TV-Tipp “Tagesschau”
Themen: Film, TV & Presse |Ja ja, schon klar – damit kann man für gewöhnlich keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor locken, zumal in den Zeiten des Internets die Nachrichtenbeschaffung erheblich individueller und unabhängiger geworden ist. Und darum geht es in diesem TV-Tipp auch gar nicht um die „klassische“ Tagesschau. Es geht um die „klassische Tagesschau“. Verwirrt? Dann weiterlesen…
Ich schaue nicht mehr viel fern. Was ich an Informationen brauche, bekomme ich aus dem Netz, TV-Sendungen auch, und für Filme gibt es Kinos und DVDs. Ab und an schaue ich mal bei Premiere rein, selten gibt es eine Dokumentation, für die ich das Stockwerk wechsle (ich arbeite im Erdgeschoss, die „Glotze“ steht unter dem Dach). Damit will ich das Medium nicht abwerten – aber das, was es mir zu bieten hat, kann ich anderweitig und zu mir genehmeren Konditionen bekommen.
Trotzdem fängt der Abend für mich mit dem Fernseher an, und zwar mit der Tagesschau um 19.45 Uhr. Hier werden die ersten schon „Momang!“ rufen, ist die Tagesschau um 20.00 Uhr doch so ziemlich der in Stein gegossenste Termin neben dem Sylvester-Krachen um Mitternacht am 31. Dezember. Aber das hat schon seine Richtigkeit, denn bei mir läuft um „viertel vor“ der Nischensender „Bayern alpha“. Und der sendet die Tagesschau – von vor 25 Jahren.
Es sei dem Leser dieser Zeilen nachzusehen, dass er hier zuerst einmal an meinem Verstand zweifelt, meinem Zeit-Management, oder mir einen dramatischen Hang zur Nostalgie unterstellt. Welchen denkbaren Nutzen kann es haben, tagesaktuelle Informationen zu konsumieren, die ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel haben?
Ganz einfach: Es schärft die Perspektive. Schaut man die alte und die neue Tagesschau auch nur für ein paar Wochen direkt nacheinander, zeigen sich sowohl Parallelen wie auch radikale Unterschiede, die so einiges zurecht rücken, was man sich im permanenten Griff der Gegenwart gerne querdenkt.
Das begann schon vor fünf Jahren: Täglich zeigte die alte Tagesschau 1977 den US-Verteidigungsminister Rumsfeld, der nach einer neuen Friedensordnung im Nahen Osten ruft. 2002: Derselbe Rumsfeld ist wieder Verteidigungsminister, und die Friedensordnung im Nahen Osten steht immer noch auf der Tagesordnung. Genauso die Israel-Problematik: heute wie vor 25 Jahren „Versuche der Annäherung“. Aber die retrospektiv irrige Hoffnung von damals verdirbt einem die Freude an aktuellen „Erfolgsmeldungen“.
Man erlebt die Übergange: Schon Reagan, aber noch Schmidt; schon Thatcher, aber noch Breschnjew. Man wundert sich auch, wie viele Gesichter sich eben nicht, oder erst spät geändert haben: Mubarak steht an der Spitze Ägyptens, Ghaddafi in Libyen, und Papst ist Johannes Paul II. Die Korrespondenten der Tagesschau haben ihre großen Karrieren noch vor sich – Ulrich Wickert berichtet noch aus New York, und Rolf Schmidt-Holtz hat noch keine Ahnung, dass er dereinst eine ganz große Nummer bei der Bertelsmann Group sein wird, wenn er den Justizminister Schmude vor dem WDR-Mikro hat.
Das ewig gleiche Gewäsch der Politiker entlarvt sich sehr schön an den Zahlen vom Arbeitsmarkt: schon Anfang 1982 war man sich allenthalben einig, dass die Zahl von mehr als 1 Million Arbeitslosen „unerträglich“ sei, „nicht hinnehmbar“. Man sprach von „Arbeitsbündnissen“, „Sonderprogrammen“, und gerne auch davon, die Arbeitsämter effizienter zu gestalten. Same shit, different day.
Technisch wie dramaturgisch war die Tagesschau vor 25 Jahren etwas einfacher gestrickt, aber massiv geändert hat sich beruhigend wenig: Die Landkarten waren noch von Hand geklebt, die Korrespondenten hielten dicke Mikros ins Bild, und die Wetterkarte war eher simpel gestaltet. Die zur Schau getragenen Frisuren schmerzen manchmal. Beiträge waren erheblich länger, und umfassten oft Nachricht, Bericht, und Interview in einem „Paket“. Gerade Anfang 1982 kann man sehr schön sehen, wie ein zeitgeschichtliches Thema die Tagesschau fast komplett in Beschlag nimmt: Kriegsrecht in Polen. Technisch war man 1982 zumindest schon bei der Magnetband- Aufzeichnung – ein paar Jahre vorher kamen die Konserven vom Zelluloid, und waren erheblich schlechter erhalten.
Abgesehen von Lehrstunden in Sachen jüngere Geschichte hat die alte Tagesschau aber auch Humorvolles zu bieten: Die SPD mokiert sich über die CDU, deren Oppositionsführer Helmut Kohl tatsächlich bei einem Parteitag die deutsche Einheit als Endziel der Politik nicht ad acta legen will, und Januar 1982 ist ganz Deutschland komplett zugeschneit, während 2007 das T-Shirt regiert. In England streiken die Lokführer, und WIR wissen, dass Maggie Thatcher den britischen Gewerkschaften bald das Kreuz brechen wird. Atomare Endlager werden angekündigt, von denen WIR wissen, dass sie nie in Betrieb genommen werden. Es ist die Rede von Videotext und Transrapid, und in einem Beitrag über den Ministerpräsidenten Ernst Albrecht sieht man neben ihm seine junge Tochter – die heutige Familienministerin/ Supermutter Ursula von der Leyen. Man sieht auch Strauss, und rechnet im Kopf aus, wie lange der wohl noch zu leben hatte.
Und dann fallen Worte, die früher selbstverständlich waren, an die sich heute aber keiner mehr erinnert: die Gewerkschaft „Solidarnosch“, die polnische Tageszeitung „Tribuna Ludu“, die sowjetische Nachrichtenagentur „Tass“, die Staatszeitung „Prawda“, „Nowaja Semlija“. Überhaupt – der Kalte Krieg, die zwei Machtblöcke, der Eiserne Vorhang, erhöhter Zwangsumtausch. Alles sooo lange her, und plötzlich doch wieder so nah.
Kurzum: Die alte Tagesschau (insbesondere in Verbindung mit der im Anschluss gesendeten neuen Tagesschau) ist nostalgischer Rückblick, Zeitdokument, geschichtliches Regulativ wie Komparativ, und einfach ein fetziges Stück TV-Unterhaltung.
Wenn Bayern alpha mir einen persönlichen Gefallen tun möchte: Wie wäre es mit einer „Langen Nacht der Tagesschau“, in der die Sendungen zu wichtigen weltgeschichtlichen Ereignissen (Mauerbau, Kennedy-Ermordung, Mondlandung, Tschernobyl, Mauerfall) nochmal gezeigt werden?
sehr gut, aehnliches hab ich mir auch schon oefter gedacht, wenn ich zufaellig in die nostalgo-schau gezappt hab. muss mir das jetzt nur noch bewusster angewoehnen.
Ein herrlicher Bericht über eine herrliche Sendung.
Ich selbst habe immer sehr gern “Viertel vor geschaut”. Geht leider wegen einem Umzug nicht mehr.
Und ja, es ist eine der wenigen Sendungen in der derzeitigen dt. Fernsehlandschaft die man als halbwegs intellektueller Mensch noch anschauen kann.
Eine “Lange Nacht” würde ich begrüßen, doch dürfte diese den täglichen Fluss (25 Jahre vor dem heutigen Tag) nicht durcheinanderbringen.
Ein weiteres interessantes Thema für diese wäre meiner Meinung nach das Misstrauensvotum gegen Schmidt.
Eine äußerst spannende Idee wäre eine Ausstrahlung der “aktuellen Kamera” (Nachrichten der DDR) direkt vor “Viertel vor…”. Nicht das ich so sehr auf Ostalgie stehen würde, aber wenn man schom beim Vergleich “vor 25 Jahren – Heute” ist kann man doch einen Vergleich “Ost – West” anfügen. Ich bin gespannt ob sich die Berichterstattungen wirklich sehr unterscheiden würden.
Und ich persönlich werde am 10. Juni 2011 vor der Glotze hängen. Mal sehen was an meinem Geburtstag passiert ist. 😉
sensationeller Beitrag.
Die von dir angesprochene lange Nacht gibt es wirklich, zumindest in leicht abgewandelter Form. Ich habe jetz schpn öfter einen Zusammenschnitt der Tagesschauen(?) gesehen, die zur Zeit der Schleyer-Entführungen gesendet wurden.
ich find die “alte” tagesschau super. besonders dolle war das, als ich in der nacht meines 20. geburtstags die sendung eben dieses tages sehen durfte. irgendwie unheimlich und gleichzeitig erhebend
Hihi, ja ich bin auch schon gespannt, was sie am 12. April 2009 zeigen werden. Da werde ich dann auch definitiv den Festplattenrekorder anwerfen, denn so ein historisches Zeitdokument den eigenen Geburtstag betreffend, bekommt man doch nie wieder.
Etwas spät, aber trotzdem …
Juhuu, es gibt noch jemand außer mir, ich dachte ich bin der einzige der das anschaut 😉
Wahlweise gibt es noch Tagessschau vor 20 Jahren (meistens auf NDR, manchmal bei SWR) und jetzt neu (?) Tagesschau vor 30 Jahren bei HR.
Beim “Durchblättern” des Blogs, stellte sich mir nach diesem Beitrag die Frage, ob auch Volker Pispers zu den Lesern gehört:
http://www.youtube.com/watch?v=TltEZ0C9XJE&feature=player_detailpage#t=1998s
http://www.spiegel.de/kultur/tv/tagesschau-melodie-wird-ersetzt-von-hans-zimmer-a-855067.html
Nooo! Das ist doch das Markenzeichen. Warum nicht gleich die ganze Sendung unbenennen?
Und dann noch Hans Zimmer! Wie das wohl klingen mag.
Das ist echt grandios dämlich von der ARD.
Alles ganz anders:
http://www.bildblog.de/41928/melodien-fuer-millionen/
Das ist dann wieder mal normal dämlich vom Qualitätsjournalismus….