08
Feb 2024

Das Geisterauto

Themen: Neues |

Es liest sich wie der Anfang einer Gruselgeschichte – und vielleicht ist es auch eine.

Das Haus nebenan ist ein solider Bau, Erdgeschoss und zwei Stockwerke, möglicherweise aus den 30er Jahren. Einzelgaragen, großes Grundstück. Drei Wohnungen, wenn man das von außen sagen kann.

(Quelle: Apple Karten)

Im Haus nebenan lebt niemand mehr.

Bis vor zwei Jahren wohnte noch ein älteres Paar im zweiten Stock, das wir von unserer Terrasse aus sehen konnten. Er verbrachte seine Tage auf dem Sofa, halb sitzend, halb liegend. Sie malte an einer Staffelei. Einfache, naive Motive. Ich habe sie nie außerhalb des Hauses wahrgenommen.

Eines Tages waren sie weg. Ihre Wohnung wurde ausgeräumt, ohne dass wir es bemerkten. Nur ein Zimmer blieb möbliert – ein Jugendzimmer. IVAR-Regale von IKEA, ein Single-Bett, eine Stereoanlage, viele Schallplatten. Müsste ich eine Vermutung äußern: Der pubertäre Rückzugsort eines 17jährigen ca. 1988.

Still war es schon vorher, doch seitdem wirkt das Haus nebenan zudem noch leer und trostlos. Das wäre kein Grund zur Beunruhigung. Was uns allerdings ein wenig verunsichert, ist das Licht. Es brennt. Im Erdgeschoss. Man sieht es nur nachts, wenn es durch die schmalen Ritzen der heruntergelassenen Rollos fällt. Niemand ist je gekommen, es zu löschen.

Wir haben uns daran gewöhnt. Ist ja auch schön, wenn man sich nebenan auf Ruhe verlassen kann. Viel schlimmer, wenn auch sozial gerechter, wäre ein Abriss und ein Neubau mit jungen Mietern, Fahrrädern, Kindern, Hunden. Stattdessen scheint das Haus zu warten. Ab und an kommt jemand und mäht den Rasen sehr grob. Die Hecke wurde geschnitten, als sie zu weit in die Zufahrt unserer Tiefgarage zu wuchern begann. Es ist noch Leben, auch wenn wir es nie sehen.

Nun hat das Haus, das niemand will, ein Auto, das niemand kennt.

Es begann am Dienstag damit, dass mein Nachbar aus dem Erdgeschoss mich klingelnd nach unten bat. Er kam mit seinem Tesla nicht aus der Tiefgarage, weil meine Vespa quer davor stand. Leider konnte ich seinem Ärger kein Ventil bieten. Ich hatte meinen Motorroller nicht dort abgestellt. Am Vorabend war sein Platz noch – wie üblich – auf dem Parkstreifen vor dem Haus nebenan gewesen.

Jemand hatte meinen Roller umgesetzt. Vor dem Haus nebenan stand nun ein Auto. Es wäre Platz für beides gewesen, was meine Theorie nährt, dass jemand das Auto mit einem Schlepper dort abgestellt hat und dafür meine Vespa verschieben musste. Vielleicht ist es aber auch einfach aufgetaucht.

Wahrlich, es ist ein seltsamer Anblick:

Ein Saab 900S. Schwarz. Nicht bloß verstaubt. Die Schicht auf dem Lack ist das, was wir daheim Knaas nennen. Ein hartnäckiger Schmier. Kein Nummernschild vorne, das Nummernschild hinten mit abgekratzten Siegeln. Mit dem Finger hat jemand eine Adresse auf die Motorhaube geschrieben und den Hinweis, der Wagen werde am 4.2.2024 abgeholt. Ein Tag, bevor er bei uns aufgetaucht ist.

Natürlich bin ich neugierig. Was hat ein Auto ohne Betriebserlaubnis hier verloren? Wer stellt seine Karre einfach so in unser Viertel? Ich schaue genauer hin. Motorhaube offen, Wagen nicht verriegelt, auf dem Beifahrersitz ein Schreiben der DEKRA. Gegen den Protest meiner Frau mache ich die Tür auf und schnappe mir den Zettel. Es ist ein TÜV-Bericht. Der Wagen ist ohne größere Mängel durch die Prüfung gekommen. Ich schaue auf das Datum: Es ist von 2010.

Ich kann mir nur vorstellen, dass der Wagen seinem Besitzer danach noch einige Jahre gute Dienste geleistet hat. Saab 900S – ein echtes Qualitätsauto. Aber es ist wohl am Ende seines Lebens angekommen und wo immer es den letzten Frieden finden sollte, musste es nun weichen. Von Schwabing nach Trudering.

Es gibt weitere Merkwürdigkeiten. Ich checke die Adresse auf der Motorhaube – und erinnere mich: genau da haben wir uns vor fünf Jahren eine Wohnung angesehen, die zum Kauf angeboten wurde. Ein Zufall, klar. Aber was für einer. Und einen Tag, nachdem ich den Wagen in Augenschein genommen habe, ist er abgeschlossen und der DEKRA-Bericht weg. Will jemand das Auto anonymisieren?

Heute Nacht hat es stark geregnet. Dennoch bleibt die Schrift auf dem Saab gut lesbar. Knaas, kein Staub, ich sagte es ja.

Was wird nun passieren? Wird sich jemand beschweren und das Auto von der Stadt abschleppen lassen? Wird der Besitzer es doch noch zum Schrottplatz bringen? Wird es zu einer urbanen Legende, die immer wieder in kleinen Beiträgen in der Lokalzeitung und in Reiseführern erwähnt wird?

Ich möchte fast glauben, dass das Haus nebenan sich langweilte und ein Auto brauchte. Der Saab 900 wurde bis 1998 gebaut. Er ist also mindestens 26 Jahre alt – sehr alt für ein Auto, das nicht dafür gedacht ist, Young- oder Oldtimer zu werden. In vielerlei Hinsicht ist der Wagen wie das Haus: solide, praktisch, mehr nützlich als hübsch – und von den Besitzern ausgemustert. Irgendwo im Wartezimmer zwischen Leben und Tod, zwischen Abrissbirne und Schrottplatz.

Limbo nennt man das.

Und weil ich ein sentimentaler Mensch bin, möchte ich dem Haus das Auto gönnen – und dem Auto das Haus. Zu zweit ist man immer weniger einsam. Nach dieser Lesart ist das hier vielleicht keine Grusel-, sondern eine Liebesgeschichte.

Seltsam? Aber so steht es geschrieben…



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Flusskiesel
8. Februar, 2024 11:42

Irgendwie will ich glauben, dass das Auto dem älteren Ehepaar aus dem Haus gehört hat. Irgendjemand hatte sich die Karre ausgeliehen, aber nie zurückgebracht.
Jetzt, wo der Entleiher kurz vor seinem eigenen Ende steht, packt ihn das schlechte Gewissen und er stellt den Wagen einfach so zurück.

lostNerd
lostNerd
8. Februar, 2024 12:16

Das ist schon alles recht seltsam. Was es wohl mit dem “konserviertem” Jugendzimmer auch sich hat? Ich hoffe mal, der Bewohner war einfach nur zu faul es komplett auszuräumen, als er auszog.

Ich verstehe nur nicht ganz was Du mit “Wagen werde am 4.4.2024 abgeholt. Ein Tag, bevor er bei uns aufgetaucht ist.” meinst.

Exilant
Exilant
8. Februar, 2024 13:53

So Mysteriös ist das gar nicht. Hier benutzt einfach ein windiger Händler die Straße als erweiterte Verkaufs- und Lagerfläche. Mit Glück kommt demnächst ein Transporter aus Osteuropa und holt das Auto ab. Mit Pech kommt keiner oder er nimmt nur ein paar Teile mit und lässt den Rest des Autos einfach stehen. Siehe auch:
https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Aergernis-am-Strassenrand-Warum-Schrottautos-Staedte-verschandeln,schrottautos106.html

Alexander Freickmann
Alexander Freickmann
9. Februar, 2024 09:54
Reply to  Exilant

Ahh, interessant. Bei uns ist seit November/Dezember ein geschrotteter Skoda mit polnischen Kennzeichen vor der Tür (ist immerhin Stadtmitte). Dachte, die Stadt würde den recht fix abholen, aber nix.

Marko
8. Februar, 2024 19:08

Seltsam? Aber so steht es geschrieben …

Zeddi
Zeddi
8. Februar, 2024 19:38

Da schreibt sich die Geschichte von dem Verstorbenen Sohn, der ein Jugendzimmer dort hatte, und für den die beiden das Auto schon gekauft hatten, das er aber nie nutzen konnte, ganz von allein.

Lange haben sie es in der Garage stehen gelassen, und auch nach ihren Tod hat sich niemand um das Auto gekümmert … genauso wie um das Jugendzimmer.

Doch jetzt passieren merkwürdige dinge, das Auto fährt nachts, doch es ist kein Fahrer zu sehen.

Nummer Neun
9. Februar, 2024 13:21
Reply to  Zeddi

ChatGPT müsste man damit doch auch schon gut füttern können

Thorsten
Thorsten
9. Februar, 2024 10:56

Ich mag die Story und das Feeling was sich draus ergibt.

Vor dem kompletten Lesen gab’s einen Moment der mich irgendwie an “The Burbs” triggerte.

Thx fürs teilen des Mysteriums.