Hyperland Redux (5): Selbstversuch Internet-Zensur: Eine Reise in die chinesische Türkei
Themen: Film, TV & Presse, Hyperland |Originaltext Januar 2013:
Es ist eine Nachricht, die eigentlich ihr Verfallsdatum überschritten hat: in der Türkei wird das Internet zensiert. Seit 2007 können lokale Strafgerichte Webseiten wegen allerlei schwammig formulierter Vorwürfe landesweit sperren lassen. YouTube wurde bis 2010 zwei Jahre lang blockiert. Und 2011 kursierte eine offizielle Liste mit 138 Wörtern, die in Domain-Namen fortan tabu sein sollten.
Das alles klingt so überzogen wie weit weg. Aber wenn man zu den fünf Millionen Deutschen gehört, die jährlich in die Türkei reisen, wird die restriktive Telekommunikationskultur am Bosporus schnell zum Ärgernis. Die Netzfreiheit wird nicht erst in China massiv eingeschränkt.
Dies ist das Protokoll eines Selbstversuchs
Die Umgebung von Antalya ist eine typische Massentourismus-Hochburg. Hier werden Sümpfe kilometerweise trocken gelegt und mit Sand aufgeschüttet, damit ein Mega-Hotel nach dem anderen an den neuen "Strand" gepflanzt werden kann. 26 "all inclusive"-Paläste erinnern mit ihrer Spaß-Architektur an den Kreml, die Titanic oder das Chrysler Building in New York. Modernste Spa-Bereiche, Flachbildfernseher und Buchungssysteme vermitteln den Eindruck westlicher Standards.
Möchte man allerdings ins Internet, fühlt man sich oft schnell in die Web-Steinzeit zurück versetzt. Offene WLAN-Verbindung? Prima. Trotzdem öffnet sich im Browser ein Fenster, das einen Login verlangt. Man möge Namen und Zimmernummer eintragen, denn jeder Ausflug ins Netz werde protokolliert und bei Verstößen gekappt. Verbindungen sind brüchig, eine nicht zu bestimmende Menge an Usern drängelt sich in einer Leitung von nicht zu bestimmender Leistung. Im Dutzend sitzen Urlauber mit ihren Notebooks und iPads im direkten Umfeld der Rezeption, wo der Empfang noch am besten ist.
Warum im Äther drängeln, wenn das Kabel liegt so nah? Schließlich haben die Schreibtische in den üppig eingerichteten Zimmern LAN-Buchsen. Jedoch: keine Verbindung. Auf Nachfrage zuckt der Angestellte in der Lobby mit den Schultern – die Buchsen in den Zimmern seien nie ans Netz angeschlossen worden.
Also weiter WLAN in der Lobby. Am besten während der Essenszeiten, wenn die meisten anderen Gäste im Speisesaal sitzen. So geht’s. Halbwegs. Bis die Verbindung erneut abbricht. Nach einem Neustart des Browsers poppt wieder ein Fenster auf: der Account ist gesperrt worden, man möge sich an den Adminstrator wenden. Nanu?
Die Spurensuche beim Personal ist so erfolglos wie frustrierend: der Concierge erklärt, dass der „Internet-Beauftragte“ (des Hotels, der Region, des Landes?) Zugänge blockiere, wenn man auf „spezielle“ Internetseiten zugreife. Er beugt sich über den Tresen und grinst vertraulich: „Meistens Pornos“. Welche Seiten verboten sind? Weiß er nicht. Wie man den „Internet-Beauftragen“ findet, um den Account wieder freischalten zu lassen? Weiß er auch nicht.
Spurensuche in dem, was das hypermoderne Hotel (eröffnet Mai 2012) für ein „Internet-Center“ hält. Drei veraltete Desktop-PCs mit türkischer Tastatur, türkischem Windows und einem Münzeinwurf. Die Surfsitzung, die zur Sperre führte, wird an einem der fest installierten Rechner nachgespielt. Siehe da, es ist die Webseite des größten Nachrichtenmagazins Deutschlands, die hier zu einer Fehlermeldung führt. Vielleicht hat man in Hamburg einmal zu oft die EU-Tauglichkeit der Türken angezweifelt? Als Urlauber möchte man zustimmen, denn es nervt, wenn man keine Möglichkeiten besitzt, vorab die Webseiten zu erkennen, die zur Sperrung führen. Man läuft hilflos in die Falle. Einmal „falsch“ gesurft: upload/download 0,0kb.
Es ist der deutsche Gästebetreuer, der ein paar Anrufe tätigt und die Accounts wieder frei schalten lässt. Bei wem? Es bleibt unklar. Aber man wird nun zwangsweise paranoid, versucht präventiv „sichere“ von „unsicheren“ Seiten zu unterscheiden, vermeidet reißerische, politische, religiöse Webseiten. BILD.de geht. Erhöhter Herzschlag, als eine US-Klatschseite einen Sperrbildschirm auslöst – die Betreiber verstoßen gegen das Gesetz 5156. Worin der Verstoß besteht? Keine Angabe. Kinderpornographie kann es kaum sein, auch wenn das Gesetz angeblich zum Kampf dagegen durchgepeitscht wurde.
Jeder URL ein Glücksspiel, jedes erfolgreich übertragene Kilobyte ein Geschenk – bis man irgendwann genervt das Notebook zuklappt und doch lieber an den Pool geht. Wie es sich gehört.
NACHTRAG 2017: Ein fast schon prophetischer Artikel – mit der Internet- und Pressefreiheit ist es seither rapide bergab gegangen. Sogar der Wortvogel ist in Ländern wie China und der Türkei auf dem Index.
Es kann nur eine Konsequenz geben: Nicht mehr hinreisen.
Die Indizierung ist als Adelung zu begreifen. Das ist ein furchtbares Klischee, aber dadurch nicht weniger zutreffend. In die Türkei reise ich erst wieder, wenn dort Vernunft die Überhand gewinnt. Ägypten dito. Für die in aller Regel völlig unschuldigen Hotel-Angestellten tut mir das sehr leid. gleichzeitig möchte ich weder inhaftiert noch geköpft werden.
Da ich bis auf weiteres nicht mehr in dieses Land fahren werde, kann ich es nicht selbst ausprobieren, aber beim ersten Vorfall hätte ich den Rest des Urlaubs das ganze über eine VPN laufen gelassen. Hat in Abu Dhabi auch funktioniert.
Meist reicht ja schon einfach den Google DNS zu nutzen. Zumindest hier in Singapore, wo auch mal gerne kritische Seiten abgewuergt werden, habe ich seitdem keine Probleme mehr. Aber Singapore ist da ja auch nicht so rigide wie China oder – wie mir neu, allerdings wenig ueberraschend – die Tuerkei.