24
Nov 2022

Von Papierschneidern und Halsabschneidern

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Jetzt geht’s noch weiter in die Nische. Ich verspreche, beizeiten wieder etwas massenkompatibler zu werden, aber das hier muss einfach raus.

Einige Leser werden sich erinnern: Vor gut vier Jahren habe ich einen mehr als 15 Kilo schweren Papierschneider gekauft, um Bücher und Zeitschriften mit Kraft und Hebelwirkung um ihre Bindung zu erleichtern. Der Preis war für das massiv metallene Ungetüm mit 56,24 Euro erstaunlich moderat:

Der Preis ist umso erstaunlicher, da selbst in der Black Friday Week beim chinesischen Versender AliExpress für ein praktisch baugleiches Gerät mehr als die doppelte Summe aufgerufen wird:

Mein Papierschneider funktioniert super und geht auch durch 500 Seiten hardcover wie Butter. Aber wenn man so viel Papier zersäbelt wie ich und dabei auch immer mal wieder auf Heftklammern stößt, darf sich nicht wundern, wenn die Klinge nach ein, zwei Jahren etwas mitgenommen aussieht:

Damit kann man nur noch Brot schneiden. Vor zwei Jahren hatte ich das schon einmal, da hat mir eine professionelle Schleiferei geholfen. Weil das nicht ganz billig ist, stellte sich heuer die Frage, ob eine Ersatzklinge nicht vernünftiger ist.

Ich fand die gesuchte Ersatzklinge bei einem Internet-Fachhändler, der besonderen Wert auf die Tatsache legte, dass seine Ersatzklingen im Gegensatz zu billiger Fernost-Ware aus hochwertigem HSS-Stahl seien. Nun lässt die Vergrößerung gewisse Zweifel an dieser Behauptung zu:

Das sieht schon sehr verdächtig nach meiner China-Klinge aus:

Mit knapp 30 Euro kostet die Ersatzklinge über die Hälfte des kompletten Papierschneiders. Andererseits – geht auch teurer:

Richtig gelesen – die wollen 300 Euro (19 Prozent gespart!) für die Ersatzklinge.

Das ist aber nur eine Seite der Wucher-Medaille. Um auch garantiert die passende Klinge zu finden, habe ich zuerst mal im Umfeld meines Papierschneiders nach Ersatzteilen gesucht. Das Problem: Mein Modell unter dem Namen “Homfa” gibt es nicht mehr. Kein Problem: Es ist chinesische No Name-Ware, die unter anderen Namen noch überall zu finden ist – mit erstaunlichen preislichen Schwankungen.

So kann man für das baugleiche Gerät bei einem Versender, der sich seiner deutschen Qualitätsmaßstäbe rühmt, für 160 Euro in schwarz kaufen:

Wer meint, das sei vielleicht nicht das exakt gleiche Gerät, dem kann ich versichern: ist es. Man hat lediglich den kleinen Aufkleber auf dem Papierschieber von “tool box” zu “Messerhalter” umbeschriftet.

Immerhin – der fast dreifache Preis. Da habe ich ja ein richtiges Schnäppchen gemacht. Vor allem, wenn man sich weiter umschaut:

Hier sind wir schon auf 230 Euro für einen exakten Zwilling meines Geräts. Aber da geht noch was, es ist immer Luft nach oben:

“CGoldenwall” möchte also 480 Euro für einen Papierschneider, den ich für gut 56 Euro gekauft habe. Gut, dass wir verglichen haben. Aber es wäre doch gelacht, wenn wir nicht noch die Verzehnfachung des Preises knacken könnten:

Zugegeben, hier gibt es minimale bauliche Abweichungen, die aber vermutlich nur einem etwas neueren Modell geschuldet sind. Besser sieht das Teil an keiner Stelle aus und der Verkäufer müht sich nicht mal, die chinesische Herkunft zu verschleiern. Elffacher Preis for the win!

Ehrlich? Würde ich viel Geld in einen fucking Papierschneider investieren wollen, gäbe es erheblich professionellere Varianten für weniger. Der hier bringt nicht nur seinen eigenen Tisch mit – er schneidet auch bis A2:

In feuchten Träumen in dunklen Nächten sehe ich mich mit sowas hantieren:

Und irgendwann sind plötzlich die Katzen weg…

Aber zurück zum chinesischen Papierschneider, der 56, 200, 230, 480 oder 638 Euro kostet. Wie kommen solche Preise zustande? Wie ist so eine Spanne zu rechtfertigen?

Meine Vermutung: Im Gegensatz zu Fernsehern und Laptops sind Papierschneider ein Nischenprodukt, für dessen Preis man wenig Vergleichsmöglichkeiten hat. Otto Normalverbraucher weiß schlicht nicht, was so etwas kosten darf/soll/muss. Der Händler kann seine Gewinnmarge relativ beliebig festsetzen. Ich gebe zu, dass ich selber baff war, wie preiswert mein Gerät vor vier Jahren war – für unter 60 Euro gibt es üblicherweise nur Papierschneider, die gerade mal eine Handvoll Seiten für heimische Bastelarbeiten zersäbeln. Ich hätte auch 100 oder 120 Euro gezahlt.

Die Lehre? Immer vergleichen, ganz besonders, wenn sich das nicht anbietet. Da draußen sind Leute unterwegs, die Preise würfeln.

Meine Klinge habe ich wieder an die Schleiferei gegeben. Deutsche Wertarbeit.



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dermax
dermax
24. November, 2022 13:19

Ich würde auch Deiner Vermutung zustimmen: das ist Price Awareness, macht jeder vernünftige Einzelhändler, denn Produkte, für deren Preise ein Verbraucher kein Gefühl hat, aber sie unbedingt (idealerweise spontan) braucht, kann man wie man sieht, zu jedem Preis verkaufen.

noyse
noyse
24. November, 2022 13:30

ich meine mal gelesen zu haben, dass einige Anbieter absichtlich Mondpreise angeben, um gelistet zu bleiben, wenn sie das Produkt gar nicht vorrätig haben.

Rudi Ratlos
Rudi Ratlos
24. November, 2022 14:52

Yeah, die guten China-Scalper mit „deutscher Wertarbeit“. Was da inzwischen via Instagram-Werbung und Amazon-Händlern abgeht, geht auch auf keine Kuhhaut. Jetzt nicht unbedingt mit Papierschneidern, aber auch bei etwas gewöhnlicheren Produkten scheint der Weiterkauf von AliExpress-Artikeln ein äußerst lukratives Geschäft zu sein…

Edin Basic
Edin Basic
24. November, 2022 16:12

Bei dem professionellen Papierschneider denke ich gleich an Steve Buscemi und sein Ende in Fargo.

martzell
24. November, 2022 21:52

So Preisunterschiede kannte ich seither nur von identisch aussehenden Billigplagiaten. Zuletzt hätte ich fast den nachgemachten Sägekettenschärfer für 30 statt 150 Euro gekauft. Das Original: https://www.saegekettespezialist.de/timberline-kettenschaerfer-chainsaw-sharpener-rev.html

https://www.amazon.de/Zahnsch%C3%A4rfer-Kettens%C3%A4gensch%C3%A4rfer-Aluminiumlegierung-Handkurbeln-Sch%C3%A4rfger%C3%A4t/dp/B09M9WQ8N6