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Apr 2023

Die Geschichte vom Heiligen Geist: Ein Lehrstück in Sachen Internetjournalismus

Themen: Film, TV & Presse |

Heute geht eine Geschichte durch so ziemlich alle Medien, die schockierend und auch ein wenig bizarr klingt: Ein junger kanadischer Schauspieler ist in Südkorea an den Folgen von über einem Dutzend Schönheitsoperationen verstorben, die er hatte vornehmen lassen, um auf dem asiatischen Markt reüssieren zu können.

Rausgehauen hat den Knaller die Daily Mail, ein britisches Krawallblatt von fragwürdiger Seriosität:

Und alle, alle springen sie auf den Zug auf: T-online, Gala, BILD, Promipool, die Berliner Zeitung, etc. Beim Promipool wird aus dem Schauspieler ein Influenzer. Davon abgesehen: Immer der gleiche Ablauf, immer die gleichen zwei Bilder, die den jungen Mann angeblich “vorher und nachher” zeigen.

Ich lese mir die Meldung durch und alle Sirenen gehen an: Bullshit-Alarm!

Der junge Mann heißt angeblich “Saint von Colucci”, was ich schon mal gar nicht glauben mag – selbst wenn es nur ein Pseudonym sein soll. Die IMDB kennt den “Schauspieler” nicht, einfach googelbare Social Media-Accounts des “Influenzers” kann ich auch nicht finden. Darüber hinaus klingt das alles extrem fischig: Angeblich wollte “von Colucci” sein Aussehen verändern. weil er in einer TV-Serie die Rolle des japanischen Popsängers Jimin von BTW ergattern konnte. Was die Frage aufwirft: Wer gibt einem Kaukasier die Rolle eines real existierenden Koreaners? Und warum hat von dem Projekt niemand jemals gehört?

Die “vorher/nachher”-Fotos lassen mich schwer zweifeln, ob es sich dabei um die gleiche Person handelt. Andere Fotos des Schauspielers/Influenzers finden sich nicht. Überhaupt scheint die ganze Person(a) erst mit ihrem Tod im Internet aufgetaucht zu sein.

Es wird noch besser: Angeblich soll “von Colucci” ein Erbe hinterlassen haben – einen Auftritt in einer koreanischen TV-Serie, die im Dezember abgedreht, aber noch nicht ausgestrahlt wurde. Später rudert der “Manager” von von Colucci, der die gesamte Story kolportiert hat, etwas zurück: Es ginge um eine Serie, in der von Colucci habe mitspielen wollen. Ist der Titel ein versteckter Hinweis? “Pretty Lies”.

Egal, was Wahrheit oder Fiktion ist – so etwas KANN man nicht durchwinken, da MUSS man auch als kleine Tastenschlampe bei einem Online-Portal nachhaken.

Und siehe – klickt man auf dem Link zum ursprünglichen Beitrag in der Daily Mail, bekommt man mittlerweile diese Meldung angezeigt:

Im wesentlich respektableren Independent wird die Geschichte von Saint von Colucci zwar auch berichtet, aber man merkt wenigstens an:

Reports of Colucci’s death have circulated on Korean media sites following the report in the Mail, though the actor’s lack of social media presence and unknown profile have led to confusion, and claims of a possible AI-generated hoax.

The Independent has been unable to contact his publicist or representative.

Nach der miesen Nummer mit Michael Schumacher letzte Woche lässt sich vermuten, dass es sich bei “von Colucci” um einen PR-Stunt handelt, der gerade dabei ist, völlig aus dem Ruder zu laufen. Nur keine Publicity ist schlechte Publicity.

Letztlich wird man abwarten müssen. Und es ist genau das, was (fast) alle meine Kollegen nicht getan haben. Man hat die Geschichte global verbreitet, weil sie sich in ihrer Absurdität förmlich aufdrängt. Dabei MÜSSEN die relevanten Fragenzeichen erkannt worden sein – aber man hat sich entschieden, sie zu ignorieren, um Content raushauen zu können. Gewonnen hat nicht, wer korrekt berichtet, sondern wer zuerst berichtet. Das ist eine der großen, bis heute nicht behandelten Kinderkrankheiten des Internet-“Journalismus”, die verstärkt wird durch den Einsatz von automatisierten Redaktionssystemen und schlecht ausgebildeten Freiberuflern, die für Minimalhonorare Beiträge raushauen, um die Miete zu zahlen. Niemand wartet, niemand prüft, niemand übernimmt Verantwortung – und es wird auch niemand zur Verantwortung gezogen. Es dürfte sehr unterhaltsam werden, wenn noch die KI in den Mix gerührt wird…

Ich bin wieder mal heilfroh, nie Drang oder Not gehabt zu haben, mich an dieser Form des Clickbait-Journalismus beteiligen zu müssen.



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Frank
Frank
28. April, 2023 06:48

Ohne dich wäre mir die Meldung gar nicht untergekommen. Musste lachen. Wieder mal treffend von dir analysiert. Du kennst sicher ‘Der Postillon’. 😉 Die machen derlei perfekt.
Was auch zum Thema passt (mein ich jetzt mal so) komme grade aus Frankfurt/M. zurück. Dort läuft noch bis 17. Sept. ’23 in der Caricatura eine große Gerhard Haderer Ausstellung – absolut sehenswert und dem Journalismus auch heftig auf die Schmierfinger geklopft.

Alexander Freickmann
Alexander Freickmann
28. April, 2023 10:40

Ich hätte sowas ja noch bei Falschmeldungen zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verstanden – da kann es um Sekunden gehen. Aber das Beispiel hier ist wahrlich faules Clickbait. Und Daily Mail ist ja auch nicht bekannt als der seriöseste Nachrichtenverbreiter. Ich wünschte, man könnte Clickbaits in Google runterwerten.