CHRISTIANE F. – WIR KINDER VOM BAHNHOF SOAP
Themen: Film, TV & Presse |Ich bekomme immer noch viele Newsletter von Produktionsfirmen und Verleihern, die ich meistens kurz überfliege, bevor sie in den digitalen Papierkorb wandern. Manchmal wundert mich, was da von PR-Leuten formuliert wird, um sich um die offensichtlich dümmsten Ideen herum zu schwadronieren.
Neulich erst regte ich mich darüber auf, dass immer mehr Filmklassiker zu Serien verwurstet werden, auch wenn die Storys das im Einzelfall gar nicht hergeben. Klar, WESTWORLD kann man über mehrere Staffeln ziehen, bei SNOWPIERCER wird es schon schwieriger – aber DAS BOOT? Was soll das? Und nun wird auch noch David Cronenbergs Gynäkologie-Horror DIE UNZERTRENNLICHEN in Häpppchen gepresst und dabei mit einem feministischen Twist versehen, wie ich einer Pressemeldung entnehmen durfte. Die Mantle-Zwillinge sind nun Frauen und haben den Fokus ihrer Arbeit etwas verschoben:
"Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen, sind in ihren Jobs erfolgreich und teilen alles miteinander: Drogen, Liebhaber und den unbedingten Wunsch, alles dafür zu tun, antiquierte medizinische Praktiken zu ändern und die Gesundheit der Frauen in den Vordergrund zu bringen – und dabei schrecken sie auch nicht davor zurück, die Grenzen medizinischer Ethik zu überschreiten."
Die Mantle-Zwillinge im Cronenberg-Film sind Autisten, leben abgekoppelt von jeder Realität in ihrer eigenen Welt ohne Empathie und Sozialkontakt. Sie betrachten die Menschen wie Quallen und Algen, gesichts- und gefühlslose Organismen in einem Aquarium. Daraus zieht der Film seine Kraft. Ich bin mal gespannt, wie das funktionieren soll, wenn die Damen Mantle in der Serie nun plötzlich für die Frauengesundheit kämpfen.
Hier zeigt sich ein momentan extrem akutes Problem, das wir dieses Jahr auch schon in BIRDS OF PREY gesehen haben: es ist unheimlich schwer, Bösewichte als Protagonisten zu erzählen, ohne sie entweder in Helden umzudichten oder so stark zu verwässern, dass die Missetaten allenfalls noch Vergehen, vor allem aber gerechtfertigt sind.
Aber vielleicht irre ich mich – vielleicht wird’s ganz toll.
Vor ein paar Wochen kam dann noch ein erstes Bild zur Serie CHRISTIANE F. rein, die gerade in Prag gedreht wird. Und wieder frage ich mich, wie das als Serie funktionieren soll. Die Geschichte ist ja "based on a true story", hat einen klaren Verlauf und keine wirklichen Sympathieträger – es sei denn, man steht darauf, Junkies jede Woche beim "nadeln" zuzuschauen.
Ich will aber gar nicht unken. Wird vielleicht toll. Ist ja auch eine hochkarätige Produktion:
Produzenten des Prime Originals sind Oliver Berben (Terror – Ihr Urteil , Schuld I-III, Die Protokollantin, Parfum, Shadowhunters) und Sophie von Uslar (Operation Zucker I-II, Mitten in Deutschand: NSU, Tannbach – Schicksal eines Dorfes). Annette Hess (Weissensee, Ku’damm 56/59) ist Head-Autorin und Creative Producerin der Serie, Regie führt Philipp Kadelbach (Parfum, SS-GB, Unsere Mütter, unsere Väter).
Womit ich aber ein Problem habe, ist die Beschreibung der Protagonisten in der Presse-Aussendung. Die ist total daneben in ihrem verkrampften Versuch, Christiane und ihre Clique nicht als nihilistische Junkies darzustellen, die auf den Strich gehen, klauen und in durchsifften Vierteln rumlungern. Oder wie Walter Moers das mal formulierte:
Sind Sie lebensmüde, aber zu feige zum Sterben? Dann dürfte Heroin genau das richtige für Sie sein. Ein Heroinkick gibt Ihnen all die Liebe, die Sie von Ihrer Stiefmutter nicht bekommen haben. Das ist wie während eines multiplen Orgasmus zu erfahren, dass man den Nobelpreis verliehen bekommt. Sie müssen als Gegenleistung nur gelegentlich ein paar gelähmte alte Damen niederstrecken und ausrauben oder Ihr Geschlecht in einer übelbeleumdeten Bahnhofsgegend einer Meute von Randexistenzen feilbieten.
Sowas verkauft sich als Serie natürlich eher schlecht. Also heißt es bei Constantin:
Die Serie ist eine moderne und zeitgenössische Interpretation, inspiriert von den packenden Memoiren von Christiane F. und folgt sechs Jugendlichen, die ungestüm und kompromisslos für ihren Traum vom Glück kämpfen. Sie sind keine Opfer, sondern jung, mutig und stark und ihre Geschichte ist absolut berührend und mitreißend. In acht Folgen zeichnet „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ dabei ein ebenso provokatives, kontroverses wie eindrückliches Bild der Berliner Drogen- und Clubszene.
"Sie sind keine Opfer, sondern jung, mutig und stark!"
Ich kann meine Stirn nicht ausreichend auf die Tischplatte hauen.
Au weia. Das ist leider so schlimm wie erwartet. Ist denn die logische Konsequenz von "mehr Frauen in Entscheiderpositionen beim Film" (grundsätzlich begrüßenswert), dass jetzt alle Frauen "empowered" und das Leben "kompromisslos" sein müssen? Glaubt man, sonst das Publikum nicht begeistern zu können?
Ich finde nicht, dass es einer Neuverfilmung bedurft hätte, und Uli Edel war 1981 (ausnahmsweise) auch mal am richtigen Projekt dran. Wenn aber eine Serie, dann doch bitte wirklich mit Mehrwert des seriellen Formats und damit mit komplexen Charakteren und Sympathieverläufen ("letzte Folge habe ich den da noch geliebt, aber jetzt ist der voll sch**ße geworden").
"Jung, mutig und stark"? Solche Leute landen nicht in der Drogenszene.
Stimmt zwar alles, mag aber in der Serie durchaus gut gelöst sein. Bei WESTWORLD klappte es ja auch. Mir geht es nur um die unsägliche Beschreibung im Pressetext. Alles andere wird man sehen.
Trainspotting auf Deutsch?
DAS BOOT – die Serie hat ein paar Probleme, aber die Tatsache das man an sich überhaupt eine machte ist es nicht. Es ist ja nicht dasselbe Boot. Die Serie müsste eigentlich EIN ANDERES BOOT heißen. 🙂
Eben. Wie wäre es, wenn CHRISTIANE F. tatsächlich von REGINA B. handelt?
Als Frage an den Branchenkenner (so man denn da Regelmäßigkeiten annehmen kann):
Was ist zuerst da? Der Wunsch nach einem Remake oder eine Idee/Drehbuch, die dann auf den alten Titel angepasst wird? Also sagt ein Produzent ernsthaft "Hmm, Kinder vom Bahnhof Zoo – das muss man mal neu machen. Schreibt mir ein Drehbuch…" oder sagt ein Autor "Ich hab hier was über Hedo-Junkies geschrieben" und der Produzent "Cool, da gabs doch den alten Titel…"?
Ersteres.
Es gab zumindest einen dokumentierten Fall von letzterem. "Die hard with a vengeance" wurde laut dem DVD-Audiokommentar als Drehbuch unter dem Titel "Simon says" als allein stehender Film entwickelt. Nachdem sich eine andere Idee für ein Sequel zu "Die hard" zerschlagen hatte, wurde dieses Drehbuch eingekauft und dem Zweck entsprechend angepasst.
Die Idee von "Christiane F." als Serie kann ich aber aber auch nicht verdauen. Der Film ist für mich das beste Beispiel von kraftvollem Depri-Kino, dass man einmal gesehen haben sollte, aber danach nie wieder sehen will. Und mit "Requiem for a dream" gab es danach auch einen noch heftigeren Drogenfilm, für alle denen das Original noch zuviel Frohsinn bot. Gibt es für ein ehrliches Portrait der Szene – welche übrigens? aktuell oder mit Zeit-Kolorit? – eine Serien-Form die diesem Stoff gerecht werden kann ohne ihn zu verfälschen oder zu verwässern?
Bei Kinofilmen gab es das schon oft, ich könnte locker ein Dutzend Beispiele nennen. Aber wir reden hier ja von Franchise-Neuauflagen im Serienformat.
"Es gab zumindest einen dokumentierten Fall von letzterem. "Die hard with a vengeance" wurde laut dem DVD-Audiokommentar als Drehbuch unter dem Titel "Simon says" als allein stehender Film entwickelt."
ALLE Sequels von DIE HARD waren ursprünglich Non-DH Properties.
DIE HARDER basierte auf der Drehbuchadaption von Walter Wagers "58 Minutes"; …VENGEANCE auf Jonathan Hensleighs "Simon Says"; 4.0 auf einem Drehbuch von David Marconi namens WW3.COM (das wiederum auf einem Zeitungsartikel basierte, ähnlich TFATF) und A GOOD DAY… auf einem früheren Drehbuch von Skip Woods, das ursprünglich mal ALARMSTUFE ROT 3 werden sollte…
Ist halt, wie Torsten schon schrieb, ganz normal in Hollywood, dass bestehende Drehbücher einfach in ein neues Korsett gezwängt werden.
Könnte eine solche Beschreibung der Charaktere eine bewusste Provokation sein, um Aufmerksamkeit zu generieren?
Ich mag mir einfach nicht vorstellen, dass jemand das Original so interpretieren kann..
Na ja, die interpretieren NICHT das Original so – das ist genau das Problem. Die versuchen gewaltsam, einen positiven "spin" zu finden. Wenn man mal drauf achtet: es geht um eine Serie über Junkies und die ganze Beschreibung verwendet kein einziges negatives Attribut oder Adjektiv.
Wird Zeit, dass man langsam mal Million Dollar Baby als Serie auflegt und eine engagierte Regisseurin damit beauftragt, die vielen positiven Aspekte besonders herauszustellen… 🙂
"Sie sind keine Opfer, sondern jung, mutig und stark!"
Der selbstbestimmte Junkie, ein völlig neues Konzept!
Freier Fix für freie Fixer!
Da wird das Ausrauben der Omi zum Aufbegehren gegen die Leistungsgesellschaft
Manche Filme eignen sich einfach nicht als Serie und sollten Filme bleiben. Bei Westworld mag das die ersten beiden Staffeln ja noch gut geklappt haben, aber auch hier ging es in Staffel drei ziemlich bergab.
Am schlimmsten finde ich es, wenn Serien plötzlich ala Riverdale in der Neuzeit spielen. Christiane F. in den 80ern mit abgedrehten Klamotten könnte ich mir ja noch irgendwie vorstellen aber auf "eine moderne und zeitgenössiche Interpretation" mit "Jugendlichen, die ungestüm und kompromisslos für ihren Traum vom Glück kämpfen" – darauf kann ich verzichten.