Fantasy Filmfest Nights XL 2022: NO LOOKING BACK
Themen: FF Nights XL 2022, Neues |Russland 2021. Regie: Kirill Sokolov. Darsteller: Victoria Korotkova, Anna Mikhalkova, Sofia Krugova, Alexander Yatsenko, Danil Steklov, Olga Lapshina
Offizielle Synopsis: „Bitch! Piece of crap! Asshole! Scum!” – keine Frage, das Gör Masha hat ein Aggressionsproblem. Nun, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: Mutter Olga hockt wegen einer impulsiven Bluttat im Knast und die Großmutter geht auf die Verwandtschaft schon mal mit dem Küchenmesser los. Als Olga entlassen wird, fackelt sie nicht lange und entführt Masha aus der Obhut der Oma. In der Folge eskaliert es in der Familie, die mit dysfunktional noch beschönigend beschrieben ist, komplett.
Kritik: Ich schrieb im Vorfeld, dass man das Screening eines russischen Films vielleicht kritisieren könne, ich das aber nicht tun werde. Ich lag mit meinen Gedanken augenscheinlich nicht allein, denn der Veranstalter erklärte vor der Vorführung ebenfalls, man habe sich gegen Kritik und Bedenken für den Film entschieden. Regisseur Sokolov habe eine Videobotschaft aufgenommen, die aus Angst vor Repressalien aber nicht gezeigt werden könne. Rainer Stefan las stattdessen sichtlich bewegt ein schriftliches kurzes Statement vor. Man merkt, es ist gerade für niemanden leicht.
Aber zum Film. Sokolov hatte 2019 ja mit WHY DON’T YOU JUST DIE! einen echten Überraschungshit abgeliefert. Mit NO LOOKING BACK wechselt er das Szenario, weg vom setgebundenen Kammerspiel hin zum überdrehten Roadmovie – ohne dabei jedoch auf seine Markenzeichen zu verzichten: großartige Performances, hysterisch komische Gewaltausbrüche, unerwartete Wendungen – und unter allem eine Strömung tiefer Humanität. Mögen seine Figuren auch Cartoons sein, so sind sie dennoch menschlich, zerbrechlich, und verzweifelt.
Es gehört ein großes Verständnis dazu, derart comic-eskes Gewaltkino in Primärfarben zu drehen und dennoch echte Empathie für die Charaktere zu provozieren. Sind anfangs noch Olga und Masha unsere “Heldinnen”, so begreifen wir im Laufe der angenehm straff bemessenen 98 Minuten, dass selbst die Bösewichte in NO LOOKING BACK Gefangene zwischen Wünschen und Wirklichkeit sind, tragische Versager am eigenen Glück. Letztlich geht es zwischen Schießereien, Verfolgungsjagden und Prügeleien immer wieder um die Frage, wer wir für unsere Kinder sind und sein wollen, was wir ihnen mitgeben und was wir von ihnen verlangen. Um Augen geht es auch – im Titel wie in diversen wiederkehrenden Metaphern, die ich nicht ganz entschlüsseln konnte.
Das ist wie bei Sokolov üblich sehr rasant, sehr farbenfroh und sehr fettfrei inszeniert und lebt auch von Darstellern, bei denen man sich kaum entscheiden kann, wer den Film am überzeugendsten an sich reißt.
Fazit: Eine schwarze Actionkomödie mit viel russischer Seele. Auf so einem Festival natürlich ganz großer Krautplieser. Am besten in guter Gesellschaft genossen, die auch Wodka heißen kann. Sa sdorowje! 9 von 10 Punkten.
gabs auch wieder einen großartigen Abspann-Song obendrauf?
Nein.
Aber vor dem Abspann eine schöne Cover-Version von Iggy Pops “The Passenger”. Leider konnte ich im Abspann nicht lesen, wer sie eingesungen hat, da ich die kyrillische Schrift nicht beherrsche.
War die humanistische Weltsicht auch in “Why don’t you just die” schon so präsent? Ich müsste ihn wohl noch ein zweites Mal sehen, denn mir ist hauptsächlich sein rabenschwarzer Humor und dessen blutige Darstellung im Gedächtnis geblieben. Hier beißt sie dem Zuschauer beinahe auf die Nase, denn es gibt gleich mehrere Beispiele dafür wie Gewalt und Schmerz von einer Generation an die nächste weitergegeben wird und wie viel Kraft es erfordert aus diesem sich selbst befeuernden Kreislauf auszubrechen. Das es darüberhinaus wieder viel Witz, überraschende Wendungen und Anspielungen auf Italo-Western gibt, macht den Film für mich schon jetzt zu einem Höhepunkt des Festivals.