Geld ist relativ: Ein Mathe-Mystery
Themen: Neues |Das hier ist weniger eine Denksportaufgabe als eine Prinzipfrage.
Momentan gibt es ja die Diskussion, ob für die Hotel- und Gaststättenbranche die Mehrwertsteuer wieder auf das vor Corona-Niveau angehoben werden soll. Ich finde das selbstverständlich, aber der DeHoGa schaltet in lokalen Radiosendern Protestspots, die für diesen Fall nicht weniger als die Apokalypse vor der Tür stehen sehen: keine anständige Versorgung mehr in Altenheimen, indiskutabler Schweinefrass in Kindergärten und Krankenhäusern, etc.
Die Argumentation ist teils erstaunlich verlogen und perfide. Wegen Corona wurde die Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf 7 Prozent gesenkt. Das war nachvollziehbar, denn den Gaststätten brachen die Einnahmen weg. Bei gleichbleibenden Preisen verblieben ihnen nun 12 Prozent mehr vom Umsatz. Dass das die Verluste nicht vollständig abfedern konnte, ist auch klar – teilweise blieben die Kneipen und Restaurants ja wochenlang zu.
Andererseits hat sich die Branche exzellent erholt, die Menschen scheinen geradezu versessen darauf, ihr Geld wieder in Umlauf zu bringen. Und: Die Preise sind nochmal deutlich erhöht worden (auch wegen der steigenden Rohstoffpreise, aber das ist ein anderes Thema). Weil der Euro wieder rollt, soll die Mehrwertsteuer wieder auf den vorherigen Stand gesetzt werden – und die Gastronomen schreien Zeter und Mordio.
Wie ich das sehe? Ich stehe ganz klar auf der Seite der Regierung. Vor allem, weil die Gaststätten ankündigen, dass sie bei einer Erhöhung der MwSt die Preise so stark erhöhen müssten, dass die Gäste ausbleiben würden. Das ist aus gleich zwei Gründen unredlich.
Zuerst einmal hat die Erholung Post-Corona bewiesen, dass die Menschen erstaunlich wenig Probleme haben, die steigenden Lebenshaltungskosten zu stemmen. Seit diesem Sommer kostet eine Kugel Eis vielerorts 2 Euro, das ist eine Verdopplung zum Vorjahr. Trotzdem sind die Eisdielen proppevoll.
Hinzu kommt, dass die Reduzierung der MwSt von den Gaststätten immer als Zugewinn oder Ausgleich von Verlusten in schlechten Zeiten betrachtet wurde. Man hat die 12 Prozent nie an den Kunden weitergegeben, der weiterhin auf 19 Prozent-Niveau bezahlt hat. Daraus folgt, dass eine Erhöhung bei wirtschaftlicher Erholung ebenfalls nicht an den Kunden weitergegeben werden darf.
Aus diesem Grund bin ich für eine Rückkehr zu 19 Prozent – schon allein deshalb, weil ich eine Kultur der Ausnahmeregeln für kontraproduktiv halte. Wenn die Gaststätten das mit Preiserhöhungen bestrafen, hat der Gast das Wort.
Aber das ist gar nicht das Thema, über das ich schreiben wollte. Ich bin nur vom Weg abgekommen, weil es der Sache, über die ich schreiben will, verwandt ist.
Es geht um meine Friseurbesuche und die Frage, ob ich weniger zahle, wenn ich nicht mehr zahle. Klingt komisch, ist aber so.
Ein simples Rechenbeispiel. Bei meinem Kurden kostet der Herrenhaarschnitt 13 Euro. Auch wegen Corona habe ich mir angewöhnt, glatt 20 Euro zu geben. Das entspricht 35 Prozent Trinkgeld. Nicht wenig für gerade mal 15 Minuten Arbeit ohne jede Kommunikation (wie ich es bevorzuge).
Nun ist der Preis auf 17 Euro angehoben worden und ich zahle immer noch 20 Euro. Jetzt entspricht mein Trinkgeld nur noch 15 Prozent.
15 Prozent statt 35 Prozent Trinkgeld, obwohl ich exakt das Gleiche zahle, für die gleiche Dienstleistung im gleichen Zeitraum. Oder zahle ich weniger?
Es ist eine knifflige Frage. Mein Friseur bringt die gleiche Leistung, es gibt keine erhöhten Kosten, die ich wahrnehme. Bin ich, wenn ich den Zwanziger über den Tresen reiche, nun weniger großzügig? Oder ist es komplett wurscht, weil in den 20 Euro nur die Proportion von Preis und Trinkgeld verschoben wurde? Aber ist das dann nicht unfair, weil er bei einer weiteren Erhöhung auf 20 Euro gar kein Trinkgeld mehr bekäme? Würde das MICH zum Geizhals machen, obwohl ich für die gleiche Summe bisher als spendabel galt?
Oder ist es ganz anders? Muss ich mich dem kapitalistischen Automatismus unterwerfen, nachdem die Erhöhung der Preise immer separat vom Trinkgeld gesehen werden muss, das als Bonus grundsätzlich “on top” kommt? Bedeutet das, dass mein Trinkgeld nicht als Stellschraube “missbraucht” werden darf?
Ich gestehe, dass ich mich außerstande sehe, das in letzter Konsequenz aufzulösen. Darum reiche ich die Frage weiter. Wie seht ihr das?
Durch die die Inflation und die Preissteigerung bei den Energiekosten sind seine Kosten wahrscheinlich schon gestiegen. Das heißt, deine 20 Euro sind in jedem Fall jetzt “weniger” wert als vor drei bis vier Jahren. Die gleiche Kaufkraft hätte er wahrscheinlich mit knapp 25 Euro.
Das mag sein – den Preis darf er ja auch erhöhen. Muss ich aber deshalb auch das Trinkgeld anpassen? Es ist ja nicht so, dass ich ihn aktuell schlecht bezahle. 15 Prozent.
Trinkgeld ist immer on top. Und zwar ohne Standard-Prozentsatz oder einer verpflichtenden Regelmäßigkeit. Sondern nur WENN ich es will und WIEVIEL ich dann spontan will (kann eben ohne schlechtes Gewissen auch wenig sein).
Da bin ich definitiv Mr. Pink aus Reservoir Dogs.
Das beantwortet aber nicht, ob es okay ist, die Preiserhöhung durch das Trinkgeld abzufedern – und ob ich damit GLEICHVIEL oder WENIGER zahle.
Da bin rein mathematisch gepolt: Du zahlst natürlich nicht weniger, da 20€ = 20€. Ob davon jetzt prozentual weniger beim Friseur hängen bleibt, muss dich bei der Frage gar nicht interessieren.
Dürfte im Übrigen auch der Friseur so sehen, da er ja in beiden Fällen mehr bekommt, als er eigentlich erwartet.
Ich bin vielmehr überrascht, dass man in/um München zuletzt noch einen Haarschnitt für 13€ bekommen konnte. Das scheint dann zumindest nicht das Hauptgeschäft der kurdischen Familie zu sein.
Doch doch, der Preis ist okay. Es gibt hier sehr viele kleine kurdische Klitschen, bei denen man sich günstig die Haare schneiden lassen kann. Die arbeiten im Akkord. Rekord bei mir: 9 Minuten. Das rechnet sich.
Sorry, aber die Aussage “.. dass die Menschen erstaunlich wenig Probleme haben, die steigenden Lebenshaltungskosten zu stemmen. ..” finde ich sehr vereinfachend. Die Eisdielen mögen voll sein – die Menschen, die sich das Eis nicht mehr leisten können sieht man einfach nicht. Die steigenden Lebenshaltungskosten merken wir sehr deutlich, so mancher Restaurant fällt jetzt auch aus. Bei einem Stammtisch, den wir veranstalten sind die Besucherzahlen auch deutlich runtergegangen und wir wissen, dass die Preise da auch eine Rolle spielen.
“finde ich sehr vereinfachend” – ist es auch. Aber damit nicht falsch. Die Zahlen liegen ja vor. Wenn ich zu jedem Aspekt alle Facetten auflisten würde, wäre der Artikel nicht unendlich lang(weilig), sondern non-existent, weil das nicht zu stemmen ist. Solange die Verknappung des Arguments das Argument nicht verfälscht, sehe ich mich da auf der sicheren Seite.
Wenn du absolut weniger Trinkgeld zahlst, dann bekommt der Friseur auch weniger von dir oben drauf – von 7 Euro auf 3 Euro. Die Verwirrung entsteht dadurch, dass die restlichen 13 bzw. 17 Euro nicht sein Verdienst sind. Der hat damit üblicherweise nichts zu tun.
Konkretes Beispiel: In BaWü gilt seit 01.09. ein neuer Tarifvertrag für das Friseurhandwerk. Beschäftigte erhalten jetzt in der untersten Stufe 12,80 Euro pro Stunde, Ecklohn 14,50 Euro und in der obersten Entgeltgruppe sind es 20 Euro. Es kommt also auf deren Stundenanzahl an bzw. ob Teilzeit, was sie verdienen. Die Preise für das Haareschneiden haben damit nicht direkt zu tun, da ist halt die Tariferhöhung plus gestiegene Energiekosten, Miete usw. drin. Weiß ich, weil meine Friseurin sich fast schon für die gestiegenen Preise beim letzten Mal entschuldigt hat.
Sind Beschäftige nicht selbstständig, dann ist das Trinkgeld steuerfrei. Ansonsten halt umsatzsteuerpflichtig. Wie das dein Kurde macht – keine Ahnung …
Von daher sehe ich Trinkgeld als ein eine individuelle Belohnung für die Qualität der Leistung, die sich prozentual an dem Preis orientiert. Der ist das Äquivalent für die angebotene Leistung. Die mag weiterhin gleich sein, aber der Preis hat damit ja nicht direkt zu tun. Aus guten Gründen ändern die Friseure ja auch nicht täglich die Preise in Abhängigkeit von der Anzahl der vergebenen Termine bzw. wartenden Leute, die die Haare geschnitten haben wollen.
Natürlich sind Lohn und Trinkgeld zwei unterschiedlich gehandhabte Formen von Einkommen. Darum ging es hier ja nicht. Wäre deine Anregung demnach, das Trinkgeld bei den ursprünglichen 7 Euro zu belassen?
“dass die restlichen 13 bzw. 17 Euro nicht sein Verdienst sind”
sagt wer? Es ist ja nicht gesagt, dass die 4€ 1:1 realen Ausgaben gegenüber stehen. Vielleicht hat er auch die Preise um mehr erhöht, als es die Ausgaben erzwangen.
Das ist genau der Grund, warum ich mich auf diesen Aspekt nicht fokussieren wollte – die Erhöhung ist erstmal nur da. Über die Gründe kann man nur spekulieren.
Ich möchte anmerken, dass deine Prozentrechnung sich anscheinend auf den Gesamtbetrag Kosten + Trinkgeld bezieht, was mir falsch erscheint.
Wenn man über Trinkgeld spricht (z.B. beim Dauerthema wieviel %-Trinkgeld in den USA mittlerweile erwartet werden) geht man doch In der Regel von den Grundkosten aus, so dass 10% Trinkgeld bei 10€ Kosten einen Gesamtbetrag von €11 ergeben.
Insofern war dein früheres Trinkgeld nicht 35%, sondern famose 54% und dein aktuelles nicht 15% sondern 18%.
Interessanter Ansatz.
Hätte ich genauso geantwortet, wenn es nicht schon passiert wäre.
Ich sehe das Thema eher pragmatisch. Ich zahle das, was ich glaube, was die Arbeit wert war. Wenn sie 20€ wert war, zahle ich 20€. Wenn davon mehr beim Dienstleister direkt bleibt, ist es erfreulich, wenn nicht, ist das nicht mein Problem. Klingt hart, ist aber so. Wenn es wirklich eine INDIVIDUELL herausragende Leistung war, also auf irgendeine Art und Weise für mich persönlich mehr war, als notwendig gewesen wäre, dann denke ich explizit nach. Aber das ist tatsächlich eher selten.
Ich weiß, trifft deine philosophische Frage nicht ganz, aber ich glaube, solange man größer gleich den verlangten Preis zahlt, ist der Gedanke komplett müßig.
Was machst du, wenn du den Haarschnitt nur 12 Euro wert findest?
Ich bin da rein und habe dem Vertrag zugestimmt, 13€ zu bezahlen. Das ist mein Problem, da komme ich nicht raus.
Ich kann meckern, versuchen Rabatt zu bekommen, auf jeden Fall komme nicht mehr wieder, weil der Vertrag durch die andere Seite aus meiner Sicht verletzt wurde, der mir einen 13€ Haarschnitt versprach.
Der Fehler liegt bei Dir, Du warst einfach viel zu freigiebig mit dem Trinkgeld. 20€ bei 13€ ist in meinen Normalverdiener-Augen absurd, 15€ wären damals der angemessene Betrag gewesen. 20€ bei 17€ ist hingegen absolut im Rahmen. Zum Thema Steuern: Die sind in Deutschland einfach grundsätzlich viel zu hoch und müssten runter, da bin ich schon prinzipiell ganz auf Seiten der Gastronomen. Hier in der Schweiz beträgt z.b. die Mehrwertsteuer läppische 7,7% und das Land schafft es trotzdem irgendwie, kein desolates Shithole zu sein.
Hier in München ist 20 Euro für den Friseur völlig in Ordnung. Es ist ja kein Kellner, der nur zweimal kurz an den Tisch kommt. Der arbeitet pausenlos an meinen Haaren. Im Stehen. Eine Diskussion über die Schweiz sollten wir nicht anfangen.
“Mein Friseur bringt die gleiche Leistung, es gibt keine erhöhten Kosten, die ich wahrnehme.”
Option 1: ja, er hat erhöhte Kosten, hat deswegen die Preise erhöht und Du zahlst jetzt relativ weniger.
Option 2: nein, er steckt den zusätzlichen Profit selber ein. Dann bist Du weiterhin derselbe nette Kunde, er bereichert sich an denen, die vorher weniger bis kein Trinkgeld gegeben haben.
Du musst Dich gar nichts unterwerfen, musst aber dann evtl Konsequenzen ertragen, zB minderwertigere Dienstleistung oder längere Wartezeiten.
Option 1 unterstellt zuerst mal, dass Preiserhöhungen nur mit erhöhten Kosten zu tun haben können. Das mag in einigen Fällen so sein, in anderen nicht. Und ich habe klar geschrieben, dass ich in meinem Fall Letzteres annehme. Option 2 ist ein interessanter Ansatz, danke.
Ich weiß ja nicht wo du dein Eis kaufst, aber in München ist der Kugelpreis schon seit Jahren auf 1,50 bis 1,80 Euro gelegen. Da war der Schritt zu den 2 Euro nur relativ klein. Von Verdoppelung keine Spur …
Wegen der anhaltenden hohen jährlichen Inflation (6-8%?) sind 20 Euro entsprechend weniger Wert. Bei Trinkgeld Prozentrechnung 100% = Kaufpreis scheinst du anders gerechnet zu haben. Du bist sehr großzügig was Trinkgeld angeht was sehr sympathisch ist. Seit ich monatlich 15 Euro der Welthungerhilfe spende bin ich bei anderen Spenden knauseriger. Seit Corona vorbei ist übertreibe ich die Trinkgelder weniger aber immer noch spendabel, da das Geld direkt denen zugute kommt die die Arbeit machen und in der Wertschöpfungskette oft am schlechtesten bedacht sind.
Kommt in manchen Geschäften drauf an, wie du zahlst. In einigen Geschäften kommt das Trinkgeld nicht beim schaffendem an, wenn du mit Karte zahlst, von daher habe ich immer und überall noch ein wenig Bares dabei. Ich frage bei Kartenzahlung nach, ob das Trinkgeld beim z.B. Kellner ankommt, wenn ich mit Karte zahle. Ist das nicht der Fall, bekommt er das Trinkgeld in Bar.
Für mich auch selbstverständlich, dass wenn ich zum Essen eingeladen werde, immer ein paar Euros nach dem Essen auf den Tisch lege, Trinkgeld muss ja nicht nur von dem kommen, der die eigentliche Leistung bezahlt.
Ich habe es mir auch angewöhnt Trinkgeld im Lokal bar auf dem Tisch liegen zu lassen.