20
Nov 2020

OK Boomer: Willkommen in der Shitstorm-Demokratie

Themen: Film, TV & Presse, Neues |

Ich hatte gedacht, dass es allein schon statistisch wahrscheinlich sei, dass irgendwann einer dieser Beiträge der Journalistenschule einen validen Gedanken zur Grundlage hätte. Oder wenigstens einen dummen Gedanken, der stringent ausformuliert ist. Es kann doch nicht sein, dass ich so mühelos JEDES Essay auseinander nehmen kann, JEDEN einzelnen Satz.

Here we go again…

Der demokratisierende Effekt von Shitstorms

Ein Hammer-Titel, ich gestehe es. Eine provokante These. Und ich würde mich auf den folgenden Text freuen, wenn ich auch nur eine Sekunde lang glauben würde, dass nun eine plausible Argumentation folgt.

Die Debatte um Cancel Culture im Journalismus ist unehrlich – und lenkt ab. Die akute Gefahr für Presse- und Meinungsfreiheit liegt anderswo. – Von Theresa Crysmann

Ich will hier kein großes Fass aufmachen, aber mich in ein paar Sätzen erklären. Ich gehöre zu jenen, die in der Tat an eine Cancel Culture glauben. Sie ist, wie die #metoo-Bewegung, eine hoch politische und politisierte Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die weniger auf Diskurs und Einigung setzt als auf Diskreditierung und Ausgrenzung. Im Gegensatz zu #metoo wird die Cancel Culture oft als substanzloser Versuch einer Mundtotmachung empfunden, weshalb ihre Befürworter sich entschlossen haben, sie als “gar nicht wirklich existent” aus der Schusslinie zu nehmen. Jeder Versuch, eine öffentliche Hinrichtung für das von einer Minderheit empfundene “Vergehen” zu kritisieren, wird mit einem süffisanten “gibt’s doch gar nicht” abgewunken. Das entspricht der Logik, dass wir in Deutschland keine Zensur haben können, weil diese im Grundgesetz ausgeschlossen wird. Dagegen glaube ich, dass wir in der Tat in einer hypersensiblen Zeit leben, in der schon ein falscher Tweet, ein missverständlich gebrauchtes Wort oder eine falsche Handbewegung zur totalen Ächtung führen können. Es gibt kein Zurück, jede Erklärung wird zu einer Entschuldigung umgedeutet, jede Entschuldigung zu einem Geständnis. Ob es eine konkrete Cancel Culture mit festgelegten Regeln und Hintermännern gibt, vermag ich nicht zu sagen – aber dass es die Mechanismen gibt, ist unbestreitbar.

Und darum auch hier – die Debatte über Cancel Culture ist unehrlich. Weil: gibt es ja eigentlich nicht. Es gibt nur absolut saubere Kritik an gesellschaftlichen Missständen. Sicher. Wenn aber die “akute Gefahr” woanders liegt, warum muss die Cancel Culture dann hier erwähnt werden? Schauen wir mal…

Der Wolpertinger im Jahr 2020 heißt „Cancel Culture“. Gibt es sie, oder gibt es sie nicht, diese linksliberale Meinungsdiktatur, die Abweichler*innen mundtot macht?

Wie schön, dass die Autorin schon in der Formulierung der Frage keinen Zweifel an der Antwort lässt.

Die Frage dreht auch im Journalismus ihre Runden, und wir uns im Kreis. Denn hauptsächlich ist die Debatte eines: laut. Die einen schreien „rechte Rhetorik”, die anderen „Totalitarismus”.

Ich darf nicht hoffen, dass zwischen den Zeilen nach einer ausgewogenen Position gesucht wird, die der Wahrheit näher kommt? Nein:

Auch dieser Text macht es bestimmt nicht jedem recht. Muss er auch nicht.

Wenn’s eh wurscht ist…

Beim sogenannten „Appell für freie Debattenräume” geht es ebenfalls genau darum: sich nicht anbiedern zu müssen. Angeblich herrsche in Deutschland nämlich eine „aktuell besonders freidrehende Lösch-, Verhinderungs- und Absagekultur”, wie der Mitinitiator und ehemalige NZZ-Kolumnist Milosz Matuschek neulich bei Deutschlandfunk Kultur zusammengefasst hat. Eine Cancel Culture eben.

Grundlagen, Frau Crysmann, Grundlagen – wäre denn, wenn Sie unbedarften Lesern den Kontext des Appells schon nicht erklären mögen, ein Link zur Wikipedia zu viel verlangt gewesen? Hier, schenke ich Ihnen.

Wer daran vermeintlich schuld sei, sagt der Appell nicht.

Weil es nicht um Schuld geht, sondern um eine gesellschaftliche Entwicklung, die von den Unterzeichnern als schädlich wahrgenommen wird. Damit kann man sich auseinander setzen – oder fragen, wer denn nun schuld sei.

Fast der ganze Aufruf steht im Passiv. Der Fingerzeig auf einen „Ungeist, der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff ” nehme, ist dabei noch das Konkreteste. Auch die Beispiele sind generisch. Explizit sind allein die Journalist*innen, die unterschrieben haben: nicht nur, aber auch die Don(na) Alphonsos der deutschsprachigen Medienlandschaft.

Es würde null Sinn machen, einen Aufruf nur anhand von ein paar konkreten Einzelfällen zu initiieren, weil es dann sofort hieße: “Das sind ja nur Einzelfälle”. Hier wird gegen ein wahrgenommenes Klima angeschrieben, und man muss die Einschätzung des Appells nicht teilen, um sie ernst zu nehmen und sich mit ihr auseinander setzen zu wollen.

Genau genommen sind ALLE bisherigen Beiträge von der Journalistenschule ebensolche Appelle, vage Beschreibungen eines vorgeblich schädlichen Status Quo, den “die da oben” zu verantworten haben und dem “wir” entgegen treten müssen. Ich könnte jede hier geäußerte Kritik auf die Autorin und ihre Kolleginn*en zurückwerfen.

Und fast alle unter ihnen sind Kolleg*innen, die es gewöhnt sind, gehört und gelesen zu werden, in Fernseh-Talk-Runden zu sitzen, die publizistische Ausrichtung von Redaktionen vorzugeben oder entscheidend mitzuprägen.

Hier ist wieder dieser Postenneid. Jemand, der was zu sagen hat, der gehört wird, der eine Marke darstellt, ist als Säule des ungerechten Systems irgendwie suspekt. Als wäre die prominente Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs ein Grund, von genau diesem ausgeschlossen zu werden. Hier spricht ein ganz kleines Wesen, und an dem wird sicher nicht die Welt genesen.

Ihre Expertise und Stellung könnten sie für eine Debatte über den Status von Presse- und Meinungsfreiheit besonders qualifizieren.

Eben. Aber?

Vielleicht disqualifiziert sie aber beides.

Und warum?

Denn dass sich Menschen online zusammenfinden und abseits von Leserbriefseiten, Stammtischen und Unterschriftenaktionen öffentlich Kritik äußern und Konsequenzen fordern, verschiebt das Machtgefüge in den Medien.

Das ist keine Erklärung, warum die prominenten Medienmacher für die Diskussion um Presse- und Meinungsfreiheit disqualifiziert sein sollten.

Zu Ungunsten jener, deren Popos auf Intendanten-Sesseln, in Chefredaktionen oder in Kuratorien sitzen.

Ich sehe momentan nicht, dass sich das Machtgefüge zu Ungunsten der Intendanten und Chefredakteure verschoben hätte. Der Plärrer in der Kommentarspalte kann Julian Reichelt immer noch nix und der fleißigste Blogschreiber kriegt auch nicht von einer Verlegerwitwe eine Milliarde Euro geschenkt. Da ist der Wunsch der Vater (die Mutter?) des Gedankens.

Shitstorms als demokratisierende Megafone und ausgleichende Gerechtigkeit

Es grenzt schon an kackfrech, die Existenz der Cancel Culture in Zweifel zu ziehen, gleichzeitig aber die unschöne Sitte der Shitstorms für demokratisierend, ausgleichend und gerecht zu erklären. Muss ich daran erinnern, dass der Begriff wortwörtlich meint, dass ein Haufen Scheiße geschmissen wird?! Der Shitstorm ist die unproduktivste Form der öffentlichen Kritik und wird nur deswegen so gern angewandt, weil er das ist, was Crysmann oben noch kritisiert: laut.

Der Appell gegen den shitstormenden Mob ist vor allem ein vorhersehbarer Reflex.

Alder! Abgesehen davon, dass Shitstorm ein sehr negativ konnotierter Begriff ist, wird der “Mob” nun auch noch zum gesunden Volkskörper aufgewertet. Wenn ich mal kurz Wikipedia zitieren darf:

Der Ausdruck Mob (englisch mob „aufgewiegelte Volksmenge“, von lateinisch mobile vulgus „reizbare Volksmenge“[1]) bezeichnet meist pejorativ eine Masse aus Personen des einfachen Volkes bzw. eine sich zusammenrottende Menschenmenge mit überwiegend niedrigem Bildungs- und Sozialniveau (abwertend auch gemeines Volk, Pöbel, Plebs, Gesindel, Pulk, Schar genannt). In der englischen Sprache wird diese Originalbezeichnung Mob auch für eine Bande bzw. für die Bandenkriminalität verwendet;[2] in den USA auch für die Mafia.

Der Mob ist das Pack, ist Pegida, Neonazi-Aufmärsche, Asylantenheim-Anzünder. Sich diese Bezeichnung zu eigen zu machen, ist ein Ausrutscher, der schon wieder für einen Shitstorm gut wäre.

Ein unbeabsichtigtes Selbstbekenntnis derer, für die es lange wie selbstverständlich war, ihre Meinungen mehr oder weniger unangefochten in alle Kanäle zu blasen.

Ja, da ist sie wieder, die Verkennung des Marktes und seiner Mechanismen, wie sie bei den heutigen Salon-Sozialfeministinnen üblich ist. “Unangefochten”? Nein, die Meinungen waren immer anfechtbar. Nicht nur von Kollegen der Konkurrenz, sondern vom Leser, dem es oblag, das kritisierte Geschreibsel schlicht nicht mehr zu kaufen. Der Kunde hat nicht erst heute die Macht, das Geschwurbel von Wagner oder Poschardt zu kritisieren. Früher machte er das aber nicht in Kommentarspalten, sondern am Kiosk. So bildet die Presse mittelfristig das Volk ab. Und das ist gut so.

Ich glaube übrigens erneut, dass die Autorin den Einfluss der Sphäre, in der sie sich aufhält, massiv überschätzt.

Twitter, Youtube, Blogs und Insta zwingen sie, sich mit kritischen Leser*innen, Zuschauer*innen, Hörer*innen und Kolleg*innen wirklich auseinanderzusetzen.

Twitter, YouTube, Blogs und Insta zwingen die Machtelite zu gar nichts, schon gar nicht “wirklich”. Im Gegenteil: sie lassen sich wiederum perfekt als Propagandainstrument missbrauchen – da braucht man sich nur mal den Twitter-Feed des noch aktuellen US-Präsidenten anzusehen.

Den naiven Glauben, die neuen Kanäle wären in irgendeiner Form tendenziell dem demokratischen Prozess förderlich, finde ich erschütternd.

Sie beklagen, es gebe keinen Raum für freie Debatten mehr. Dabei kommt der Verdacht auf, dass ihnen schlicht die Debatten nicht passen, die tatsächlich geführt werden, nämlich die Diskussion über ihre Ansichten.

Das ist besonders drollig von der Autorin einer Generation, die über nichts anderes mehr redet als ihre Ansichten. Denn es ist in der Tat so, dass es kaum noch Diskussionen über Inhalte gibt, die vielleicht mit einem Kompromiss enden könnten. Es geht nur noch um Haltung, um Befindlichkeit, um Verortung. Wie fühle ich mich? Wie präsentiert sich der andere? Hat er jemals was gesagt oder getan, was ihn diskreditiert? Kann ich ihn argumentativ ausschalten, noch bevor er etwas sagt? Und auch wenn ich den “Appell” für albern halte, sehe ich sehr wohl das Problem der Ausgrenzung wegen falscher Gesinnung, Meinung, Geschlecht, oder Parteibuch. Weil ein circle jerk immer noch einfacher ist als der tatsächliche Versuch, sich bei der Diskussion mit der Gegenseite Schrammen am Weltbild zu holen.

Case in point: KEINER der von mir kritisierten Autoren der Journalistenschule hat auch nur versucht, sich mit meinen Textanalysen auseinander zu setzen oder gar eine Diskussion zu führen. Sie ducken sich weg, weil sie die Kritik genau so gemein finden und genau so wenig vertragen wie die, denen sie angeblich mutig entgegen treten.

Möglich ist das nicht nur, weil der Journalismus diverser wird. Sondern vor allem, weil unsere Rezipient*innen uns dank des Internets direkt zur Rechenschaft ziehen können. Und wie.

MWAHAHAAAA!!! “Zur Rechenschaft ziehen?” Ist die Leserschaft neuerdings der Volksgerichtshof? Und was soll dieses verlogene “uns”, wenn Crysmann doch selbstverständlich wieder nicht sich selber meint, weil sie sich ja nichts vorzuwerfen hat? Wo haben wir denn Poschardt zur Rechenschaft gezogen, Reichelt, und all die anderen, die die Diskussion vergiften und Öl auf das Feuer der Konflikte gießen? Hat denn nicht ein Kollege aus dem eigenen Haus Claas Relotius entlarvt? Wo sind denn die großen Siege der “Rezipient*innen” gegen den korrupten Journalismus, als dessen Teil Sie sich bezeichnen, für den Sie aber nicht mit verantwortlich sein wollen, Frau Crysmann?

Von Online-Plattformen schwappt die Diskussion ins Analoge. Soll sie auch. Vorbei die Zeit, in der Leser*innenbriefe der einzige Feedback-Kanal waren – unilateral und, je nach Laune und redaktioneller Linie, auch leicht zu ignorieren.

Ja klar, wunderbar. Der Leser kann sich Gehör verschaffen. Endlich. Ein Sturmgeschütz der Demokratie. Kann man in jeder Kommentarspalte beim SPIEGEL und bei MIMIKAMA sehen, wo die Verantwortlichen von Nazis, Anti-Vaxxern, Flacherdlern und Corona-Leugnern “zur Rechenschaft gezogen” werden.

Während wir gerade viel Sendezeit und noch mehr Zeilen auf die Diskussion der angeblichen Cancel Culture verwenden, gibt es auch handfeste Gründe, sich um die Presse- und Meinungsfreiheit zu sorgen.

Es ist dasselbe. Sie wollen das nur nicht sehen.

Übergriffe auf Journalist*innen häufen sich online und offline, finanzielle Zwänge in der Medienbranche machen zunehmend ausgeklügelte Advertorials und einen vorauseilenden Gehorsam gegenüber vermeintlich kapriziösen Abonnent*innen wahrscheinlicher. 

Die Angriffe sind Teil des Shitstorms, den Sie ebenfalls noch als “demokratisierendes Megafon” bezeichnet haben. Aber nur, wenn die Scheiße von der richtigen Seite kommt, gelle? Man möchte ja selber nicht stinken.

Siehe, nun mutiert der demokratisierende shitstormende Mob plötzlich zu “kapriziösen Abonnent*innen”, denen man sich im vorauseilenden Gehorsam unterwerfen muss. Kann hier IRGENDWAS mal durchgehend definiert werden?!

Darüber sollten wir reden.

Erwartungsgemäß – nicht hier.

Und noch etwas zum Verhältnis von Cancel Culture und Fabelwesen: Angeblich fraß der Wolpertinger am liebsten Weichschädel. Ich denke, das kann man so stehen lassen.

Am Ende bleibt, die Frage, warum ausgerechnet ein Shitstorm eine demokratisierende Wirkung haben sollte, natürlich unbeantwortet. Und ich warte weiter auf einen Beitrag der Journalisten-KiTa, der mich nicht fassungslos den Kopf schütteln lässt.



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Galaktika
Galaktika
20. November, 2020 07:38

Würdest du mit mir so weit gehen zu konstatieren, dass das von allen (fünf?) bisher hier sezierten Texten der schlechteste war? Fast kommt es mir so vor. Allerdings fählt die Wahl da echt schwerer als an der Mochi-Bar im Asia-Laden.

Allerdings ist es fast schon spannend mit anzuschauen, wie der Begriff “shitstorm” zuletzt eine Umdeutung ins Positive erfahren konnte. “Jemand sagt etwas, dass uns nicht passt? Lasst uns ihn fertigmachen.” Das ist eins zu eins von vermutlich allen Schulhöfen der Welt in die Erwachsenen(?)-Welt übertragen. Nicht jung und erfrischend, sondern unreif und gemein.

Shitstorms verschieben die Maßstäbe. Weil alles, wirklich alles skandalisiert und schrillstmöglich niedergeschrieen wird, bleiben kaum noch erhöhte Empörungsniveaus übrig für die wirklich großen Dinge.

Was mich mehr als alles andere stört: Ja, auch die Mächtigen (denkt euch beliebig viele Anführungszeichen dazu) sind Menschen, und machen als solche Fehler. Sagen Dinge, die sie so nicht hätten sagen wollen. Aber eins haben sie jedem Shitstorm-Mitbrüller weit voraus: Sie sagen sie unter ihrem eigenen Namen, und ohne den Schutz einer Masse von Mitbrüllern.

Dass man infolge der Shitstorm-Unsitte von vielen Menschen zu bestimmten Themen nur noch Phrasen hört, auf Unangreifbarkeit optimiert, ist ein äußerst unschöner Nebeneffekt, schlimmer bleiben aber einfach die direkten Folgen, wenn jemand öffentlich mit Scheiße beworfen wird.

comicfreak
comicfreak
20. November, 2020 08:43
Reply to  Galaktika

OT: ich stehe da auch immer 15 Minuten und überlege, ehe ich dann doch wieder die mit grünem Tee nehme ^^

Last edited 3 Jahre zuvor by Torsten Dewi
Mencken
Mencken
20. November, 2020 09:34
Reply to  Galaktika

Ich halte das eher für den besten der bisher vorgestellten Texte. Immer noch mit teils erheblichen Schwächen, aber zumindest sehe ich hier durchaus Potential.

Galaktika
Galaktika
20. November, 2020 10:04
Reply to  Mencken

Ich sehe hier nur Potenzial, mich unfassbar zu ärgern. Inhaltlich, was das dahinterstehende Selbstverständnis angeht, und handwerklich. Nur ein Beispiel, ganz aus dem Anfang:

Gibt es sie, oder gibt es sie nicht, diese linksliberale Meinungsdiktatur, die Abweichler*innen mundtot macht?

In diesem Satz wird ein Strohmann aufgebaut. Gegnern von Cancel Culture wird eine Äußerung untergeschoben, die aus dem äußerst rechten Argumentekistchen kommt. Dadurch werden Gegner von Cancel Culture wenig subtil ganz rechts verordnet.

Und genau in diesem ja Andersdenkenen untergeschobenen Argument wird dann aber doch das Gender-Sternchen verwendet, was diese natürlich nie verwenden würden? Sie traut sich also als Pseudozitat geifernden Stuss von “linksliberaler Meinungsdiktatur” einzubauen, gendert aber pflichtschuldig durch?

Entschuldige, hier sehe ich nur ein großes schwarzes Loch, und zwar da, wo sowohl Debattenkultur als auch da wo Beherrschung des Handwerkszeugs sein sollte.

Mencken
Mencken
20. November, 2020 11:45
Reply to  Galaktika

Den Satz halte ich für eine klar ironische rhetorische Frage (deshalb auch das eigentlich ja unpassende Gendersternchen und der Wolpertinger), passend zum provokanten (Thesen) Titel. Mehr würde ich da aber auch nicht reinlesen wollen, denke nicht, dass hier Gegnern unterstellt werden soll, sie würden aus der “ganz rechten Ecke” kommen, die Autorin unterstreicht lediglich, für wie albern und fehlgeleitet sie die Debatte um Cancel Culture hält.
Würde ich so auch nicht machen und ist natürlich handwerklich auch besser zu lösen, aber für mich durchaus noch im Rahmen des Vertretbaren.

Mencken
Mencken
20. November, 2020 13:54
Reply to  Torsten Dewi

Da stimme zu, der gesamte Mob-Abschnitt ist komplett misslungen. Ich vermute, die Idee war, den Begriff positiv zu besetzen, aber das funktioniert in dieser Umsetzung natürlich überhaupt nicht. Was davor (und mit Abstrichen) kommt, halte ich aber als polemische formulierte Meinung durchaus noch für vertretbar, auch wenn ich diese Meinung weder teile noch für sonderlich gut begründet halte.

S-Man
S-Man
20. November, 2020 23:08
Reply to  Galaktika

Also ich gehe voll mit. Bei den anderen habe ich wenigstens noch verstanden, was sie sagen wollten, auch wenn das alles recht krude und weltfremde Ansichten waren. Aber bei diesem Artikel hier muss ich ehrlich zugeben, habe ich nicht einmal verstanden, was die Autorin mir versucht zu sagen. Eine Aneinanderreihung von Wörtern, deren zusammenhängender Sinn mir unerschlossen bleibt. Und dann kommt irgendwann ein Punkt und erlöst mich von diesem “Satz”.

Aber ich gebe auch zu, dass ich schon bei diesem ganzen Cancel Culture Zeug drüben bei Twitter schon nicht verstanden habe, worum es geht und wer sie Guten sind und warum.

Last edited 3 Jahre zuvor by S-Man
comicfreak
comicfreak
20. November, 2020 08:42

Alter, das wird echt immer übler

Goran
Goran
20. November, 2020 13:58

Rechtfertig die Autorin mit der Shitstormpassage nicht plötzlich auch die Querdenkerdemonstrationen? Mob schreit, Mob ist nicht privilegiert, also hat Mob recht, oder wie?

Meine Güte, was für ne unreflektierte Scheisse.

Dinozeros
Dinozeros
20. November, 2020 14:10

“Hier spricht ein ganz kleines Wesen, und an dem wird sicher nicht die Welt genesen.”

Sehr schön!

Nun, die Kinder schreiben arg gleichförmig. Selbst die rhetorischen Muster sind identisch – und banal. Schwarmintelligenz kann eben doch “ne Horde Guppies sein, die sich um ein Brötchen balgt. Größere Gedankenkonstrukte Fehlanzeigr, bloß Mätzchen wie die Shitstorm-Umdeutung. Das ist sehr “gähn”, ihre Lehrer sollten mehr einfordern. Oder, fetter Twist, ihr brecht eure Formel auf und schwimmt euch frei, Schüler. Gute Orchester bestehen nicht nur aus Volltröten.

Dinozeros
Dinozeros
20. November, 2020 15:12
Reply to  Torsten Dewi

Ich muss gestehen, dass mich die aktuelle soziokulturelle Entwicklung auch happy macht: Wir werden im Alter in einem Erler-Film leben. Cool shit.

Was mag es geben? Echtzeit-Downvotes mit Tageswertung, die im Retina-Display angezeigt wird und Grundrechte definiert?

Unmoralisch in der U-Bahn geguckt – Downvote von der grässlichen Alten gegenüber. Taube gefüttert – verboten, fünf Dislikes. 10 Dislikes und die Supermarkt-Tür bleibt für dich heute zu. Meinungsmonarchie. Irgendwo schwebt Sean Connery halbnackt im Steinkopf drüber.

Der Schwarm durchdringt alles und jeden. Das ganze Land ein Scheiterhaufen und wir haben alle rote Haare.

Ich werde mein Landhaus mit Stacheldraht abriegeln und jeden klingelnden Kackvogel umlegen, der nichts mindestens Moralstufe “heilig” hat.

Sci-Fi. Wir leben drin.

AlphaOrange
AlphaOrange
20. November, 2020 15:43
Reply to  Dinozeros

Siehe Black Mirror – “Nosedive”.
Keine der guten Folgen, aber exakt die Dystopie, die du hier beschreibst.

Dinozeros
Dinozeros
20. November, 2020 17:41
Reply to  AlphaOrange

Mir beides unbekannt, aber könnte man mal gucken. Danke.

Dietmar
20. November, 2020 20:22
Reply to  Torsten Dewi

Grandios! 😀

Mr. D
Mr. D
27. November, 2020 09:02

In der TAZ (wer ist überrascht? ich bin es eher nicht) ist zum Thema JK Rowling ein Begriff in die Welt geworfen worden der Cancel Culture (deren Existenz dort nicht einmal geleugnet wird) meiner Meinung einen legitimen Anstrich geben soll: “Meinungsverantwortung”.

https://taz.de/Transgender-mit-Leib-und-Seele/!5714351&s=meinungsverantwortung/

Mr. D
Mr. D
27. November, 2020 10:22
Reply to  Torsten Dewi

Jupp, das hat mich auch schwer schlucken lassen.
Wenn das ein “Fakt” ist dann möchte ich dazu gerne mal belastbare Daten haben.

Meine persönliche Erfahrung ist leider, dass die Frage nach irgendwas handfestem nur mit “wenn du das fragst dann bist du Teil des Problems” quittiert wird.
Es scheint sich bei dieser Weltanschauung um eine in sich geschlossenen Blase zu handeln.