04
Jun 2023

Das Gute an Corona

Themen: Neues |

Ich bin mir bewusst, dass die Überschrift provokant ist. Was kann schon “gut” sein an einer weltweiten Pandemie, die nach aktuellen Berechnungen ungefähr sieben Millionen Todesopfer gefordert hat? Wirtschaftskraft wurde vernichtet, Betriebe gingen bankrott, ein allgemeines Unwohlsein in der Nähe von Mitmenschen wurde im wahrsten Sinne des Wortes “eingeimpft”. Vor allem: es bleibt das dumpfe Gefühl, es könnte jederzeit wieder passieren – und dann viel schlimmer kommen.

Es gibt Viele, die draufgezahlt haben, das steht außer Frage. Eltern, denen mit Schule und Kindergarten plötzlich die Versorgung der Kinder mit Freunden und Bildung abhandengekommen ist. Jugendliche, die die vielleicht prägendste Zeit ihres Lebens eben nicht mit Party und Petting verbringen konnten. Alte Menschen, für die Social Distancing nur ein milder Euphemismus für Vereinsamung war. Wir kommen aus einer tauben, dumpfen Zeit, die aus der Entfernung seltsam unwirklich erscheint.

Nicht zu vergessen: krank wurden wir ja obendrein auch noch. War nicht schön.

Aber der Mensch ist nicht geeignet, so zu leben. Er muss aus Drama Hoffnung schöpfen, das Glück im Unglück sehen, an ein Licht am Ende des Tunnels glauben. Es ist der “human spirit”, ohne den wir die Pest, die Kreuzzüge und mehrere weltumspannende Kriege auch emotional nicht überstanden hätten. Um es auf die banalste Erkenntnis herunterzubrechen: “Es wird schon für was gut sein.”

Was hat Corona also gebracht, nicht gekostet? Das hier wird eine sehr persönliche Bilanz, durchaus aus privilegierter Position, von einer Person, deren Lebensumstände die meisten Einschläge der Pandemie abzufedern wussten.

Zum Beginn von Covid und Lockdown 2020 schrieb ich Folgendes:

Wird der ganze niedere Mittelstand mit ein paar Angestellten zusammenbrechen, während sich die Mega-Konzerne mit Staatsknete aus der Scheiße ziehen lassen? Wird sich das Home Office durch die Zwangsumstellungen als der neue definierende Arbeitsplatz des 21. Jahrhunderts durchsetzen? Wird das von Faith Popcorn schon für die 90er prophezeite Cocooning die dauerhafte Form des Social Distancing? Akzeptieren wir Videokonferenzen und Online.Seminare als legitimen Ersatz für Meetings, Schulklassen und Face to Face-Kurse? Wird das Ende der physischen Ware (DVD, Buch) und des persönlichen Einkaufs (Supermarkt) beschleunigt? Wird die Krise in einer dauerhaften Wertschätzung von Pflegeberufen und der Wissenschaft enden? Ist Corona letztlich – wie Krieg – eine Aussiebung der Schwachen und Kranken, eine darwinistische Säuberung, die einen gesunderen “Volkskörper” hervorbringt?

Manchmal beeindrucke ich mich selbst.

Zuerst einmal: Das System hat gehalten. Trotz der widerwärtigen Versuche des Umsturzes von “wir hier unten gegen die da oben”-Spacken, die jeden Scheiß glauben, solange er nicht in seriösen Medien steht und von Fakten gestützt ist. Die Institutionen haben sich bemüht, haben gekämpft, haben Fehler gemacht, Fehler eingestanden, und sind am Ende stabil geblieben. In den USA wurde Trump abserviert, in Brasilien Bolsonaro, in Großbritannien Johnson. Ein Sturz in die Anarchie, in das totale Chaos ist ausgeblieben. Der Mensch wurde nicht sofort wieder zum Höhlenmenschen.

Corona hat auch wieder einmal verdeutlicht, auf wen Verlass ist, Verlass sein muss: die Wissenschaft, unter vernünftigen Rahmenbedingungen aus Wirtschaft und Politik arbeitend. Um es einfach und unmissverständlich auszudrücken: Wenn die Kacke am Dampfen ist, braucht es die Leute in den Laborkitteln, nicht die Pfaffen in den Talaren – die wieder keine Gelegenheit ausgelassen haben, um sich als impotent und unverantwortlich zu outen:

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Ich sehe jede Niederlage der Kirche als absoluten “win” für die Vernunft.

Alle Unkenrufe, wir würden die Kranken und die Gesunden auseinander dividieren, die Starken und die Schwachen, haben sich nicht bewahrheitet. Wir haben stattdessen die tumbe Spreu vom intellektuellen Weizen getrennt, die Idioten von den Vernünftigen. In der Trump-Ära kam die Erkenntnis auf “Die Dummheit hat aufgehört sich zu schämen” – ich sehe es als Erfolg, dass sie sich mittlerweile auch nicht mal mehr versteckt. Wir wissen, wer ihr seid.

Wir haben gesehen, wie schnell sich neue globale Strukturen schaffen lassen, wenn es notwendig ist. Politik, Wissenschaft und Industrie haben bei Corona beeindruckend konsequent Hand in Hand gearbeitet und – niemand wird mich je vom Gegenteil überzeugen können – Schlimmeres verhindert. Kooperation geht. Ich zweifle nicht daran, dass Corona die gemeinsame Front gegen Putin erst möglich gemacht hat, weil wir besser darauf eingestellt sind, zusammen zu arbeiten.

Der Markt hat sich schneller wieder erholt, als wir alle hoffen konnten – wenn man den absurden russisch-ukrainischen Krieg subtrahiert. Die deutsche Wirtschaft zeigt sich zäher und produktiver, als sie angesichts der Umstände sein dürfte. Die Arbeitslosenquote hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als halbiert. Wir werden die zeitweise exorbitanten Benzinkosten (für Diesel von 1 Euro im Lockdown bis 2,50 Euro am Anfang des Krieges auf aktuell 1,55 Euro) ebenso überleben wie die gestiegene Inflation und die steigenden Zinsen, die viele Immobilienpläne in Frage stellen.

Das klingt alles sehr technisch, darum formuliere ich es etwas polemischer: Jeder Nacht folgt ein Tag. Es liegt nicht alles in Trümmern. Die Supermärkte sind noch voll, unser Geld noch was wert.

Das sind aber nur neutrale Erkenntnisse, keine positiven Entwicklungen. Die positiven Entwicklungen fußen eher auf der Tatsache, dass Dramen und Umwälzungen den Menschen in Bewegung versetzen, dass er seine besten Seiten wieder entdeckt – Forscherdrang und Flexibilität. Mag der einzelne Mensch auch meckern und lethargisch sein – die Menschheit in toto ist programmiert, sich nicht unterkriegen zu lassen. Es gibt keinen anderen Weg als den in die Zukunft. Und es sind die Schicksalsschläge, die uns treiben, die uns aus dem bequemen Komfort und der “muss das sein?”-Einstellung treten. Ja, es muss sein.

So hat Corona das Home Office auf eine Weise beschleunigt, die sich niemand hätte ausmalen können. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass in den Chefetagen die Heimarbeit immer nur als theoretisch möglich galt – sie konsequent umsetzen wollte kaum jemand. Ich habe Chefs gesehen, die sich nur deshalb widersetzten, weil sie technophob waren und es genossen, allmorgendlich Reihen von Büros mit Untergebenen abschreiten zu können. Corona hat das, was längst ging, in Gang gebracht. Das ist ein massiver Schritt in eine neue Arbeitswelt, in der die Work/Life-Balance viel individueller austariert werden kann und in der auch Menschen einer regulären Arbeit nachgehen können, deren private Umstände das sonst torpedieren würden (Behinderung, CARE-Arbeit, Kinder, Entfernung vom Arbeitsplatz, etc.).

Corona hat uns gezwungen, die Ausformungen der Arbeitswelt und unseren Platz in ihr neu zu bewerten. Mögen einige Chefs ihre Angestellten auch wieder in die Büros zurück pfeifen – das ist ein Geist, der nicht wieder in die Flasche zurückwill.

Verbunden damit hat Corona die technische Entwicklung massiv vorangetrieben. Zoom-Meetings, Clouds, Kollaborations-Plattformen, kontaktlose Kommunikation und Bezahlung – ich würde schätzen, das hätte alles noch mindestens zehn Jahre gedauert, wenn es denn überhaupt gekommen wäre.

Auch in der Marktwirtschaft hat Corona zu einer Beschleunigung absehbarer Entwicklungen geführt. Lieferservice vom Restaurant ist nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Was man nicht mehr holen kann, lässt man sich bringen. Fitness-Training über YouTube? Geht. Netflix statt Kino, Amazon statt Karstadt.

Corona verändert mit der Art, wie wir arbeiten, natürlich auch die Art, wie wir wohnen. Arbeitszimmer werden wichtiger als die Entfernung zum Arbeitsplatz. “Raus aufs Land” ist wieder eine Option, solange der Internet-Anschluss mitspielt.

Workation!

Nach meinen Beobachtungen hat sich auch das Miteinander verändert. Corona hat uns anfangs gezwungen, den sozialen Kreis immer enger zu ziehen, bis wir am Ende auf uns selbst zurückgeworfen waren. Klar mag das auch zu Depressionen und Konflikten geführt haben, aber ich kenne erstaunlich viele Menschen (mich inklusive), die dadurch Zeit und Muße hatten, sich relevante(n) Fragen neu stellen. Neue Hobbys wurden probiert, Sport und Diät angeschoben, der lange hinaus gezögerte Ebook-Reader angeschafft. Mal wieder daheim Musik hören, statt in der Kneipe sitzen. Eine neue Wertschätzung des Privaten – cocooning, wie es Faith Popcorn schon in den 80ern prophezeite. Ein Lifestyle, dem die LvA und ich übrigens massiv huldigen.

Wenn ich dieser Tage durch München spaziere, dann freue ich mich über die vielen Außenareale der Restaurants und Bars, die wegen der Pandemie eingerichtet und dann einfach beibehalten wurden. Es bringt ein wenig mediterranen Lifestyle nach Schwabing, in die Maxvorstadt, ins Glockenbachviertel. Draußen ist immer schöner als drinnen, vor allem im Sommer. Wer braucht schon Parkplätze?

Zumindest in meinem Umfeld ist so etwas wie Dankbarkeit zu spüren. Nicht nur (aber auch) den Wissenschaftlern gegenüber und all den Menschen, die sich 2020-2022 für das Gemeinwohl eingesetzt haben. Es ist eine stille Dankbarkeit. zu den Überlebenden zu gehören, sich wieder in der Kneipe zuprosten zu können. Hurra, wir leben noch.

Klar wird vieles davon auch wieder ausklingen, werden die guten Absichten der Bequemlichkeit der Post Corona-Ära geopfert. Es sind immer Pendelbewegungen. Aber unter dem Strich hat Corona durch den Zwang zur Veränderung auch die Möglichkeit zur Veränderung aufgezeigt.

Nicht alles geht, aber viel mehr, als wir glauben.

Ich will nicht die ganze große Fahne der neuen Innerlichkeit schwenken, aber ich glaube schon, dass Corona bei vielen Menschen ein Umdenken verursacht hat. Wir wissen wieder deutlicher, dass der Status Quo fragil ist und die Gemeinschaft darum stark sein muss. Putin hat diese Idee noch einmal verstärkt. Wir dürfen nicht unser eigener ärgster Feind sein.

Wie eingangs geschrieben, bin ich mir durchaus bewusst, dass ich aus einer privilegierten Situation heraus argumentiere, auch weil sich mein Lifestyle mit den Notwendigkeiten von Corona gut hat vereinbaren lassen. Ich habe den Lockdown teilweise als bequeme Auszeit genommen, um Sachen zu erledigen, die zu lange liegen geblieben sind. Er hat mich weder wirtschaftlich noch körperlich noch emotional ernsthaft getroffen. Dass das bei anderen anders gewesen ist, ist eine Binsenweisheit. Und es mangelt mir für niemanden an Empathie deswegen.

Wie sieht euer persönliches Fazit aus – weniger Rückblick als Ist-Zustand. Alles verarbeitet und verdaut? Auf immer traumatisiert? Schicksal als Chance?



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DocAndy
DocAndy
4. Juni, 2023 18:49

Guter Text, aber ich finde, dass es sehr schnell wieder zurück zum “Business as usual” geht. Viele Ideen, sei es mehr Home-Office oder mehr Digitalisierung, werden doch gar nicht richtig weiterverfolgt. Da wäre imho viel Potential, aber ich sehe aktuell eher, dass alles so bleiben soll wie vor der Pandemie.

DocAndy
DocAndy
4. Juni, 2023 22:53
Reply to  Torsten Dewi

Man hat zumindest gesehen, das es auch anders gehen würde, wenn es anders gehen muss.

el flojo
4. Juni, 2023 21:24

Was hab ich um die Möglichkeit gekämpft, im Home Office arbeiten zu dürfen. Sieben Jahre bin ich meinen Chefs auf den Keks gegangen, bis ich 2018 dann als erster die Testperson geben durfte. Tägliches Reporting, um ja nicht zu Hause auf der faulen Haut zu liegen. Ich hatte fast schon die Hoffnung aufgegeben und hätte schon längst meinen Hut genommen, wenn nicht Job und Kollegen sonst top gewesen wären.

Dann kam 2020 und Ende Februar hieß es plötzlich “Wir wollen keinen von euch mehr hier sehen, wenn es nicht unbedingt sein muss.” Die Chefs sind persönlich durch die Elektromärkte und haben alles gekauft, was sie an Laptops kriegen konnten, die man uns dann nach Hause geschickt hat. Von heute auf morgen 300 Leute ins HO geschickt. Ging auf einmal. Da wurde einiges gelernt und richtig gemacht. Minusstunden wegen ausgefallener Kinderbetreuung? Gab es nicht. Wurde als Kinderbetreuung gebucht und galt als Arbeitszeit.

Jetzt haben wir nur noch das Nötigste an Büros und die Zufriedenheit in den jährlichen Mitarbeiterbefragungen ist durch die Decke gegangen.

Das und endlich flächendeckend kontaktloses Zahlen. Sogar beim Bäcker. 🙂

S-Man
8. Juni, 2023 17:58
Reply to  el flojo

Paradiesisch. In Berlin sieht man eher den Weg zurück. Hab gefühlt seit Jahren so wenig Kartenzahlung wie aktuell. Restaurants? Manchmal erst ab 30€. Mit Glück. Taxi? Nö. “Wegen, ich will nicht, dass Bargeld abgeschafft wird…”, Döner und Bäcker? Noch nie. Nirgends.

Ich hasse es.

Mick Briem
Mick Briem
4. Juni, 2023 22:30

Uns geht’s fast genau wie dir. Diese surreale Parallelzeit hat einige positive Sachen gebracht. Homeoffice. Ein neues, gutes Gefühl fürs eigene Zuhause. Und für Zeit. Allerdings neigen wir schon in den besten Zeiten zur Grottenolmigkeit und müssen jetzt echt aufpassen, nicht zu antisozialen Eremiten zu werden.

Kai
Kai
4. Juni, 2023 23:24

SCNR 🙂 aber “Judgement on Covid” ist tatsächlich ein Metal-Song:
https://www.youtube.com/watch?v=0JPRvxTjfOk

…äh, zum Thema? Ach ja, bei uns in der IT sind es immer noch 80:20 Prozent Homeoffice, bei den Marketingfritzen im Haus ist es genau umgekehrt. Chefs würden das gerne auch in der IT durchsetzen, haben aber Angst dass dann alle abhauen. 😀

Klaus
5. Juni, 2023 07:34

Im letzten Jahr sagte Chef noch was von “Zurück zur Normalität und wieder mehr Büro als Homeoffice, zwei Tage Homeoffice könnte er sich eventuell vorstellen”. Die Erkenntnis, dass sich die Normalität grundlegend geändert hat, die kommt sehr langsam, der Mann ist aber auch über 70. Aktueller Stand: Ein Tag pro Woche Büro, der Rest zuhause. Und für mich ist der Bürotag der unproduktivste Tag der Woche.
Allgemein: Von ‘normal’ nach Corona war einfacher als der Rückweg in ein neues ‘normal’. Wir haben uns (zu) sehr im gemütlichen Leben eingerichtet und Kontakt mit vielen Menschen ist immer noch ungewohnt und anstrengend.

Thomas
Thomas
5. Juni, 2023 11:48

Positiv bei mir war die drastische Entschleunigung des Alltags. Zwei Stunden Fahrtzeit in die Agentur gespart, produktiver zu Hause gearbeitet – da bleibt Zeit für ein gemütliches Frühstück und einen Spaziergang in der Mittagspause und selbst mittags Kochen. Chef zufrieden, weil der Output höher war als vor Corona und mir ging es besser.
Jetzt bin ich wieder im alten Hustle – jeden Tag Stress, weniger Bewegung und ungesünderes Essen. Aber der Chef hat halt gern seine Mitarbeiter um sich 😀

Thomas
Thomas
5. Juni, 2023 16:24
Reply to  Torsten Dewi

das klingt schlimmer als es ist. Unterm Strich ist es ein guter Job. Bin nicht der Typ für Selbstständigkeit, daher muss ich solche Dinge hinnehmen

heino
heino
5. Juni, 2023 13:12

Für mich war Home Office leider nie ein Thema, das ist in meinem Job nicht möglich. Aber meine Frau hat diese Art zu arbeiten sehr genossen.

Grundsätzlich bin ich auch in weiten Teilen deiner Meinung, nur nicht darin, dass die breite Bevölkerung viel aus der Geschichte gelernt hat. Ganz im Gegenteil mache ich immer öfter die Erfahrung, dass die prognostizierten Verhaltensänderungen (wie z.B. nicht mehr die Hände schütteln, etwas Abstand zueinander halten, gegenseitige Rücksichtnahme) sehr schnell wieder verschwunden sind und die meisten Leute – zumindest die, die mir begegnen – sich genauso oder schlimmer als vor der Pandemie verhalten.

Positiv finde ich aber, dass sich im Bereich technische Entwícklung und Service einiges verbessert hat. Natürlich ginge da noch mehr, aber wenigstens ist der Anfang gemacht.

Karsten
6. Juni, 2023 22:37

Ich arbeite bereits seit 2010 im Homeoffice. Zuerst fünf Jahre freiberuflich, seit 2015 angestellt. Redakteur für PC- und Videospiele, mit einer entsprechenden Ausstattung @home. Besser kann man für so eine Pandemie wohl nicht gerüstet sein. Neu war jedoch, dass plötzlich auch die Kollegen im Homeoffice saßen und ich plötzlich häufiger bei Meetings anwesend sein musste, weil die nicht mehr im Verlag, sondern online stattfanden. Skandal!

Stefan
Stefan
7. Juni, 2023 01:01

Ich sehe bei mir nur zwei Sachen, die sich wirklich gehalten haben (neben der, dass es einige neue Phrasen gibt, an denen sich Idioten schnell identifizieren lassen): jede Menge Home-Office und dass ich quasi kein Bargeld mehr benutze. Letzteres lag vorher mehr an mir als an den Möglichkeiten und ersteres sehe ich mittlerweile durchaus zwiespältig.
Ja, ich war auch begeistert von der Möglichkeit. Und davon, wie das von heute auf morgen plötzlich sowohl organisatorisch als auch technisch nahezu ohne Reibungsverlust möglich war. Mittlerweile weiß ich, dass das weder für mein persönlichen Wohlbefinden noch für den Teamzusammenhalt besonders förderlich ist, ständig isoliert zu arbeiten. Ich hab Anfang 2021 den Job gewechselt und kann sagen, dass ich früher zu Kollegen, die einen Monat vorher angefangen hatten einen besseren beruflichen und eben auch privaten Kontakt hatte als jetzt zu den meisten nach zwei Jahren (und es gibt im weiteren Kreis sicher ein paar, die ich noch nie persönlich traf seither). Ich weiß auch, dass der Arbeitgeber das ähnlich sieht, aber der Geist ist aus der Flasche und – zumindest bei uns – selbst mit Anordnungen von oben nicht mehr einzufangen. Die Büros sind schlicht sehr leer.

Ich sehe nicht, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt größer geworden ist. Habe ihn aber auch nie so niedrig eingeschätzt als dass beim Lockdown alles zusammenbrechen müsste. Ich sehe keine wirklichen Fortschritte in der Digitalisierung. In der Bildung. Im Gesundheitswesen. Im politischen Umgang.
Spätestens als Lauerbach und Drosten demonstrativ im Spiegel die Masken vom Gesicht nahmen hieß es für die Allermeisten Haken dran und weiter wie immer.

Nummer Neun
8. Juni, 2023 16:49

Da ich wenige Monate vor Corona aus meinen alten Job raus war, lässt sich einiges aus der Zeit für mich nicht zwischen biographischen Veränderungen und Pandemie-Änderungen unterscheiden. So musste ich nicht von einem Tag auf den nächsten ins Home Office, da ich zu der Zeit eh schon zu Hause war.

Langfristig geblieben ist aber trotzdem auf jeden Fall das Home Office. Von dort arbeite ich weiterhin 4 Tage pro Woche – und der Bürotag wird leicht anders genutzt als früher. Mittlerweile ist das wirklich ein wichtiges Kriterium bei der Jobsuche. Was aber auch bedeutet: Ich muss viel öfter selbst kochen und stoße da etwas an meine Grenzen – weshalb die Liederdienste mehr von mir haben als früher. Ich muss mich etwas mehr darum kümmern, soziale Kontakte zu haben und zu halten, weil ich meist nicht mehr eh schon “in der Stadt” bin oder Freunde im Büro sehe. Die durch den Wegfall des Pendels frei gewordene Zeit habe ich in das Schreiben und Veröffentlichen eines Romans gesteckt. Die bargeldlose Zahlung hat sich bei mir durchgesetzt, außer beim Bäcker zahle ich mittlerweile fast alles per Karte (per Smarthphone zu zahlen ist aber immer noch Science Fiction für mich). Und ich bin in eine größere Wohnung umgezogen. Das war eigentlich sowieso mal fällig, aber ist jetzt mit dem Home Office erst recht eine Wohltat. Privat hat sich die Videotelefonie langsam zum Standard entwickelt.

Gesellschaftlich meine ich zu beobachten, dass man offener über seinen Geistes- und Gefühlszustand spricht, auch wenn es einem mal nicht gut geht – selbst unter Männern, was eine begrüßenswerte Entwicklung ist. Und ja, die deutlich vergrößerte Außengastro tut München sehr gut.

S-Man
8. Juni, 2023 17:52

Ich habe jetzt lange überlegt, ob hierzu etwas sage oder nicht. Aber dafür ist die Kommentarsektion ja da, oder?

Ich sehe das Ganze deutlich differenzierter. Aber um das jetzt nicht ausarten zu lassen, lasse ich die offensichtlichen Sachen mal weg (Long Covid und Hochrisikopersonen im Bekanntenkreis…) und beschränke mich auf meine eigenen Erfahrungen.

Ich gebe zu, diese HomeOffice-Sache hat oberflächlich gesehen viele Vorteile, die hier alle auch schon aufgezählt wurden. Ohne zu verschweigen, dass ich die auch gern nutze, muss ich für mich klar sagen: Ich bin deutlich unproduktiver zu Hause!

Zu viele Sachen, die mich ablenken: Katze, Haushalt, hier mal kurz das eigene Projekt… Klar, ich lasse mich ablenken, aber so bin ich halt. Nicht jeder kann sich perfekt disziplinieren. Ich merke, jedes Mal, wenn ich Büro bin, dass ich viel mehr schaffe. Weil ich weniger abgelenkt bin.

Und ich vermisse das Zusammenarbeiten. Ich hasse diese Telkos. Immer braucht es einen Termin dafür. Immer wird dann neben A und B noch C, D und E eingeladen. Und am Ende labern alle nur rum.

Ich vermisse die Zeit, wo man sagt: Hey, haste mal 10 Minuten für einen Gedanken? Ich vermisse den gemeinsamen Brainstorm vor einer Tafel. Ich vermisse die Unfachlichen Gespräche, das Socialising an der Kaffeemaschine und der Mittagspause. Solche Momente Face2Face sind immer irre produktiv und sind dem blöden digitalen Meeting haushoch überlegen.

Apropos, ich vermisse Mittagspause. Durch diese Meetings nimmt man sich kaum eine, denn man muss ja ganz dringend noch mit Klaus reden, aber wegen den ganzen Terminen, ist nur noch der Mittagsslot frei. Und ich vermisse das Mittagessen. Ich bin ein lausiger Koch. Da war das Mittagessen auf Arbeit zwar nicht immer für Gourmets, aber immerhin abwechslungsreich und überhaupt was Warmes.

Also: HomeOffice schön und gut, vor allem in Bezug auf die Reisezeiten in Berlin. Aber wenn ich könnte, würde ich das wieder zurück rollen (bei weiterhin bestehender, unkomplizierter Option, mal zuhause arbeiten zu dürfen, wenn Bedarf ist).

Warum bleibe ich dann trotzdem zu Hause? Weil alle anderen im HomeOffice sind, und es Spitze finden. Damit stehe ich allein im Büro und die gemeinsamen Brainstorming Sessions bleiben digital. Und DAS ist das große Problem. Ich glaube, manchmal sind gemeinsame, reale Sessions unfassbar nützlich und produktiv. Nur wird es dazu kaum. noch kommen. Und jedes Projekt, das ich die letzten Jahre gesehen habe, gehen unter in sinnlosem Blabla von 10-20 Meetingteilnehmern.

Ach, eine Sache noch: Ich glaube, es ist auch schwer, für alle ohne große Wohnung/Haus. Wir haben jetzt 2 Arbeitszimmer, weil wir nicht nebeneinander arbeiten können in unserem kleinen Mal-als-Hobbyzimmer-und-manchmal-Arbeitszimmer-geplanten Zimmer. Ich sitze jetzt in diesem Kabuff und meine Freundin belegt das zweite Zimmer. Wir haben nun das Luxusproblem, nur zu zweit zu sein. Aber wir belegen jetzt zwei Zimmer mit Arbeit. Keine Ahnung, wie das Leute mit einem Kind machen sollen? Arbeiten die dann im Wohnzimmer? Küche? Schlafzimmer? Alles Orte, wo ich es eigentlich “wohnlich” haben will. Wir verzichten jetzt auf ein Gästezimmer/Gemütlichen Rückzugsort. Verzichten andere auf ein Kinderzimmer? Ich mein, es kann doch nicht sein, dass man heutzutage gezwungen sein muss, erstmal 2 Zimmer einer Wohnung zum Arbeiten reservieren zu müssen, oder damit leben muss, dass plötzlich Computermonitore und Aktenschränke im Schlafzimmer stehen…

Last edited 9 Monate zuvor by S-Man