06
Jun 2020

My Corona: Perlen aus dem SPIEGEL-Archiv 1975-2000

Themen: Film, TV & Presse |

Wir befinden uns in den “mellow 70’s”, die SPD regiert liberal, die RAF erlebt ihren grausamen Aufstieg und im Kino tauchen die ersten “Blockbuster” modernen Zuschnitts auf. Nur der SPIEGEL, der bleibt so knöchern, wie er immer schon war.

Es mag dem mit Pornhub und Playboy aufgewachsenen Leser unvorstellbar sein, aber in den frühen 70er Jahren tobte ein harter Kampf um die Legalisierung der Pornographie. Das Problem: was bei uns noch verboten war, war anderswo (besonders in Skandinavien) schon erlaubt. Und so entwickelte sich ein florierender Schmuggel von Schweinkram vom Norden in den Süden, von Kopenhagen nach Köln, von Stockholm nach Stuttgart. Der SPIEGEL sah sich genötigt, in drastischer Sprache zu berichten:

“Arme und Beine der Dame sind verschlungen in einem Knäuel nackter Leiber, die oben und unten, kreuz und quer, oral und genital miteinander verbunden sind.”

Porno-Ware wird unter den Schanktischen der Kaschemmen des Frankfurter Bahnhofsviertels ebenso bereitgehalten wie in den Kneipen der Stuttgarter Altstadt; sie ist bei St.-Pauli-Portiers zu haben und stapelt sich in deutschen Bürgerwohnungen. Als Verteiler von Erzeugnissen skandinavischer Porno-Industrieller betätigen sich in Hamburg nebenberuflich unter anderen ein Fuhrunternehmer und ein Schlachtergeselle.


Man kann kaum bestreiten, dass die Kinski-Autobiographie “Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund” und die spätere Neufassung “Ich brauche Liebe” sprachgewaltige, brutale, manchmal fast pornografische, im besten Sinne strotzende Werke sind, die einen wünschen lassen, Kinski hätte mehr geschrieben als geredet. Ob die Tatsache, dass sie weitgehend zusammen gelogen sind und damit nicht WIRKLICH das Lebens Kinskis nacherzählen, einen Malus darstellt, muss jeder für sich selbst entscheiden. DASS sie weitgehend zusammen gelogen sind, das war schon bei der Erstveröffentlichung 1974 klar:

“Sie (die Brüder) schildern den Wilden als braven, kränklichen Knaben, der, stets mit einem Stullenpaket versehen, zum Gymnasium ging, wo er allenfalls durch Faulheit auffiel.”


In einem Beitrag von 2010 wird an die Einführung der Gurtpflicht 1975 erinnert. Ach wie drollig, ach wie störrisch die Deutschen damals waren (Ähnlichkeiten zu aktuellen Masken-Verweigerern sind nicht rein zufällig). Zwar war der vernunftgetriebene SPIEGEL natürlich FÜR den Gurt, nennt die Gegner heute “hysterisch”, benutzte aber seinerzeit klar die alarmistische Wortwahl und sensationsheischende Bildersprache der Gurtgegner, sprach von “Fesseln” und “Leibriemen”.


1977 entdeckte der SPIEGEL unter dem Titel “Ratten in Jeans” den Punk – und zeigte sich verwirrt und angeekelt. Dennoch ist der Artikel dazu eine ziemlich gute Zusammenfassung der damaligen Entwicklung und verweist auch auf die Wurzeln des Punk in der britischen Hoffnungslosigkeit der Mitt-70er. Unbezahlbar auf jeden Fall der unbeholfene Versuch, Bandnamen einzudeutschen:

Da scheint nur rücksichtsloser Egoismus weiterzuhelfen: Aggression, Tumult und Schock. Eine Band nannte sich “London SS”, andere heißen “Die Verdammten”, “Die Würger”, “U-Bahn-Sekte”,  “Das Gemetzel und die Hunde”, und viele tragen Hakenkreuze an der Kluft.


Trivialliteratur war dem SPIEGEL immer schon ein Dorn im Literatenauge. Hier eine großartige, ausschweifende und üppig mit Zitaten versehene Empörung des SPIEGEL 1977 angesichts der Flut “gewalttätiger” Heftchenromane:

In einer Adriabucht springt ein Italien-Urlauber vom Boot ins Meer und schwimmt hinaus. Plötzlich schießt vor den Augen seiner an Bord gebliebenen Begleiterin eine nackte junge Frau unter Wasser auf ihn los, beißt ihn mit gefletschten Haifischzähnen in den Oberschenkel, schnappt noch einmal zu und kastriert ihn mit einem Biß. In einer Wolke von Blut versinkt der Sterbende.

Seltsam? Aber so steht es geschrieben: “Blutiger Schaum zerplatzte vor seiner Nase”


1978: ein amüsant nerdiger Einblick in das SF-Fandom stammt aus den 70er Jahren. Die These, das Fandom sei im Untergang begriffen, klingt heute lächerlich – aber der Artikel erschien ja auch DREI TAGE (!!!) vor dem Deutschlandstart von KRIEG DER STERNE.

“Im Fandom aber herrscht kein Friede. Statt mit Laser oder Lanze bekriegen sich die SF-Clubs mit “Fanzinen” — Fan-Magazine, von denen noch an die zwei Dutzend kursieren, “Andromeda” heißen oder “Magia”, “Science Fiction Times” oder “Quarber Merkur”; die einen sind den anderen zu links oder rechts oder schlicht zu dusselig.”


An schnickschnackem Hightech wie “Videorekordern” konnte der SPIEGEL 1979 nichts finden. Ist ja auch alles unfassbar überteuert:

“Etwa 60 000 bespielte Kassetten werden die Film-Kopierer in diesem Jahr verkaufen — zu Preisen zwischen 119 Mark für einen 25minütigen Märchenfilm (“Frau Holle”) und 259 Mark für ein Zwei-Stunden-Epos wie den Science-fiction-Thriller “Operation Ganymed”.”


Ebenfalls 1979 konntn sich “novelizations” erstmals auf deutschen Markt etablieren, also “Roman nach Film” statt “Film nach Roman” (davon habe ich ja auch diverse geschrieben). Natürlich gab es das vorher auch schon, aber jetzt schien es den SPIEGEL zu stören und war eine kurze Notiz wert, die so wenig Fleisch hat, dass sie Neuveröffentlichungen von verfilmten Romanen gleich auch noch in den Topf rührte.


1979 zum Dritten: Wer einen Beleg braucht, dass es durchaus Spaß machen kann, echten Geistesgrößen bei einem Talk zuzuhören statt seine Zeit an Politclowns und Profiagitatoren zu verschwenden, der ist bei diesem Roundtable über die Zukunft der Mikroelektronik und der Künstlichen Intelligenz genau richtig. Da werden – auch wenn sich vieles überlebt hat – richtig kluge Sachen gesagt. Zum besseren Verständnis sollte man das PDF lesen, weil der automatisierte Scan relevante Informationen über die Teilnehmer unterschlägt.

“Wenn jemand vor hundert Jahren versucht hätte, über die heutige Technologie zu diskutieren, so hätte ihm jede Grundlage dafür gefehlt. Damals hätte jede Meinung gelten müssen, ebenso wie heute jede Meinung gelten muß über das, was in hundert Jahren möglich ist. Wir müssen schon froh sein, wenn wir einigermaßen sichere Aussagen darüber machen können, was in 10, 20 Jahren sein wird.”


Urs Jenny war (ist?) Kulturredakteur des SPIEGEL und ein Mann von Expertise, aber wenig Modernität. So wundert es nicht, dass er dem neuen Horrorfilm anno 1981 wenig abgewinnen konnte. Sowohl das Genre als auch sein Publikum fanden keine Gnade:

Für die Stammgäste des Horror-Kinos ist Quantität Qualität. Da herrscht Wiederholungszwang, und es werden Mal für Mal größere Portionen an Hackfleisch und Ketchup verlangt, an berstenden Innereien. Mit Flackerlicht, drohenden Schatten und haarigen Klauen, die hinterrücks den Schwanenhals einer Jungfrau im Nachthemd umfassen, ist bei Horror-Habitues kein wohliges Grunzen mehr zu kassieren — da muß schon eine Klinge blitzen.

In diesem Artikel fiel übrigens erstmals der Name “Stephen King” im SPIEGEL.


Dass der SPIEGEL die Jugendkultur so gut versteht wie eine Kuh Atomphysik, ist keine neue Erkenntnis. Und dass man selbst dann, wenn jeder schon auf den Zug aufgesprungen ist, mühsam hinterher humpelt, ebenso. Exemplarisch dieser Artikel von 1983 über die NDW im Allgemeinen und Nena im Speziellen:

“Anders aber auch als bei den dumpfen Wellen-Reitern Hubert Kah (“Sternenhimmel”) oder “UKW” ist Nenas leicht heisere, oft zurückgenommen kieksende Stimme unverwechselbar. Und sie bringt Sex auf die Bühne. Dann aber wirkt die Frische aus Hagen wie Mick Jaggers jüngere Schwester. Wesentlich jünger.”


Wir schreiben das Jahr 1987. Nach Punk und Neue Deutsche Welle hat der SPIEGEL auch das Sampling nicht als neue Musikkultur verstanden, sondern lediglich als faule Soundklauerei. Die sprachlichen Kapriolen lösen Fremdschämen aus:

Aus dem Lautsprecher dröhnen mehrere Musikstücke gleichzeitig: James Brown stöhnt, die “Einstürzenden Neubauten” toben, “Abba” pfeifen aus dem letzten Loch, dazu zetert ein Diskjockey. Was noch gestern als wüstes Durcheinander galt, wird nun als heißer Tip gehandelt – die Popmusik feiert die Wiederentdeckung der Collage.


Die Frühzeit des Internet war Wilder Westen und terra incognito gleichzeitig. Dass ausgerechnet der SPIEGEL kein Frühwarnsystem für die wichtigsten Entwicklungen hatte, darf nicht verwundern. Das Nachrichtenmagazin ist schließlich nicht WIRED. Aber der Blick in die Archive zeigt, wie groß frühere Luftblasen waren, wie weit die Pionierzeit des Webs bereits zurückliegt. Wer sich überhaupt noch an den ersten großen Browser NETSCAPE NAVIGATOR erinnert, der weiß vielleicht auch, dass er lange Zeit konkurrenzlos war. Aber kann man sich ehrlich noch vorstellen, dass die Freeware allen Ernstes fünf Milliarden Dollar an der Börse wert war und wertvoller geschätzt wurde als Apple?! Ich sag’s gerne noch mal: Ein Freeware-Browser, der an der Börse höher gehandelt wurde als Apple.

Klingt komisch, ist aber so. Das war 1996.

Allein in Nordamerika nutzen heute schon 24 Millionen Menschen das Internet, weltweit sollen es schon 40 Millionen sein. Die Internet-Fans verschaffen sich per Telefonleitung und Modem aus aller Welt Nachrichten, versenden digitale Post, oder sie unterhalten sich mit Partnern rund um den Globus.


Jörg Böckem (damals noch heimlicher Junkie) schrieb 1997 über den ersten “John Sinclair”-TV-Film und den Autor der Romane. Man merkt, dass man nicht ZU kritisch sein wollte, auch wenn man in der Vergangenheit die “Groschenromane” wahrlich oft genug in als Schmutz und Schund in Grund und Boden geschrieben hatte. Schmutz und Schund gab es dann ja genug – in Form der später folgenden “John Sinclair”-TV-Serie.

Kleine Bonus-Info: Die auch im Artikel groß herausgestellte Sprengung des Kölner Doms war ein später Versuch des Senders, den anämischen Gruselfilm etwas aufzupeppen. Dafür schoss man nochmal ordentlich Geld zu. Das erklärt, warum die Szene im Film kaum Kontext hat und fix zur folgenlosen “Illusion” erklärt wird – sie war im ursprünglichen Skript nicht vorgesehen.


Was an diesem Internet berichtenswert ist, konnte der SPIEGEL auch nicht immer stilsicher entscheiden – so spendierte man 1999 mehrere Seiten einem kruden Erotik-Live-Projekt namens “Da House”, über das ich heute im Internet praktisch nichts mehr finden kann und bei dem man einigen Ischen zusehen konnte, wie sie in einem Haus duschen, sich umziehen und schlafen. Chat included. Eine magere Kost in den Zeiten vor Breitband und 720p.

Das vermutlich meistgehaßte Plüschtier im Internet ist ein kleiner, blauer Stoffdelphin. Das Tierchen kommt immer dann zum Einsatz, wenn Krystal ihren Slip auszieht und das Ereignis von drei Kameras gleichzeitig via Internet live übertragen wird.



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