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Jul 2017

Flashback: Bravo 1978

Themen: BRAVO!, Film, TV & Presse, Neues |

Selbst Kai Meyer meinte neulich in einem Facebook-Kommentar, ich sei ein Nostalgiker – mittlerweile kommen mir plausible Gründe abhanden, das zu bestreiten. Je älter man wird, desto größer ist die Zahl der Jahr(zehnt)e, auf die man zurückblicken kann – und desto größer wird die Zahl derer, die diese Jahr(zehnt)e nicht erlebt haben. Das Leben drängt mich fast zwangsläufig in eine “zu meiner Zeit…”-Position.

Gestern zum Beispiel. Da haben wir für eine Reportage ein saucooles Shabby Chic Café mit zugehörigem Antiquitätenhandel besucht. Und was liegt da in einer Scheune? Eine gut erhaltene Bravo von November 1978:

Pflichtbewusst habe ich jede einzelne Seite fotografiert und in ein PDF umgewandelt. Die gesamte Ausgabe mit knapp 40 Megabyte findet ihr hier.

Die Lektüre des Heftes ist ein großartiger Trip zurück in die 70er, nicht nur was den Zeitgeist angeht, sondern auch die Sprache, die Popkultur, die Jugend und den Journalismus. Hier ist vieles falsch, vieles richtig, aber vor allem vieles noch anders.

Bezeichnend, dass das Poster von Ingrid Steeger fehlt. Ich bin sicher, das hat einem hormonwütenden Boy anno 1978 durch die Pubertät geholfen…

Wer sich nicht durch das komplette Heft wühlen will, dem kann ich folgende Details zur Rezeption und zur Diskussion ans Herz legen:

  • Seite 3: Harte Jungs wurden 1978 noch als “kess” bezeichnet – Jeff Conaway spielte später übrigens bei “Babylon 5” und starb nach jahrelangem Drogenmissbrauch
  • Seite 4/5: Der “Enthüllungsreport” über “Mädchen in Kneipen” ist ein selten schmieriges Stück Altherrenjournalismus
  • Seite 6/7: Metal-“Neuentdeckung” Van Halen. Es überrascht, wie viele Acts von 1978 heute noch in einer oder anderer Form aktiv sind: Van Halen, Meat Loaf, AC/DC, etc.
  • Seite 8: Das Porträt von Ingrid Steeger hätte 1:1 auch so in der Neuen Revue stehen können.
  • Seite 9: Kassettenrekorder als Köder für eine Mitgliedschaft im Buchclub – fies!
  • Seite 10-13: Ich hätte nicht gedacht, dass Gottschalk, Ochsenknecht und Semmelrogge 1978 schon “name stars” waren! Erstaunlich viele Science Fiction-Darsteller auf der Liste.
  • Seite 14-17: Bravo macht Politik – deutsche Schüler haben in der Mehrheit nichts gegen Nazis und Kommunisten als Lehrer. Die These, dass frühere Generationen besser gebildet waren, können wir wohl ad acta legen. Als politischer Kommentator: eine Birne.
  • Seite 18/19: Der alternde Sexberater des “Gong” lässt sich über die Sexualität der 11-15jährigen aus. Aus heutiger Sicht leicht eklig, zumal sich Bornemann später wegen einer jungen Frau das Leben nahm.
  • Seite 24/25: Who the fuck is/was Supermax?
  • Seite 26-28: Im Foto-Liebesroman gibts Petting – sagt man das heute noch so? Ich habe mal gelesen, dass der Sänger von Spandau Ballet auch als Model in solchen Geschichten angefangen hat.
  • Seite 30/31: Eine Wega-Doppelseite mit unfassbarem Technobabble.
  • Seite 33-39: Irgendein Elvis-Fan hat in Graceland auf den Auslöser seiner Klickklack-Kamera gedrückt. Diese Souvenir-Fotos würde heute niemand mehr ernsthaft abdrucken – schon gar nicht über mehrere Seiten.
  • Seite 40: Dr. Sommer: “Alle hänseln mich mit Bampelschnut” – what the what now?!
  • Seite 42/43: Aus der Reihe “Filme, die nur im Korridor von 1975 bis 1985 entstehen konnten”: “Popcorn und Himbeereis” mit Non-Talent Benny Schnier und der süßen Olivia Pascal, die hier allerdings wie kurz vor dem goldenen Schuss aussieht. Bravo-typisch wird mal wieder der ganze dünne Plot verraten.
  • Seite 45: Torfrock hat sich also “innerhalb eines halben Jahres zu den erfolgreichsten in Deutschland” hochgespielt. Nur das “zu WAS” fehlt…
  • Seite 50: “Bravo-Leser machen Witze” – leider nein.
  • Seite 54/55: Starschnitt “Status Quo” – etwas Tweed-Weste gefällig?
  • Seite 58: Schaut in die Kleinanzeigen – genau dieser Job als Zeitschriftenbote war mein erster Nebenverdienst mit 13 oder 14 Jahren.
  • Seite 58: “You’re the greatest lover” von LUV ist genau der Song, der eine Übersetzung brauchte. What’s next – “Fly, robin, fly”?
  • Seite 59: Die Charts von 1978 lesen – und staunen.
  • Seite 62: Drei Programme mit dem ausgesuchten Programm aus drei Jahrzehnten – findet die Perlen!
  • Seite 63: Ich habe fünf Jahre für den “Gong” gearbeitet und selbst mir ist neu, dass neben Enterprise und Star Wars auch Galactica zum Fotoroman verwurstet wurde.
  • Seite 66/67: “Mädchen testen Mofas” – kannste dir nicht ausdenken.
  • Seite 70/71: “AC/DC: Da schmoren die Ohren” – immer noch eine Hammer-Titelzeile!
  • Nur Bravo konnte einem Artikel über australischen Hardrock ein Poster von den Gebrüdern Blattschuss als Heftabschluss folgen lassen!

Wie kann man bei solchen Bildern und Texten NICHT nostalgisch werden?!

Ich glaube, ich muss bei Ebay nach einem weiteren Stapel alter Ausgaben schauen…



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22 Kommentare
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Andreas
Andreas
27. Juli, 2017 08:19

Und nicht vergessen: http://www.vongestern.com lesen 🙂 Denn dort finden sich einige Bravo-Fotostorys und andere unvergessene, ähh, Perlen. Hach ja

Jake
Jake
27. Juli, 2017 09:36

“Bezeichnend, dass das Poster von Ingrid Steeger fehlt. Ich bin sicher, das hat einem hormonwütenden Boy anno 1978 durch die Pubertät geholfen…”

Dem ausgefüllten, nicht abgeschickten Stimmzettel auf Seite 13 nach zu schließen, hing das Poster im Kinderzimmer einer gewissen Viola. Sie wollte die Frau Steeger sogar zum weiblichen Fernsehstar des Jahres wählen. Und wie eine kurze Recherche meinerseits ergab, hat es die gute Ingrid erfreulicherweise auch ohne Violas Stimme zum Sieg geschafft.

Michael S.
Michael S.
27. Juli, 2017 10:53

Moin. Ebay brauchste nicht. Kiekste mal hier: http://www.bravo-archiv.de. Edit: Sorry, ich war etwas vorschnell, die wollen Geld. Irgendwo gab es aber ein kostenloses Archiv. Ich suche mal.

Der große Dharma
Der große Dharma
27. Juli, 2017 13:08

Beim Überfliegen des Covers dachte ich erst “Wie geil ist das denn, David Lee Roth testet Mofas?” 🙂

Sigur Ros
Sigur Ros
27. Juli, 2017 13:48

Hach ja, solche Zeitreisen sind wirklich herrlich – durch alte Ausgaben von Bravo oder Spiegel zu blättern wird nie langweilig und verrät mehr über den Zeitgeist der vergangenen Jahrzehnte als jeder Film und jedes Geschichtsbuch je könnten. Ob die Jugend und speziell die Bravo damals wirklich besser waren als heute, mag ich nicht beurteilen, anders war sie damals aber definitiv. Besonders die “gesellschaftskritischen” Artikel sind echt interessant – der über Mädchen in der Kneipe ist echt ein Meisterstück des reißerischen Schmierenjournalismus, und der über Nazi- und Kommunisten-Lehrer ist auch interessant und zeigt, dass die Angst vor Alt-(und Neo-)Nazis damals noch ebenso groß war wie die Kommunisten-Paranoia.

Dietmar
27. Juli, 2017 18:28

Das ist ja cool: Jetzt weiß ich, dass ich mit zwölf Jahren das erste Mal “Zwölf Uhr Mittags” gesehen habe. Ich kann mich noch erinnern, dass ich danach im Zimmer verschwunden bin und den Titelsong stundenlang nachspielte.

Jake
Jake
27. Juli, 2017 20:50

@Torsten: Da keine gesicherten Erkenntnisse über die Existenz eines älteren Bruders mit überbordendem Hormonhaushalt existieren, bleibe ich skeptisch und verfechte weiter meine These von der braven Viola, die mit kindlicher Unschuld ihren großen Fernsehstar anhimmelt. Unter “642 things to write about”-Gesichtspunkten (“Schreibe eine Geschichte über ein Ingrid Steeger-Poster aus der Bravo.”) würde ich allerdings ebenfalls Deinen deutlich amüsanteren Storyansatz wählen. 🙂

invincible warrior
invincible warrior
28. Juli, 2017 06:03

Meine Recherche ergab, dass es mindestens zwei Leser gab, wie man an den Schriftproben im Kreuzwortraetsel erkennen kann (sie schreibt I wie J). Viola hat da nur paar klaegliche Versuche wie Ziehharmonika gemacht. Die andere Handschrift deutet imo aber auch nicht auf einen Herren, jedoch eine aeltere Person, hin.

Bei der Otto-Wahl war ich ueberrascht, dass ich viele der Stars so ueberhaupt nicht kenne. Bei anderen wie sie sich veraendert haben. Und dann Sasche Hehn, der sich bis aufs Alter nicht wirklich geaendert hat.

Auch bei den Charts vieles, was heute vergessen ist. Bei den deutschen Liedern erkenne ich erst bei Kreuzberger Naechte was wieder, die internationalen immerhin das Lied von Travolta/Newton John. Supermax ist dann nach einer Youtuberecherche dann immerhin bewusst in Vergessenheit geraten, hoffentlich mit Baggern begraben.

Deinen Kommentar zu Bornemann finde ich allerdings etwas komisch. Immerhin ist der Herr ein anerkannter Sexualforscher gewesen. Besonders wegen seines Selbstmords, immerhin war seine damalige Partnerin auch schon 38, also selbst zum Erscheinen dieses Heftes laengst ueber 18. Er ist ja nun bei weitem nicht der einzige, der ne Juengere hat.

zitronenschwarz
zitronenschwarz
28. Juli, 2017 08:41

Au Mann – vielen Dank für den Rückblick auf eine Zeit, in der ich (auch) regelmäßiger BRAVO-Leser war.
Diese Ausgabe hatte ich natürlich damals auch.

Deine Frage nach “Supermax” ist sicherlich rhetorischer Natur – wer damals BRAVO-Leser und gleichzeitig Stammhörer von Mal Sondocks Hitparade im WDR war, kam um “Supermax” gar nicht herum.
Ich weiß zwar nicht, ob “Supermax” überhaupt mehr als eine LP herausgebracht hatte, aber DIE höre ich heute hin und wieder noch gern.
Der Drummer Jürgen Zöller verdiente sich sein Zubrot später übrigens bei Wolf Maahn und aktuell bei BAP.

Mit der Frage ob es sich bei dem Darsteller der “Lovestory” um Sascha Hehn handelt, habe ich mich schon 1978 kurz beschäftigt. Er ist es meines Erachtens -trotz ziemlich großer Ähnlichkeit- nicht.

Jake
Jake
28. Juli, 2017 09:42

Ich habe nochmal recherchiert. Viola hat einen Stayfriends-Account. Sie besuchte von 1971 – 1981 die Grundschule Achtrup und war demzufolge im Erscheinungsjahr dieser Bravo-Ausgabe ca. 13 Jahre alt. Außerdem gibt es da noch zwei weitere weibliche Personen mit gleichem Nachnamen, die von 1966 – 1970 bzw. 1974 die selbe Schule besuchten. Invincible warriors Theorie von mindestens einem älteren, nicht männlichen Mitleser scheint damit bestätigt.

Jörg Stamm
Jörg Stamm
28. Juli, 2017 14:43

Die Poster waren damals zweiseitig bedruckt und Viola hatte die Teens im Zimmer hängen.

Jake
Jake
28. Juli, 2017 19:55

“Nur manchmal höre ich sie beim Blick auf den Bildschirm seufzen und dann fragen: „Deine Leser sind schon etwas seltsam, kann das sein?“.”

Wo die LvA Recht hat, hat sie Recht. Ist aber auch kaum verwunderlich, denn wie heißt es so schön: “Wie der Herr, so’s Gescherr.“ 😉

Synthesaurus
2. August, 2017 12:09

Erstmal: Danke, Wortvogel, für die kostenlose Zurverfügungstellung dieses Zeitgeistdokuments! Darf ich eine möglicherweise nicht so ganz populäre Meinung äußern? Ich erkläre dann auch meine Gründe! Also: Nostalgiegeschwelge macht Spaß, und alle machen mit, aber damit schaden wir uns. Siehe die Memberberries aus South Park. Die Unterhaltungsindustrie nutzt unseren Hang in unseren Kindheitserinnerung rumzuschwelgen aus. Das Ergebnis sind Filme wie Ghostbusters 2016, Terminator Genysis, Rogue One, Alien Covenant und die ganzen anderen misslungenen Remakes und Reboots von 80er-Klassikern, die auf Nostalgie-Ausbeutung aus sind. Verstehe man mich nicht miss: 80s-Nostalgie kann super funktionieren, siehe Stranger Things. Aber was uns im Kino präsentiert wird, sind rückwärtsgerichtete, substanzlose Fan-Handj*bs. Und das ist unsere Schuld, weil die 80er ja sooo cool waren … NOT!

Jake
Jake
2. August, 2017 15:56

@Synthesaurus: “Nostalgiegeschwelge macht Spaß, und alle machen mit, aber damit schaden wir uns.”

Nostalgie erfüllt eine wichtige Funktion für das seelische Gleichgewicht und hat größtenteils vorteilhafte Folgen. Das ist heute wissenschaftlicher Konsens. Daher bin ich der Meinung, dass wir schlecht beraten wären, das “Nostalgiegeschwelge” über Bord zu werfen, nur damit uns im Gegenzug vielleicht das ein oder andere schlechte Remake/Reboot erspart bleibt. 😉

sergej
sergej
20. März, 2020 23:19

Die Bravo will “Ein wenig Licht in dunklen Zeiten” bringen. 39 Ausgaben von 1956 bis 1993 für umme:
http://bravo-archiv-shop.com/ein-wenig-licht-in-dunklen-zeiten