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Mrz 2016

Lehrer, Leitwolf, Lästerkopp: Erinnerungen an ein Exemplar einer aussterbenden Spezies

Themen: Neues |

Meine Leser wissen sehr viel über mich. Nicht alles – ich weiß sehr gut zu unterscheiden, was meiner Web-Persona dienlich ist und was nicht. Aber sehr viel. Zum Beispiel, dass ich nicht gerade aus einer glücklichen Familie komme, dass mein Vater Alkoholiker war und dass ich als Kind eher von der schwächlich-schüchternen Sorte war. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass ich immer Ersatzfamilien gesucht habe, Autoritätsfiguren, um das fehlende heimische Konstrukt zumindest zu simulieren. So fühlte ich mich seit jeher meinen Arbeitsstellen weit über die vertragliche Bindung hinaus verpflichtet. Vielleicht ist auch deshalb mein Beruf immer mein Hobby gewesen und umgekehrt – weil Familie und Arbeit ineinander greifen.

In diesem Kontext ist es verständlich, dass ich auch bei Lehrern nie die kumpelhaften Versteher mochte, sondern die präzisen Grenzenzieher. Ich wollte an die Hand genommen werden, aufgebaut, herausgefordert. Und es war mein großes Glück, immer wieder auf solche Pädagogen zu treffen, die meine Bedürfnisse erkannten und bedienten. Deutschlehrer S. zum Beispiel, der mich für Politik begeisterte und für Skeptizismus, für Medienkritik und sprachliche Präzision. Oder Physik-Lehrerin B., die in einer sehr hässlichen Phase meiner Pubertät, als ich Tendenzen zum Bully zeigte, mit so unangemessenem Verständnis reagierte, dass meine Aggressionen in sich zusammen brachen. Nicht zu vergessen: Bio-Lehrer W., der meinen ständigen Quatschereien im Unterricht mit dem Seufzer quittierte: “Ich würde Ihnen gerne das Wort verbieten – aber dann würde auch mein halber Unterricht zusammen brechen.”

Sie alle waren prägend im besten Sinne, der Beweis, dass nicht nur der Stoff, sondern auch die Person am Pult zählt. For better or for worse – in einer Zeit, als ich daheim wenig mit bekam, waren meine Lehrer meine… Lehrer. Fürs Leben. Und ich hatte das große Glück, es einigen von ihnen Jahre später sagen zu dürfen.

Einer fehlt in dieser Aufzählung. Ich habe ihn in einem früheren Beitrag mal erwähnt, in dem sich meine Leser über seinen bizarren Vornamen amüsiert haben: Kunz-Willich Freund, mein Geschichtslehrer in der Abiturklasse.

Ich weiß noch, wie er zur ersten Stunde in unserer Kollegschule auftauchte. Ein bulliger Kerl, der 40 oder 60 sein konnte (er lag dazwischen), bellende Stimme, gerne mal leicht unrasiert oder generell etwas zerknautscht. Sein erster Satz war: “Sie duzen mich nicht, dafür duze ich Sie auch nicht.”

An einer weiterführenden Gesamtschule, an der das Lehrer/Schüler-Verhältnis gerne auf Augenhöhe gesehen wurde, war das erfrischend deutlich. Freund wollte kein “Lehrpartner” sein, er wollte Schüler, die ihm zuhörten und dabei die Klappe hielten.

Biografisch erfuhren wir wenig von ihm – er war wohl zu einer Zeit aus der DDR abgehauen, als das noch ohne Lebensgefahr möglich war und trug den Hass auf das kommunistische/sozialistische System wie eine Orden am Revers – auch das ein Kontrast zur ansonsten sehr linksbewegten Gesamtschule. Er hatte eine klassische humanistische Ausbildung genossen, trank gerne mehr, als gut für ihn war und neigte dazu, volljährige Schüler zu Saufwettbewerben in der Kneipe herauszufordern – eine seiner beliebten Thesen lautete, dass Alt und Pils nur durch das Aussehen des Bieres geschmacklich unterschieden würden und man beim Blindtest garantiert das Eine nicht vom Anderen unterscheiden könne.

Neben seiner herrischen und manchmal fast grausam sarkastischen Art überzeugte Freund primär durch unglaubliches Wissen nicht nur auf seinem Fachgebiet, aber darin besonders. Wenn er beiläufig eine Regierungskrise in Schweden im 19. Jahrhundert erwähnte, konnte man sich den Spaß machen, nach Details zu fragen – und er nannte Namen, Daten und Orte so blitzschnell, dass ich manchmal den Verdacht hegte, er habe sich das alles ausgedacht, weil wir es sowieso nicht nachprüfen würden.

Kunz-Willich Freund weckte in mir die Begeisterung für angesammeltes Wissen, für den eigenen Kopf als Wikipedia, für die Souveränität des “weiß ich” über das “kann ich nachschlagen”. Wissen ist Macht – kein Mensch, den ich je kennen gelernt habe, verkörperte dieses Prinzip so sehr wie er.

Seine Stunden waren eine klare Top to Bottom-Angelegenheit, Nürnberger Trichter der unterhaltsamen Sorte. Er hielt nichts von neumodischen pädagogischen Konzepten. Und er hielt auch nichts von den linksradikalen Feministinnen, die ihm alle Nase lang den Unterricht störten. Besonders Q., die tischhohe Multi-Aktivistin mit den lila Haaren und dem Palästinensertuch, war seine und meine Nemesis. Als sie eines Tages wieder einmal die gesamte Geschichtsschreibung lauthals als patriarchisch und generell faschistisch anprangerte und mit “Unterrichtsstreik” drohte, schaute Freund sie über den Rand seiner Lesebrille an und sagte: “Frau Q., es wäre uns allen gedient, wenn Sie sich darauf konzentrieren würden, deutsche Kinder in die Welt zu setzen.”

Es war blanke Provokation. Seine Art der Rache, bei Q. die genau richtigen Knöpfe zu drücken. Und ich war Arschloch genug, um halblaut einen drauf zu setzen: “Bei ihrer Größe kriegt die höchstens Goldhamster.”

Ja, das war gemein. Ja, das war pubertär. Ja, es waren die 80er. Nein, ich bin nicht stolz drauf.

Von den Keifereien in beide Richtungen abgesehen haben wir wohl bei keinem Lehrer mehr Stoff gepaukt als bei Freund – und das ganz ohne Mühe. Er konnte großartig erzählen, verstand Geschichte als vielschichtige Ansammlung manchmal willkürlicher, manchmal zwangsweiser Ereignisse, und er konnte sie als große Dramen ausladend erzählen. Müsste ich zwei meiner Eigenschaften seinem Einfluss zuordnen, es wären Sarkasmus und Rhetorik.

Kunz-Willich Freund war kein einfacher Mensch, auch nicht innerhalb des Kollegiums. Mit Philosophie-Lehrer S. verband ihn eine seltsame Hassliebe, deren Ambivalenz ich zu spüren bekam, als S. meinetwegen eine Lehrerkonferenz anberaumte. Der Grund: Insubordination und Beleidigung. Der Hintergrund: In einer Stunde, in der auch die Lebensgefährtin von S. als Gast anwesend gewesen war, hatte der Philo-Lehrer – selbst begeisterter Photograph – die in meinen Augen steile These vertreten, die Schwarzweiß-Fotografie sei der Realität näher als die Farbfotografie mit ihrem komplett subjektiven Farbverständnis. Ich hielt hartnäckig dagegen, es schaukelte sich hoch und als S. nicht mehr weiter wußte, machte er den Fehler, persönlich zu werden: “Herr Dewi, wir wissen alle, dass Sie daheim Probleme haben, das brauchen Sie nicht hier im Klassenzimmer öffentlich auszuleben.”

O-ha. Gloves off.

“Herr S., das tue ich auch nicht – so wie ich auch niemals öffentlich machen würde, wenn ich Sie für einen Vollidioten hielte.”

Für die Lehrerkonferenz musste ich selbst alle anderen Kollegen persönlich einladen. Bio-Lehrer W. kicherte vernehmlich, als ich ihm sagte, was vorgefallen war. Kunz-Willich Freund grummelte auf mein Geständnis, dass ich meinen Philo-Lehrer Vollidiot genannt hatte, nur sehr vernehmlich: “Stimmt ja auch”. Er kam nicht zur Konferenz, die übrigens mit einem sehr glimpflichen schriftlichen Verweis endete.

Kurzum: Es waren drei gute Jahre unter Kunz-Willich Freund, in denen ich u.a lernte, in Diskussionen meinen Standpunkt zu vertreten und nur einzuknicken, wenn er nachweislich falsch war. Ich lernte, Meinungen von Fakten zu unterscheiden und zuerst einmal mein eigener härtester Kritiker zu sein.

Natürlich verlor ich Freund nach dem Abitur sofort aus den Augen. Ich hatte mit meinem Zivildienst genug zu tun und danach zog es mich ja nahtlos nach München. Ein, zweimal besuchte ich meine alte Schule noch, die im Zuge massiver Umbauarbeiten (70er Jahre-Klassiker Asbest) von Gesamtschule Kikweg in Lore Lorentz-Schule umbenannt wurde. Dabei traf ich einmal noch Kunz-Willich Freund auf dem Parkplatz. Wir gingen ein Stück zusammen, als er plötzlich innehielt: “Hören Sie das?”

Ich hörte nichts außer Schülerstimmen, Autos, Lärm.

Er deutete mit dem Finger auf einen Baum, der vielleicht 20 Meter entfernt stand: “Ein Rotkehlchen. Das erste in diesem Jahr.”

Jetzt konnte ich es auch hören. Und Kunz-Willich Freund nutzte das Erscheinen des kleinen Piepmatz als Einstieg in eine Tirade über das moderne Schulsystem, das den Kindern zwar beibrachte, wie Atomkraftwerke funktionierten, die Bestimmung grundlegender heimischer Tierarten allerdings nicht mehr zu vermitteln suchte. Zuviel Theorie, zu wenig Praxis, zuviel drinnen, zu wenig draußen. Es ärgerte ihn sichtlich – was mich wiederum amüsierte.

Das mag jetzt 25 Jahre her sein, vielleicht etwas länger. Ich habe immer mal wieder an Kunz-Willich Freund gedacht, mich immer mal wieder gefragt, ob es angebracht wäre, ihn ausfindig zu machen, auf ein Bier einzuladen – der Test, ob Pils und Alt blind unterscheidbar sind, steht ja noch aus. Aber kurioserweise war im Netz trotz seines einzigartigen Namens praktisch nichts über ihn zu finden. Andererseits: Ich konnte mir gut vorstellen, dass Freund mit allzu modernem Schnickschnack nichts anzufangen wusste und wollte.

Letzte Woche habe ich es wieder versucht, habe seinen Namen in die Suchmaschine getippt. Siehe da, diesmal gab es einen prominenten Treffer. Und ihr seid lange genug meine Leser, um zu wissen, was das bedeutet:

Bildschirmfoto 2016-02-24 um 14.11.11

Danke, Herr Freund. Das hätte ich Ihnen gerne noch persönlich gesagt.



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flippah
1. März, 2016 17:28

Das erinnert mich sehr an einen meiner Lieblingslehrer, Wolf-Armin Freiherr von Reitzenstein.
Aber zum Glück findet man zu dem sogar einen Wikipedia-Eintrag.

Crook
Crook
1. März, 2016 20:10

Sehr interessanter Bericht.

Zwei meiner unterhaltsamsten Lehrer haben mich auch in Geschichte unterrichtet. Während der eine sowohl unter Lehrern als auch unter Schülern total polarisierte (nicht nur wegen manch grenzwertiger politischer Ansichten) mit seiner sehr, sehr ironischen Art, die durchaus ins Zynische übergehen konnte, aber über ein solch bewundernswertes Wissen verfügte, daß man ihm immer wieder staunend zuhörte, war der andere, obwohl er auch unbequem und launisch sein konnte, bei den allermeisten sehr beliebt – eine von der Körperfülle her beachtliche Erscheinung (vier Jahre mein Klassenlehrer), ebenfalls sehr belesen und unglaublich witzig (unsere Abizeitung konnte man zur Hälfte allein mit seinen Sprüchen füllen – “Schmeckt wie Inge Meysel unterm Arm”, “Wenn sich irgendwer mit Nesquick dopt und dann ausflippt, dann ist Schluß”, zum Kanzlerduell: “Da sollte man mal andere Fragen stellen, mit denen keiner rechnet, zum Beispiel: Herr Schröder, wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrer Frau gebumst?”).

Glücklicherweise ist der Kontakt über all die Jahre nicht abgebrochen und wir veranstalten idealerweise zweimal jährlich so ein halbes Geschi-LK-Treffen mit sieben von ursprünglich 15 Mann, das nächste schon wieder in einer Woche. Mittlerweile ist er mit fast Mitte 70 glücklicher Rentner, der viel durch die Weltgeschichte reist (bevorzugt Südamerika) und sein Leben mitsamt Gattin in vollen Zügen genießt.

radio_gott
radio_gott
1. März, 2016 20:13

ich habe bis heute gedacht, der Nürnberger Trichter sei eine Erfindung unserer ehemaligen Radio-Beraterfirma aus Nürnberg. Weil die beiden Kollegen immer so merkwürdig grinsten, wenn sie ihn erwähnten…. wieder was gelernt

Dietmar
Dietmar
2. März, 2016 00:33

Authentisch. Ich glaube, das ist das Wort, das gut beschreibt, warum ich an diesen Geschichten von Dir so hängen bleibe. Als wäre man irgendwie dabei gewesen.

Der für mich wichtige Lehrertyp war tatsächlich ähnlich. „Aufgeweckt” hat mich Frau F., über die ich nichts mehr finden kann. Förmlich aus dem Sumpf gezogen Herr K., der heute Schulleiter dort ist.

Später war für mich der unfassbar charismatische Marius Bazu wichtig. Ihn wollte ich treffen, um eine Zeit nach dem Studium bei ihm zu hospitieren. Also rief ich in der Hochschule an, wo man mir mitteilte, dass er mit Mitte 50 auf Konzertreise im Hotelzimmer an einem Herzinfarkt gestorben war. Selbst davon habe ich, heute nur wenig jünger, etwas mitgenommen: Der Druck, den manche Typen Mensch in diesem Beruf auf einen ausüben, ist gefährlich. So ein Ende ist das Ganze nicht wert.

Immerhin: Ich bin sehr sicher, dass ich ihnen meine Wertschätzung kommuniziert habe.

McCluskey
McCluskey
2. März, 2016 00:39

Sehr schöner und berührende Artikel. Danke auch für die Verlinkungen, da ich die Geschichte über das Haus der Oma noch nicht kannte. Daher stellt sich für mich unweigerlich die Frage: Bist du seitdem je wieder in Bramel gewesen?

Wortvogel
Wortvogel
2. März, 2016 02:40

@ McCluskey: Ich war vor drei Jahren noch mal da – verfällt immer mehr.

McCluskey
McCluskey
2. März, 2016 19:33

Sehr schade.

thor
thor
23. März, 2016 17:26

Und ich bleibe dabei.

Deine Nachrufe sind die Besten.

Heinz Unger
Heinz Unger
3. August, 2018 13:36

Weil gerade etwas melancholisch und mit meinen Gedanken bei Ihm, hab ich mal seinen Namen gegoogelt … und fand Ihren Text. Es beschreibt Ihn als Lehrer ganz hervorragend. Ich hatte zudem noch das große Glück Ihn als Corpsbruder, er brachte mich nach Heidelberg aufs Corpshaus und als Freund zu kennen. Er war uns ein lieber Gast, kannte alle meine Kinder und ich hätte mir gewünscht das sie Lehrer wie Ihn gehabt hätten. Ich denke gerne an Ihn zurück, hab noch seine Stimme im Ohr und vermisse Ihn sehr.