19
Mai 2021

München im Wandel: Ein Spaziergang durch Trudering

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Wir leben jetzt seit mehr als einem Jahr in Trudering und ich muss gestehen, dass ich dem Viertel Unrecht getan habe – was mir 20 Jahre lang wie der triste Speckgürtel von München erschien, ist ein aufstrebendes Areal mit sensationeller Verkehrsanbindung und hervorragender Versorgungslage. Wären wir nicht nach München zurück gegangen, um wieder in München zu sein, müssten wir eigentlich nie nach München rein fahren. Jede Supermarktkette gibt es in Fußweite, Reinigung, Restaurants, Friseure, sogar Waldgebiete, Wertstoffhof und Wochenmarkt. Es fehlt wirklich an nichts.

Und weil die LvA und ich einen Hang haben, tatsächlich heimisch zu werden, haben wir uns auch schon zwei Bücher über die Geschichte des Viertels am östlichen Stadtrand gekauft. Wir möchten wissen, wie es entstanden ist, was vorher war, wer es geprägt hat.

Einen noch besseren Weg, das Viertel kennen zu lernen, praktiziere ich allerdings derzeit täglich – bei meinem einstündigen Spaziergang, der mir helfen soll, auch während meiner Fastenzeit körperlich wenigstens in Bewegung zu bleiben. Dabei durchstreife ich auf wechselnden Routen die Truderinger Wohngegenden und was mir am Anfang noch gemerisch und wenig bemerkenswert erschien, bekommt in der Wiederholung auf einmal Struktur und Bewegung. Nach einer Weile erkennt man Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft, nimmt Verfall und Auferstehung ganz anders wahr. Und darum will ich das hier aufschreiben, bevor es von zu viel angelesenem Fachwissen verwässert wird.

Der Teil Truderings, in dem wir wohnen, ist geprägt von dieser Sorte Haus:

Mal mit Anbau, mal mit Garage, mal mit Wintergarten – aber immer diese Form, immer dieses Format, immer diese Grundfläche. Es gibt HUNDERTE davon, teilweise reihen sie sich in Straßenzügen aneinander wie Soldaten bei einer Parade. Ich vermute mal, dass sie von einem Träger (Stadt, Militär, großes Unternehmen) vor vielleicht 100 Jahren in einem relativ kurzen Zeitraum errichtet wurden. Ein Standardhaus für eine Gegend, die damals noch Bauernhöfen und Forstanlagen abgerungen werden musste. DAS prägende Hausmodell von Trudering. Nüchtern, praktisch, vielseitig.

Die Zahl dieser Häuser schwindet – schnell und drastisch, Weil die meisten Eigenheime mit Gärten ausgestattet wurde, die nach heutigem Immobilienverständnis erheblich zu üppig bemessen sind. Man braucht keine Wiese, wo das Bauamt ein mehrstöckiges Mehrfamilienhaus genehmigen würde. Baugrund ist kostbar und es drängt die Familien aus der Stadt heraus ins Umland. Trudering ist Boomtown und darum müssen auch Häuser weichen, die an sich noch völlig in Ordnung sind – weil sie die Fläche nicht optimal nutzen, weil man drunter Tiefgaragen und obendrauf Penthäuser setzen könnte.

Bevor wir aber dazu kommen, möchte ich euch einige der vielleicht aussterbenden Individual-Bauten zeigen, von denen es hier noch ein paar gibt – so erinnern einige Häuser an die Zeit, als Trudering weitgehend bewaldet war:

Eine gewisse alpenländische Folklore lässt sich nicht absprechen:

Wer genau hinsieht, entdeckt auch Holzbauten aus den 60er und 70er Jahren, die schon versuchten, eine andere, vermutlich ökologisch nachhaltige Form von Wohnlichkeit zu vermitteln:

Oder dieses Exemplar, das sich augenscheinlich den skandinavischen Stil zum Vorbild genommen hat:

Und auch heute noch gibt es Bauherren, die unbescheiden dem Edelmaterial Holz frönen und eine rustikale Gemütlichkeit erzwingen wollen:

Manche der Häuser sind mit Texten zum historischen Hintergrund versehen:

Es gibt aber auch Gegenentwürfe, z.B. diese betone Trutzburg mit Geweih:

Oder dieser (schlecht erkennbare) Kasten mit Fenstern und Terrasse:

Gerade die kalten, kantigen Bauten lassen darauf schließen, dass es in den 60er und 70er Jahren schon mal einen ersten Neubau-Boom gegeben hat, der auch eine Reihe raumoptimierter Reihenhäuser im Schlepptau hatte:

Es muss im Viertel auch mal ein paar Geschäfte gegeben haben, die sich in den letzten Jahrzehnten unter Mauern und Putz zu Wohnraum wandelten – verblassende Überreste sind durchaus noch zu entdecken:

Ein geradezu bizarres Stück von Gewerbe-Rochade ist mir in den letzten Monaten aufgefallen – so hat es mich amüsiert und zum Motiv gereizt, dass eine Fliesenfirma augenscheinlich vor acht Jahren schon den Geschäftssitz verlegt hat, ohne das dazu gehörige Plakat jemals abzunehmen:

Man fragt sich: warum haben die das Plakat nicht irgendwann abgenommen, bzw. abnehmen müssen? Und dann plötzlich die Kehrtwende:

Die Firma ist – wie als Aprilscherz zum 1.4. – wieder in die alte Adresse zurückgekehrt! Man hat so lange darauf verwiesen, dass man umgezogen ist, bis es schon wieder nicht mehr wahr war. Ich bin begeistert.

Wir haben auch durchaus… nennen wir es um des Nachbarschaftsfriedens mal “Corona-Skeptiker” in Trudering:

Das hängt alles mit einem “Corona-Ausschuss” zusammen, der kein Ausschuss ist und auch sonst nix zu sagen hat. Aus dem Umfeld werden dann auch Stromkästen beschmiert und die Parolen von einem guten Freund (wie ich kürzlich erfahren habe) zeitnah überklebt:

Nicht minder drollig: diese dauer-dekorierte Einfahrt zu einer Baustelle:

Dass Trudering durchaus ein Viertel mit Geld ist, merkt man daran, dass vor diversen Häusern und Garagen Oldtimer oder US-Schlitten stehen:

Eine ganz besondere Entdeckung sind dabei diese beiden Schätzchen, die aus unerklärlichen Gründen nicht gehegt und gepflegt werden, sondern in Unterständen vor sich hin gammeln, als hätte man sie 1935 dort abgestellt und vergessen:

Auf der recht belebten und modernen Wasserburger Landstraße könnte man diesen uralten Wegstein fast übersehen:

Hier steht ein Haus, das aussieht, als wäre es nur dem denkmalgeschützten Brunnen zuliebe drei Meter weiter hinten auf das Grundstück gesetzt worden:

Wagt man sich ein wenig ab vom rechten Weg in die noch bewaldeten Gebiete, kann man ebenfalls auf Kuriositäten stoßen – wie dieses allein stehende Gartentor, das schon lange keinen Garten mehr vor ungewünschten Besuchern schützt:

An diversen Stellen ist Holz in einer Weise gestapelt, die mich vermuten lässt, dass die Dorfjugend hier abends Bier trinkt und Zigaretten raucht:

Ein wenig verwirrt haben mich diverse Reihen mit bemalten Steinen – aber wie eine Bekannte sagte, war das wohl ein Schul/Kindergarten-Projekt zu Corona 2020:

Immer wieder mal stößt man auch auf sakrale Errichtungen, deren Sinn und Zweck sich mir nicht erschließt – die mir aber auch letztlich wurscht sind:

Als Bewohner eines Penthauses mit umlaufender Dachterrasse erleben wir Stürme hier sehr hautnah – und wenn man am Tag darauf spazieren geht, begegnen einem durchaus Sturmschäden, die ganze Seitenstraßen blockieren:

Ich hätte als Kind echt was drum gegeben, in so eine “Wald-Kita” gehen zu dürfen – man kommt sich vor wie bei Astrid Lindgren:

Zu meiner Überraschung gibt es in “meinem” Kiez auch einen waschechten, sehr fischig wirkenden Schrottplatz im Stil der 70er Jahre:

Direkt daneben – ein nicht minder fischiger Kaugummi-Automat, der aussieht, als hätte man ihn schon tausend Mal bei AKTENZEICHEN XY gesehen:

Generell ist Trudering sehr reinlich und proper, aber wie es scheint, machen sich ein paar Vorstadt-Anarchos noch durchaus mit der Spraydose Luft:

Kommen wir aber zum eigentlichen Thema zurück – dem Wandel. Allein in dem relativ kleinen Gebiet, in dem ich spazieren gehe, gibt es bestimmt zwei Dutzend größere Baustellen, alle nach dem gleichen Prinzip: kleines altes Haus abreißen, großes Mehrfamilienhaus hinbauen.

Manchmal sehen die Häuser gar nicht aus, als sei es nötig:

In anderen Fällen scheint es angebracht, der Moderne Platz zu machen. Und so wird allerorten abgerissen und neu gebaut:

Natürlich alles zu Premiumpreisen, mit Dachterrassen und Tiefgaragen, dafür armseligen Grünstreifen, die den Namen “Garten” wahrlich nicht verdienen. Ich will das gar nicht schlecht reden, wir wohnen selber in so einem Neubau und sind damit sehr glücklich. Die Stadt MUSS verdichten, weil die Nachfrage so groß ist und man kann es in der Tat 2021 nur noch schwer rechtfertigen, wenn ein Einfamilienhaus mit 100 Quadratmeter Grundfläche auf einem Grundstück von 5000 Quadratmetern steht.

Ein sehr konkretes Beispiel haben wir vor zwei Wochen besichtigt, als eine Baustelle erstaunlicherweise nicht abgesichert oder verschlossen war – auch dieses mondäne Doppelhaus der 60er (?) sieht eigentlich nicht aus, als müsste es unbedingt der Abrissbirne zum Opfer fallen:

Schaut man rein, sieht man die Reste von spießigem Luxus der Nachkriegsgeneration (rosa Marmor, Jugendstil-Gravurspiegel im Bad):

Noch wichtiger aber: von der Straße aus unsichtbar, hat das Gebäude einen unfassbar großen Garten mit überdimensioniertem Pool und Grillbereich:

Kein Wunder, dass das Doppelhaus abgerissen wird – die neue Anlage wird mehr als 20 WOHNUNGEN umfassen. Das rechnet sich. Richtig.

Wo Renditen winken, sind Spekulanten nicht weit. Und weil das so ist, gibt es nur eine Sache noch häufiger als Baustellen: Plakate, auf denen gegen Belohnung nach Grundstücken und verwertbaren Immobilien gesucht wird. Waren so etwas früher Zettel an der Laterne, so werden heute aufwändige, die Gier der Menschen ansprechende Vierfarb-Plakate aufgehängt:

Kleiner Tipp an die Firma: das Plakat wäre ein wenig weniger peinlich (aber nur ein wenig), wenn die Ische keine Dollarnoten in die Luft schmeißen würde. Augen auf bei der Auswahl der Symboldbilder!

Schaut man sich die aktuellen Neubauten und die Planungen auf den entsprechenden Webseiten an, dann wir dieser Stil das neue Gesicht von Trudering:

Kann man fies und gesichtslos nennen, aber ich gebe zu bedenken: auch die Menschen vor 100 Jahren mögen die Standard-Häuser fies und gesichtslos gefunden haben. Sie sind aber den Bedürfnissen der Zeit geschuldet und bieten einen Komfort, der in den Altbauten nicht zu erwarten war. Weniger Energieverbrauch, praktischere Raumaufteilungen, mehr Licht, modernere Sanitäranlagen. Jede Zeit baut die Häuser, die sie braucht. Garten ist out, Fußbodenheizung ist in.

Viele der Häuser, die ich euch hier gezeigt habe, werden in zwei, drei Jahren schon nicht mehr stehen. Wenn man hier täglich spazieren geht, merkt man die Geschwindigkeit des Wandels sehr deutlich. Andere Häuser, oft aus den 70er und auch schon 80er Jahren, werden in den nächsten 10 Jahren dran sein. Und in zwei drei Generationen werden Leute zuschauen, wie die nun modernen Neubauten als Altlasten dem Bagger zum Opfer fallen. Weil das so ist.

Ich bin auf jeden Fall froh, noch ein paar Einsichten in das “alte” Trudering zu erhaschen, bevor alles weißer Putz, Glas und Aluminium ist.



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Martzell
19. Mai, 2021 16:14

Danke, sehr interessant.

moepinat0r
moepinat0r
19. Mai, 2021 17:52

Uff, 1,2Mio fuer 140m^2… O_O
Kann man das als Normalverdiener heute überhaupt noch bezahlen? Denn als Besserverdienender, würde ich für das Geld doch etwas mehr erwarten oder eher gleich nach München ziehen. Aber gut, in gefragten Städten und deren Umgebung zu wohnen war noch nie günstig.

Stephan
Stephan
19. Mai, 2021 18:38

Die “Tipis” dürften im direkten Zusammenhang mit dem Waldkindergarten stehen, die haben ja sonst nix zum spielen 😉

Dietmar
19. Mai, 2021 18:54

Dass es diese Kaugummi-Automaten noch gibt und sie befüllt werden! Ich bin baff.

Howie Munson
Howie Munson
20. Mai, 2021 01:11
Reply to  Dietmar

Wieso “befüllt werden”? Die sind nur (noch) nicht leer…. *duck*

S-Man
20. Mai, 2021 12:37
Reply to  Howie Munson

Ich habe das auch immer gedacht, aber ich habe in den letzten zwei Monaten tatsächlich live gesehen, dass die Teile hier bei uns zumindest neu befüllt werden.

Jake
Jake
20. Mai, 2021 14:02
Reply to  Torsten Dewi

Ich habe erst vor ein paar Wochen einen Artikel zu dem Thema gelesen. Es gibt in Deutschland wohl noch etwa 500.000 dieser Automaten, die auf ca. 1.000 Aufstellerbetriebe verteilt sind. Soweit ich’s noch im Kopf habe, braucht ein Aufsteller heute 1.000 – 2.000 Automaten, um von dem Geschäft noch leben zu können. Neben der gesunkenen Nachfrage scheint wohl auch der Vandalismus und die damit einhergehenden Wiederinstandsetzungskosten ein zunehmendes Problem zu sein.

Ich freu mich jedes Mal, wenn ich eines dieser Teile in intaktem Zustand sehe. In meiner Kindheit hingen die gefühlt noch an jeder Straßenecke und wurden auch immer fleißig mit Taschengeld gefüttert.

Maximilian Frömter
Maximilian Frömter
20. Mai, 2021 15:20

Danke für den interessanten Bericht und die Fotos! Liegt bestimmt auch mit am miesen Wetter und den entlaubten Bäumen, aber für mich versprühen die Bilder durchaus ein hohes Mass an spiessbürgerlicher Tristesse. Für mich wär das nix, hab mehr als 30 Jahre meines Lebens in einer ähnlichen Gegend im weiteren Einzugsbereich Münchens gewohnt und bin erleichtert, dass wir unser Haus mittlerweile verkauft haben. Ich hab mich in der Stadt selbst auch nie richtig heimisch gefühlt, obwohl ich mehrere Jahre dort gelebt habe – was sicher auch durch mein nicht sehr hohes Einkommen begründet war. Objektiv betrachtet aber zweifellos eine der lebenswertesten Städte Europas, schön dass zumindest Du Dich dort wohlfühlst.

Rheiner
Rheiner
21. Mai, 2021 08:54

Das ist exakt das, was ich auch gedacht habe. Spießige Trostlosigkeit.

So ziemlich der letzte Ort der Welt, an dem ich gerne leben würde.

Aber du hast Recht: Die Fotos mögen täuschen und die Ansprüche sehr unterschiedlich sein.

Ich bleib lieber hier: 5.000 Einwohner-Örtchen, S-Bahn-Stadion, knapp 20 Minuten nach Düsseldorf und ein paar weitere Städte und Städtchen in der direkten Umgebung.

München wird auch ohne mich leben können 🙂

Rheiner
Rheiner
21. Mai, 2021 11:26
Reply to  Torsten Dewi

Es ist Gruiten, könntest du als Düsseldorfer kennen, musst du aber nicht. Kann man auch gut nicht kennen, ohne eine Bildungslücke zu haben.

Ich glaub, wenn ich das nächste Mal in München bin, spazier ich mal durch Trudering. Zumindest klingt das genauso nach “Alte-Frauen-Name” wie Hilden.

Rheiner
Rheiner
21. Mai, 2021 12:15
Reply to  Torsten Dewi

Umso schöner finde ich deine Leidenschaft für dein Wohnviertel und dein Interesse an dessen Geschichte.

Gerne mehr davon 🙂

Matts
Matts
20. Mai, 2021 16:57

Schöne Impressionen aus der Vorstadt. Gefällt mir.
Die Betonburg mit dem Geweih sieht tatsächlich bizarr aus!