Die Popcharts 1988: The Fall of Modern Talking and the Rise of Stock, Aitken & Waterman
Themen: Film, TV & Presse |1988 ist ein sehr ambivalentes Popjahr – man kann sehr viel mitsummen, oft sogar mitsingen, ohne es notwendigerweise gut finden zu müssen. Die grausame Modern Talking-Ära ist endlich vorbei, Italo-Disco wird durch die Hintertür aus dem Saal befördert, bewährte Bands wie Depeche Mode, INXS, Erasure und a-ha bleiben eine sichere Bank.
Kehrseite: viel gesichtsloser Radio-Pop, den man irgendwie kennt, ohne jemals die Namen der Interpreten gelernt zu haben. Nach dem Ende von Modern Talking hat Bohlen Zeit, sich selbst und ein halbes Dutzend anderer Sänger zu produzieren – gefühlt ist er noch präsenter als 1987. Mit S-EXPRESS kommt der Durchbruch von Sampling, Electro und House auf breiter Front – wir haben keine Ahnung, in was für eine leblose Eurodance-Suppe das münden wird.
Was/wer das Jahr prägt: Stock, Aitken & Waterman. 1988 “gehört” den drei Mega-Produzenten. Teilweise belegen sie die Hälfte der britischen Top 10 mit Rick Astley, Sinitta, Bananarama – und Kylie Minogue, einer Instant-Herzensbrecherin, der niemand eine längere Karriere vorausgesagt hätte. Gott, fanden wir sie niedlich.
Gehen wir mal das Bemerkenswerte und das Merkwürdige durch.
Sophisti-Pop at its best – diese Scheibe habe ich damals blutig gehört:
Diesem Genre entstammt übrigens auch mein Lieblingshit des Jahres:
Für die deutschen Beiträge kann man sich wieder mal nur schämen – dem Dunstkreis der LINDENSTRASSE verdanken wir dieses “Kleinod”:
Schlimmer kann’s nicht mehr werden? HA! Hier eine Charity-“Supergroup” aus Denise, Andy Borg, Costa Cordalis, Tony Marshall, Heike Schäfer, Bernhard Brink, Ireen Sheer, Chris Roberts, Andreas Martin, Werner Böhm u.a.:
Zur Ehrenrettung: Die Humpe-Schwestern hätten länger zusammen Musik machen sollen. Da war einfach viel Schönes dabei:
Was ich weiter oben mit gesichtslosem Radio-Pop meinte? So etwas:
Arbeitsthese: Taylor Dayne war die Anastacia der 80er. Ihr gelang es, Durchbruch, Erfolg und Abstieg komplett in das Jahr 1988 zu packen:
Für Jungs war es damals verpflichtend, Bros abgrundtief scheiße zu finden. Aber abgesehen von der eitlen Neo-Popper-Attitüde waren die ganz funky:
Wo man als Junge auch nur eher heimlich sehnsüchtig seufzen durfte:
Wem Kylie Minogue 1988 zu konsensfähig war, der durfte sich auch hoffnungslos in Patsy Kensit verknallen:
Die ganz harten Jungs trauten sich an Wendy James ran:
Daniel Blythe schrieb in der Bibel zum 80er-Pop zu Wendy:
Gefolgt von einem Aufruf an die Leser:
Die Ballermann-Fraktion hingegen arbeitete sich an der holländischen Blondine und Playboy-Ausziehpuppe Tatjana Simic ab:
Ich erwähnte es bereits – die Anfänge dieser Musik waren zu knackig, als dass man ihnen hätte wehren sollen oder wollen:
In den 80ern gab es praktisch in jedem Jahr einen Hit aus der Ethno-Pop-Ecke – auch gerne “Weltmusik” genannt. Das hier war ein Chartbreaker:
Aus der Ecke habe ich auch noch einen richtigen Knaller. Ofra Haza aus Israel war 1988 eine kurzlebige Sensation mit IM NIN’ALU:
Was Wenige wissen – der Song war damals schon zehn Jahre als und klang im Original (von der gleichen Sängerin) so:
Die Popcharts waren in den 80ern auch immer ein guter Indikator, was gerade im Kino und im Fernsehen lief. So dominierte der Soundtrack von DIRTY DANCING das gesamte Jahr u.a. hiermit:
Die 1987er Weihnachtsserie ANNA strahlte auch noch weit bis ins nächste Jahr:
Ich bin froh, das damals nicht mitbekommen zu haben – ich hätte mich geschämt:
Wer sich jetzt fragt, wieso ausgerechnet Shari Belafonte einen Song mit Chris Norman aufgenommen hat: sie war in der Serie HOTEL zu sehen und deutsche Producer hatten den unheiligen Drang, TV-Stars auf die Showbühnen zu schubsen.
Mehr 80er geht wohl kaum. Ladies and Gentlemen – GORDON SHUMWAY!
Und es war natürlich auch das Jahr der Olympiade in Südkorea – der deutsche Beitrag gewann die Goldmedaille in der Disziplin Unerträglichkeit:
Damit KANN ich euch nicht in die kalte Nacht entlassen – also nochmal zurück zum Sophisti-Pop in seiner poppig-schnulzigsten Ausformung:
Wir sehen uns 1989 – the year pop broke…
Zum Abschluss die Frage an die “boys of ’88” unter meinen Lesern: Kylie, Wendy, Patsy oder Tatjana?
Die imperial phase der Pet Shop Boys geflissentlich übergangen. Gibts dafür einen extra Blogbeitrag? 😉
Nein, das ist mir schlicht nicht relevant genug.
Andere Sichtweise : Ausser Cohens “I’m your man” haben nur die PSB dem Zahn der Zeit getrotzt.
Ich würde dem nicht widersprechen – aber auch nicht so weit gehen:
https://wortvogel.de/2017/06/konzert-kritik-pet-shop-boys/
Lange her 😉 Mittlerweile füllen Sie wieder, Dank der Gassenhauer, Stadien. Welche Band aus der Zeit schafft das noch, außer Depeche Mode?
Die aktuelle Show ist noch mal eine Ecke besser als die vorigen. Gestern übrigens noch auf dem Glastonbury zu sehen.
Suburbia ist übrigens diesmal der Opener 😉
Bin zwar keiner der “boys of ’88”, weil mit 7 bzw. 8 damals noch zu jung, mein älterer Bruder hatte aber eine klare Favoritin…auch wenn ’88 nicht ihr bestes Jahr war: Sam Fox! https://www.youtube.com/watch?v=g9usE58DQWY
Die hatte immerhin drei Songs in den Charts 1988.
Patsy war schnuckeliges, aber Transvision Vamp musikalisch mehr mein Fall. Kylie hättest du mir damals auf den Bauch binden können, die fand ich unerträglich. Und der Begriff “Sophisti-Pop” verursacht bei mir unangenehmes Sackjucken…..
Die Ablehnung des Begriffs Sophisti-Pop ist selber schon ein Klischee.
Ist mir egal, ich finde den trotzdem furchtbar
’88 war ich oliv campen und habe hauptsächlich Sisters of Mercy gehört. Aber ganz klar Patsy. Jederzeit. 🙂
Von Danny Wilson hatte ich damals die Maxi gekauft und mich furchtbar geärgert, weil die tatsächlich kürzer als die Single war
Ich wäre dann im Lager Patsy Kensit und Wendy James. Kylie fand ich erst einige Jahre später interessanter.
1988 hatte ich mein Herz an Heavy Metal verloren und Doro Pesch in selbiges geschlossen. Wenn ich aber wählen muss: Wendy!
Musikalisch Wendy, optisch aber Patsy.
Da ich S/A/W (in der Schreibweise durch die man sie *nicht* mit den “SAW”-Filmen verwechseln kann ;> ) nur geringfügig “besser” finde als Bohlens Niedrigstanspruchsgedudel, hielt und halte ich auch Kylie musikalisch erst für relevant, als sie sich von denen emanzipiert hatte; vorher aber eher unerträglich, und optisch zu brav. Patsy war natürlich sexy ohne Ende, aber das kam halt auch durch ihr Hauchestimmchen, musikalisch also eher meh. Wendy James war da ein ganz anderes Kaliber, da steckte schon viel Indie drin – jener Alternative zum Mainstream, der ich mich (nach einer kurzen 70er-Heavy- und Artrock-Bildungslückenfüllungsphase) genau wegen des hier ja ausführlich geschilderten Verlusts des Innovativen der Post-Früh80er-Popmusik (für den ich neben og. Produzentenpop auch Boy-/Castingbands sowie Hiphop verantwortlich mache) bis heute zugewandt habe.
Zu 1988 muss ich natürlich noch zwei leider oft übersehene Meisterstücke meiner damals leider gerade nicht angesagten aber weiterhin extrem kreativen alten Helden Duran Duran erwähnen:
Funk! https://www.youtube.com/watch?v=TAAC9wttHM8
House! https://www.youtube.com/watch?v=e-dxAxfkmvk
Die bringen sogar mich zum Tanzen…
PS: Ganz frisch* von diesem Wochenende: https://www.youtube.com/watch?v=u-Rupdl2sJU
*Das Video, die Band nicht mehr so ganz… 😉 allerdings hatte Sänger Simon 2x Covid… Trotzdem, für vier über 60jährige immer noch ganz beachtlich. Tolle Show! Und die neue junge Backgroundsängerin Rachael is’ endlich mal feines eye candy auch für männliche Fans… :>
Ich bin durchaus der Meinung, dass Kylie auch zu SAW-Zeiten bereits überzeugen konnte:
https://youtu.be/tto_nmsND_o
Nö, sorry. Platter Plastik-Pop. Let’s agree to disagree.
Ich gehöre ja auch nicht zu den Jungs von 1988.
Kylie, Wendy, Patsy oder Tatjana sagten mir bis jetzt nichts. Wieder was dazu gelernt.
Wir Burschen von 1973 haben uns an Suzy Quatro abgearbeitet. Can The Can > https://www.youtube.com/watch?v=7SXWgC0SLCA
Die Quatro fetzt heute auch noch.
Sie wurde übrigens auch in Duett mit Chris Norman gespannt > Stumblin’ In.
“The Fall of Modern Talking” – aber gleichzeitig “The Rise of Milli Vanilli”?
Taylor Dayne
Als 8-Jähriger war ich 1988 noch nicht gerade so an den Charts interessiert, aber hier ein kleines Beispiel, das für mich die Musik der 80er symbolisiert und ein Einblick in die Musik von einem kleinen Nachbarland Deutschlands:
https://www.youtube.com/watch?v=UiKvwLWzklo
Die Band “Park Café” sollte im folgenden Jahr 1989 auch bei der Eurovision antreten und drittletzte werden.
Sehr spannend. In der NDR-Nacht “Ich will Spaß” von 2002 waren auch ganz viele interessante Popacts der DDR aus der Ära zu sehen.
ja, da wäre ich eher im Team Ofra Haza, welche natürlich aus Israel ist…
Ist korrigiert, danke. Ich hatte mich von der Erinnerung täuschen lassen, dass ihr Album Yemenite Songs hieß. Man muss echt alles recherchieren.
Bei dem Alf-Song habe ich eigentlich diese Rocknummer erwartet. Und um die Frage zu beantworten: Ganz klar Andrea Elson.
Die hatte Zahnspangen!
Ohne Frage Patsy Kensit.
Und zwar seit ihrem Auftritt als Crepe Suzette in “Absolute Beginners”.
Können so ein Videos nicht Anlass sein, den entsprechenden Jahrgang der Bravo durchzuarbeiten?
Wen sah die Bravo als zukünftigen Stars/Hit/the next big Thing? Wo stimmte die Vorhersage der Bravo, wo lag sie daneben? Gab es Stars, über die besonders oft (oder auffallend wenig) berichtet wurde? Wie wurde über sie berichten (Umfang, Fotostrecken, Interviews, Starschnitt, etc.)? WIe waren die Stimmen der Leser?
Wenn doch bloß jemand alte Jahrgänge der Bravo zur Hand hätte.
@sergej
No offense, aber der Wortvogel ist – sein Blog betreffend – sehr produktiv.
Er befüllt es regelmäßig mit sehr umfangreichen, wie auch sehr gut recherchierten Artikeln. So etwas kostet viel Zeit. Zeit, die er neben seiner Arbeit für die “Liebes Land” vom Familienleben abknapst.
Ich würde darauf wetten, dass seine LvA sich jetzt schon immer mal beschwert, dass er zu lange am Schreibtisch sitzt. Ich kenne das aus eigener Erfahrung.
Wenn man sich mit einem zeitintensiven Hobby befasst, tut man – natürlich – vor allem Dinge, die einem Spaß machen. “Auftragsarbeiten”, die noch dazu viele Stunden Aufwand und Recherche bedeuten, fallen in der Regel nicht in diese Kategorie.
Lass den Wortvogel sich lieber selbst aussuchen, welche Fische er frittieren will.
Pep talk – ja
rush him off his feet – nein
@wortvogel
An meiner Pinnwand hängt ein Spruch aus einem Forum, an den ich mich zu halten versuche :
“Subbe ruhig und zufrieden. Was nicht fertig wird, bleibt liegen.
Halte stets die Pausen heilig, denn nur Verrückte haben’s eilig.
Und sollte jemand Böses schreiben, um dich zur Eile anzutreiben,
dann lass ihn ruhig weiter warten und geh zum Grillen in den Garten.”
Vielen Dank für viele lesenswerte Artikel in all den Jahren.
sergej/takeshi: Ich danke euch beiden für die Kommentare. Es ist ein “sowohl als auch”-Dilemma. In der Tat sind die BRAVO-Strecken eine unglaubliche Plackerei, in die ich jedes Mal mindestens zwei komplette Arbeitstage investiere. Weil’s mir Spaß macht. Welche Stars in welchem Jahr besonders stark promoted wurden, ist immer Teil der Retrospektiven. Eine Konzentration auf diesen Aspekt fände ich fade, da fiele hinten zu viel weg. Ich bin auch nicht so ein Statistiker, der Poster zählt und Charteinträge. Ich sammle bei der Durchsicht alles, was mir ins Auge sticht. Das heißt nicht, dass ich für Anregungen nicht offen bin – es kamen immer wieder mal Kommentare, die mich zu Beiträgen inspiriert haben. Mir fällt selber auf, dass die kürzeren, knackigen Beiträge nachgelassen haben. Das liegt sowohl an einem Mangel an Zeit als auch an der Tatsache, dass sich so etwas auf Facebook leichter und schneller posten lässt. Die Alternative wäre: 20 kleine Häppchen statt eine große Retrospektive. Und ich gestehe: ich bevorzuge die Retrospektiven. Weil ich bei der Arbeit an denen selber noch unheimlich viel lerne. Die geben mir das Gefühl, dem Netz etwas Substanzielles beizutragen, statt lediglich dem kalorienfreien Entertainment Vorschub zu leisten.
Wendy und/oder Kylie. Letztere hauptsächlich wg. dieses Beschützerinstinkt-Triggers, der sich bei Männern oft aus der Kombi cute, klein und einer bestimmten Form tapferes Lächeln ergibt.