschmitteln taten ihr übriges, um uns gewaltig und allmächtig fühlen zu lassen. Es war geradezu lächerlich. Doch in der einen Nacht bekam ich von einem der Jungs der mir bisher nie zuvor aufgefallen war, ein großer, sehr dunkel gekleideter Kerl um die 25 einen Joint, der mich über die Grenzen meiner bisherigen Wahrnehmungen hinauskatapultierte. Ich fand mich plötzlich auf einer riesigen Ebene wieder, eine schwarze Sonne brannte von einem purpurnen Himmel. Ein leicht metallischer Geruch lag in der Luft. Wind heulte, der sich wie das Schreien kleiner Kinder anhörte.

Ich grinste. Das war der beste Trip, den ich je gehabt hatte. Doch mein Grinsen gefror, als ich eine Präsenz hinter mir spürte. . . ich drehte mich um, doch niemand war dort. Erneut hatte ich das Gefühl, daß jemand hinter mir war, aber sobald ich mich umblickte, war wieder nichts zu sehen. Unbehagen ergriff mich, denn obwohl ich nach allen Seiten Ausschau hielt, verging das Gefühl nicht, daß jemand genau hinter mir stand.

Dann verblaßte dieses Gefühl, als ich schlagartig feststellte: Ich war gesund. Gesund! Meine Haut war sauber, glatt, weich zum ersten Mal seit zehn Jahren. Vor Freude stieß ich einen kleinen Freudenschrei aus.

Gefällt dir das? fragte eine Stimme in meinem Kopf. Sie klang schwer und rauh, aber nicht unangenehm. Instinktiv sah ich mich wieder um, aber die Stimme war wirklich in mir. Ich war allein.

Dennoch fragte ich: “Wer ist da?” Ich war immer noch wie betäubt von der Schönheit meiner heilen Haut.

Ich kann diesen Fluch von dir nehmen, wenn du es willst, fuhr die Stimme fort, ohne auf meine Frage zu reagieren, und zwar für immer.

“Ja!” rief ich in die Öde meiner Umgebung hinaus. Der Trip gefiel mir immer besser.

Gut! Die Stimme klang erfreut. Und bist du bereit, dafür etwas zu tun? Für mich?

“Alles!” flüsterte ich begeistert und strich mir über meine glatten Arme. Oh, ich wollte niemals mehr aufwachen!

Dann erfuhr ich meine Aufgabe.

*

Zwölf Mädchen mußten seitdem sterben, zwölf wunderschöne, junge Mädchen. Ich hatte mich gut unter Kontrolle. Bei keinem der Mädchen spürte ich Mitleid. Ihre Körper verblaẞten, sobald ich ihnen das Messer ins Herz gestoßen hatte. Immer kurz nach dem Geschlechtsakt, denn so mochte ER sie am liebsten. Ihre Körper waren noch erhitzt, die Schwingungen der Lust gerade am Abebben.

Es ist jetzt kurz nach eins, mitten in der Nacht. Die Stimme in mir kochte vor Wut, nachdem sie mich heute nachmittag am Strand nicht überzeugen konnte. Vor vier Stunden habe ich mit Fiona geschlafen. Obwohl die Stimme fast ausgerastet ist, habe ich einen sehr zärtlichen Abend mit Fiona erlebt. Ich glaube, ich habe sie doch noch überzeugen können, daß wir zusammengehören. Nun liegt sie neben mir, ihren Kopf in meine Arme gekuschelt. Das Messer ist nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Nie würde Fiona auf den Gedanken kommen, ich könnte es gegen sie benutzen. Woher sollte sie auch ahnen, welches schreckliche Geheimnis ich hüte?

Die Stimme meldet sich nicht mehr. Zwölf Opfer habe ich ihr gebracht. Dafür habe ich eine gesunde Haut. Noch.

Als ich vor wenigen Minuten über meinen Oberschenkel strich, bemerkte ich eine kleine Stelle. Ich kratzte sie auf, und darunter war rote Haut. Jetzt spüre ich ein Jucken im Rücken und auf meinem rechten Unterarm. Meinen Rücken kann ich nicht sehen, aber die kleine, juckende Erhebung auf meinem Arm schreit danach, aufgekratzt zu werden. Ich fahre vorsichtig darüber, reibe ein wenig, damit der Juckreiz nachläßt. Vergeblich. Eher wird er noch stärker.

Fionas warmer Atem streicht über meine Haut. Ich fahre ihr vorsichtig durch das Haar, und sie rollt sich noch etwas mehr zusammen. Ich könnte ihr nie etwas antun.

In wenigen Stunden wird die Sonne aufgehen, und Fiona wird aufwachen. Dann entscheidet sich mein Schicksal. Ich bete zu Gott, aber kann er mir meine Sünden vergeben? Und wie wird Fiona reagieren, wenn sie mich sieht?

Oh, dieser Juckreiz. Dieser verdammte Juckreiz.

ENDE

Erschienen am 29.8.1994 in der Zweitauflage von ELEKTRONISCHE HÖLLE.



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2 Kommentare
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Shah
Shah
27. April, 2024 22:49

DAS will Söder also verhindern. Jetzt ergibt alles Sinn.

Marko
28. April, 2024 01:23
Reply to  Shah

Ich gestehe: Ich hab keine Ahnung, was du damit sagen willst 😐