04
Jun 2020

My Corona: Perlen aus dem SPIEGEL-Archiv 1949-1973

Themen: Film, TV & Presse |

Ich hab’s schon oft gesagt und ich sage es gerne noch einmal – das SPIEGEL-Archiv ist ein Quell nicht nur hochwertiger Artikel und fundierter Informationen, sondern auch hysterisch komischer Altherren-Glossen und stoffeligen Unverständnisses von allem, was Kinder, Frauen, Technik und ethnische Minderheiten angeht. Je weiter man in die Jahrzehnte zurückgreift, desto schärfer wird der Tonfall, desto gnadenloser das Urteil.

Anders als auf Facebook werde ich die Artikel hier chronologisch ordnen – das macht die Zeitreise irgendwie noch lustiger.


Das Grundgesetz war 1949 noch nicht in Kraft, der erste Bundestag noch nicht gewählt, da regte sich der Klerus bereits über den Schweinkram in der gerade mal theoretisch existierenden Bundesrepublik Deutschland auf. Gedruckter Schmutz und Schund beanspruchten nämlich knappe Papiervorräte:

Hand und Blick bannend auf Nummer 2 des Münchener “Neuen Magazins”, beklagte er die Kirchenblattverleger. Sie könnten ihre Sonntagsbotschaften nicht im als erforderlich betrachteten Umfang verbreiten, weil Magazine und Illustrierte das schöne Papier aufkauften.

(…)

Sie errechneten, daß in ihren bisher erschienenen Heften unter 456 Fotos 19 Ganz- und 10 Halbakte dargeboten wurden. Durchschnitt also drei Akte pro 96 Seiten Heftumfang.


Ebenfalls 1949 berichtete der SPIEGEL über einen verwirrenden neuen Trend aus Italien: kitischige Fotoromane. Die gibt es dort heute noch, aber sie konnten sich in Deutschland nie durchsetzen. Die Behauptung, Gina Lollobrigida hätte als Star dieser Kitschromanzen begonnen, konnte ich leider nicht verifizieren.


Schon in seinen ersten Jahren konnte der SPIEGEL sehr schöne, lange Lesestücke aufweisen, die teilweise erstaunlich wenig gealtert sind. So ist dieses Porträt von Peter Lorre aus dem Jahr 1950 weder vergilbt noch verknittert, sondern taufrisch und glänzend geschrieben:

Aber “Führers Liebling” dampfte mitten aus den Vorbereitungen zum Ufa-Film “Kaspar Hauser” nach Wien. Dorthin telegrafierte Ufa-Direktor Klitsch: “Sofort zu Goebbels kommen, Vertrag schließen”. Lorre drahtete zurück: “Für zwei Mörder wie Hitler und mich ist in Deutschland kein Platz”. Und blieb in Wien.


Mit Horror sah der SPIEGEL 1953 den “Supermarkt” kommen (die erste Erwähnung des Begriffes im Heft) und fürchtete die amerikanischen “malls”, die dem familiären Einzelhandel den Garaus machen werden. Es wurden Marx und Zola zitiert, um den Alptraum des “Massenbetriebs” in Szene zu setzen.

Nachdem der neue Merkurpalast, der etwa 30 Läden mittlerer Größe entspricht, den Kundenstrom angelockt hatte, merkten die kleinen Einzelhändler, daß “die Masse der gedankenlosen Käufer dahin läuft, wo sie sich ungeniert aufhalten kann und kaum besehene Dinge kauft, die sie normalerweise nie erwerben würde. Am gedankenlosesten kauft die Landbevölkerung”.

Schon faszinierend: der kleinen Lebensmittelladen wich dem Supermarkt, der kleine Supermarkt wich dem Kaufhaus und dem Gewerbegebiet am Rande der Stadt, das Kaufhaus weicht nun dem Online-Shopping. Alles fließt. Vielleicht werden in 30 oder 50 Jahren die Medien beklagen, dass der Online-Shop dem heimischen Replikator nicht das Wasser reichen kann: “Warum noch mühsam klicken und kaufen, was man auf Kommando daheim drucken lassen kann?!”


Mit dem Supermarkt kam auch der Rock’n’Roll nach Deutschland. Für die Musik und speziell ihren prominentesten Vertreter Elvis Presley hatten diverse zeitgenössische Artikel im SPIEGEL allerdings nur Häme parat:

“dümmelnder Rock ‘n’ Roll-Zitterer”, “Hüftenwackler”, “Hüftwackel-Champion”, “rhythmomanische Schlotterhose”, “amerikanisches Tamtam”, “Rock-and-Roll-Rotor”, “US-Schnulzier”, “amerikanischer Schreier”, “Erfinder eines modischen Veitstanzes”.


Ein weiteres schönes Lesestück erschien 1956 über die damals noch quicklebendige Agatha Christie:

Agatha Christies Täter liquidieren ihre Opfer ohne Lärm mit etwa den konventionellen Umgangsformen, mit denen man Bridge spielt oder Patiencen legt.


Die erste Erwähnung des Begriffs “Horrorfilm” stammt von 1959. Eine erstaunlich mühevolle und umfangreiche Sezierung des damals aktuellen Gruseltrends, die aber immer durchblicken ließ, dass sich Herr Redakteur nicht erklären konnte, warum man “so etwas” anschaut:

Ein Grund für die Rentabilität des Grauens ist, daß Darsteller meist durch Gipsfratzen, atavistische Haarbüschel und Fangzahn – Prothesen aller Menschenähnlichkeit beraubt werden: Infolgedessen können praktisch auch unbekannte Komparsen zum Tariflohn die Hauptrollen füllen.


Es dauert bis 1964, dass dem SPIEGEL der Erfolg der Beatles auffiel. In einem durchaus launigen Stück ging der Autor an die Grenzen seiner Kreativität – und darüber hinaus:

“Vier Liverpudel”, “kleine Struwwelpeter”, “trommel- und gitarrenschlagende Vier-Mann-Verbindung”, “mopköpfige Musikanten”, “britische Käfer”, “Teenager-Evangelisten”, “monoton singende, hopsende Seelen-Heuler”, “Sing-Sang-Knaben”, “Kellerkinder”.


Wir bleiben im Jahr 1964, denn damals kam beim Hamburger Nachrichtenmagazin explizit der Begriff der Verschwörungstheorie auf. Und damit meinte man die Mutter aller Verschwörungstheorien (wenn man von der jüdischen Weltverschwörung mal absieht): den Mord an John F. Kennedy, der damals von Hans Habe in einen größeren, weitgehend zusammen fabulierten Kontext gestellt wurde. Die Mechanismen und Zutaten sind allerdings geblieben: die korrupte, verseuchte Geldaristokratie, die jungen Weltenzerstörer, der tumbe Mob als Megaphon in den Straßen.


Der mutige Gallier Asterix war dem SPIEGEL erstmals 1966 eine Erwähnung wert – spannender ist allerdings dieser Rundumschlag von 1968, in dem man dem geneigten Leser das gesamte Prinzip Comic erstmal historisch aufarbeitet, bevor man erklärt, dass die Bildergeschichten durchaus und doch doch auch künstlerisch und politisch relevant sein können. Dennoch:

In einem einzigen, 120 Seiten starken Heft wurden drei Personen erwürgt, fünf erstochen, eine durch den Fleischwolf gedreht, eine lebend einbalsamiert, drei zu Tode gefoltert, eine in die Luft gesprengt, sechs erschossen, vier in Krokodile, Katzen oder Babys verwandelt. Außerdem war zu sehen, wie eine bereits beerdigte Frau ein Kind zur Welt bringt. Solche Horror-Orgien machen es den Comicologen schwer, die Strips als Kunst der Zeit zu verteidigen. Die Londoner “Times” stufte Comics generell als “Literatur der Analphabeten” ein; und das deutsche pädagogische Periodikum “Jugendschriften-Warte” verdammte die Bilderbogen als “Bilderdrogen” und erwartet, daß die Konsumenten der “Baby-Hieroglyphen” auf immer im “Lau-Alter” bleiben.


Ebenso interessant wie das, was der SPIEGEL schreibt, ist oft genug das, was er nicht schreibt. Oder wann er es schreibt. So kam der Begriff Umweltverschmutzung im Hamburger Magazin in den ersten 22 Jahren gar nicht vor, erst 1969 (!) erwähnte man das Wort in einem Artikel über eine Fachkonferenz. Der Beitrag zeigt auch sehr schön, was für ein faschistoides Gedankengut Gänsevater Konrad Lorenz in die Welt trug:

“Nur durch solche Unterwerfung gewinne auch in der menschlichen Gesellschaft der Vater jenes Maß an Autorität, das er braucht, um die “traditionellen Riten und Normen des Sozialverhaltens” seinen Kindern weiterzugeben. Da diese Autorität heute fehlt, sei “unsere Kultur mit sofortiger Auslöschung” bedroht.”


Ich war ehrlich überrascht, dass es vor dem deutschen Playboy ein Männermagazin gab, das eindeutig bei Hefner abschaute. Der US-Playboy verkaufte damals als englischsprachiger Import (!) 100.000 Ausgaben. Der SPIEGEL hatte zum Start nicht nur die Story über das Heft “m” – sondern auch über die Querelen im Hintergrund.


Die meisten Leser werden sich noch an die Einführung der DVD erinnern, einige vielleicht an die Einführung der CD, echte Veteranen sogar an die Einführung der VHS-Kassette. Aber wir reisen nun zusammen zurück ins Jahr 1971, dem Beginn des Triumphzugs der – Musikkassette! Dieser Artikel fasste sehr schön die Entwicklung und die Vorzüge des Mediums sowohl gegenüber der Schallplatte als auch dem amerikanischen 8 Track-System zusammen und thematisierte natürlich auch das noch in den Windeln liegende Problem der Raubkopien.

Der Optimismus der Tonband-Partei ist verständlich, denn die Schallplatte ist ein anfällig Ding: Sie leidet unter Staub und Schmutz, unter direkter Berührung und unter Wärme; ihre Sauberhaltung erfordert umständliche Sorgfalt, dennoch sind Rausch- und Knistergeräusche fast unvermeidlich, und — das Schlimmste — die Schallplatte nutzt sich ab: “Wenn eine Platte dreimal gespielt ist” dann ist der Lack ab”.


Wo wir gerade beim Thema sind: die erste Erwähnung der CD im Audio-Kontext drehte sich nicht um die Compact Disc, sondern 1973 um eine Aufnahmetechnik für die quadrophonische Schallplatte. Sie sollte sich – wir wissen es – nicht durchsetzen. Die “echte” CD erklärte das Magazin seinen Lesern ziemlich genau zehn Jahre später 1983.


1973 tauchte Atari erstmals auf dem Schirm des SPIEGEL auf (pun intended). Das Hamburger Nachrichtenmagazin zeigte sich verwirrt und überwältigt angesichts dieser neuen Entwicklung von “Tele-Spielen”. Ich bin mir nicht sicher, welches Zitat in der Rückschau bemerkenswerter ist.

Dieses?

In einem Einzelhandelsgeschäft in der Hamburger Milchstraße beispielsweise wurden allein in den ersten zehn Tagen 20 Stück (Preis: 389 Mark) verkauft.

Oder dieses?

Und nochmal 1973 (ein gutes Jahr, wie es scheint): Es mag für heutige Konsumenten kaum vorstellbar sein, aber es gab eine Zeit, da hielt man Talkshows für eine ganz tolle Sache und eine erfrischende Neuerung im Fernseh-Einerlei:

“Die Talk-Show ist in der Tat die unterhaltsamste Form von Exhibitionismus”

Talk-Shows als “letzte Refugien von Witz und Urbanität in der Wüste der TV-Spätprogramme”

Der Grund für die Euphorie? Der Start der ersten deutschen Talkshow nach amerikanischem Muster (in diesem Fall “The Dick Cavett Show”) – “Je später der Abend…” mit Dietmar Schönherr. Die lief dann bis 1978.

Schönherr selbst erklärte seinem Publikum das brandneue Konzept übrigens so:

“Wir machen heute eine so genannte Talkshow. Was sie ist, das wissen Sie nicht – und wir auch nicht so genau. Denken Sie nicht, dass eine Talkshow das Gegenteil einer Nachtshow ist; Talk kommt von to talk, reden, das Ganze ist also eine Rederei.” 

Übrigens wurde die als Inspiration angeführte Dick Cavett-Show in den 70ern ebenfalls immer wieder mal im Nachtprogramm der Dritten Programme ausgestrahlt, ähnlich wie David Lettermans Late Night Show in den 90ern bei RTL2.



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Danton
Danton
5. Juni, 2020 18:24

Aus dem Lorre-Artikel:

Am Schiffbauerdamm spielte der plötzlich Vielbegehrte einen Soldaten in Elisabeth Hauptmanns “Happy-End”. Damit Lorre auch den General St. Just in Büchners “Dantons Tod” auf der Volksbühne spielen konnte, ließ Brecht den “Happy End”-Soldaten textwidrig im ersten Akt erschießen.

“Da fuhr ich als nackter Mann in einer Taxe durch Berlin”, entsinnt sich Lorre. Umkleidung und Beförderung zum General fand in der Taxe statt.

Sensationell.