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Apr 2020

Verantwortlichkeit in den Zeiten von Corona: Was nicht schwarz ist, muss nicht weiß sein

Themen: Neues |

Es ist schwer, momentan auf Facebook und anderswo über Corona zu diskutieren. Die Tatsache, dass hier politische, persönliche und philosophische Grundsatzfragen aufeinander treffen und teilweise noch private Existenzängste hinzu kommen, lässt alles eskalieren. Es wird gerne augenblicklich zugeteilt, wer überhaupt über was diskutieren darf – so muss ich mich anscheinend raushalten, sobald es um Kinder geht, weil ich selber keine habe. Dass das natürlich Kappes ist, brauche ich HIER hoffentlich nicht zu erklären.

Es wird auch sofort alles überspitzt: wer die (von mir abgelehnte) Position vertritt, dass zwangsläufiges Wegsterben alter und kranker Menschen nicht als Rechtfertigung für den Abbau von Bürgerrechten dienen darf, wird sofort der Befürwortung des Rentnermordes bezichtigt. Und weil ich z.B. denke, dass die Daheimbetreuung der Kinder zwar hart sein mag und Kompromisse verlangt, aber noch keine Abschaffung der Sicherheitsmaßnahmen rechtfertigt, spucke ich natürlich allen sich in Qualen windenden Eltern ins Gesicht.

Natürlich – und so ist es immer: Krisen sind kein guter Nährboden für den gesunden Menschenverstand und den zivilen Umgang miteinander. Der Streit um die Argumentationshoheit unterscheidet sich nur marginal von der Prügelei um die letzte Rolle Klopapier. Jeder für sich und Gott gegen alle.

Darum soll es heute auch nicht bloß um Corona gehen, um Maskenpflicht oder Kita-Öffnungszeiten. Stattdessen möchte ich über ein Kommunikations- und Erkenntnis-Prinzip sprechen, das ich selber sehr oft anwende, das aber oft missverstanden wird. Ich hoffe, dass meine Ausführungen es einfacher machen, einzelne Aussagen meinerseits richtig einzuordnen. Den Versuch ist es mir wert.

Der Titel deutet es bereits an: nur weil ich nicht deiner Meinung bin, denke ich auch nicht das Gegenteil. Weil Meinungen nicht immer binär sind. Am einfachsten kann man das an der Gottesfrage festmachen, und da vertrete ich das Prinzip ja auch sehr vokal: du glaubst, es gibt einen Gott. Ich glaube nicht, dass es einen Gott gibt. Das heißt nicht, dass ich glaube, dass es keinen Gott gibt.

Das klingt im ersten Augenblick paradox, ist es aber nicht. Von einer Position nicht überzeugt zu sein bedingt eben nicht, die konträre Position einnehmen zu müssen. Matt Dillahunty erklärt das immer anhand eines Einmachglases voller Murmeln. Wenn zwei Personen davor stehen und eine sagt “da ist eine ungerade Zahl von Murmeln drin”, dann ist es legitim zu sagen “das glaube ich so konkret nicht, weil wir das nicht wissen können”. Es bedeutet eben nicht, dass man deshalb glauben muss, es sei eine gerade Zahl von Murmeln im Glas. Die tatsächliche Wahrheit nicht zu kennen ist aber in diesem Fall keine schwächere Position als die basislose Behauptung – es ist nur eine Tendenz in unserer Gesellschaft, “ich weiß es!” als wertiger zu betrachten als “ich weiß es nicht”. Als wäre die Überzeugung für sich genommen schon ein Bonus.

Und hier haben wir auch mein Problem mit den meisten Corona-Diskussionen. Ich stoße auf Menschen, die klare Meinungen haben, was richtig oder was falsch ist in dieser Situation. Manchmal gedeckt durch ein paar YouTube-Videos, manchmal aber durchaus mit der Expertise von Wissenschaftlern oder Politikern. Die stellen dann Forderungen oder, weil es um der geringeren Verantwortlichkeit willen bequemer ist, “Fragen”. Sie geben oft selber zu, keine Experten zu sein (siehe das kaum erträgliche Castorf-Interview im SPIEGEL, das nach der Aussage  “Ich bin kein Biologe, ich bin kein Mediziner” hätte beendet sein müssen). Das hält sie aber nicht davon ab, umfangreiche Konzepte für die Rettung des Abendlandes zu entwerfen und jeden, der ihnen dabei nicht folgen mag, mit Schippchen zu bewerfen.

Dazu müssen wir erstmal Folgendes festhalten: die meisten dieser Menschen argumentieren unredlich, weil ihre Forderungen aus einer totalen Impotenz heraus gestellt werden. Niemand muss, niemand wird auf sie hören. Da lässt sich alles Mögliche gefahrenfrei fordern, denn die tatsächlichen Folgen sind niemals zu prüfen. Wenn ich brülle “Merkel soll die Läden öffnen!”, dann ist der Effekt null. Wenn Merkel die Läden öffnet – dann geht’s rund. Und dann werde nicht ICH, sondern MERKEL die Verantwortung tragen.

Ich halte das für eine unsägliche argumentative Feigheit. Wenn ich politische Forderungen stelle, sollte ich mich immer fragen, wie es denn wäre, wenn ich sie auch umsetzen könnte, wenn ich tatsächlich für ihre Folgen verantwortlich wäre. Wenn ich verlange, dass Kinos und Theater wieder öffnen, damit “die Kulturlandschaft überleben” kann, dann sollte ich mir auch Gedanken über die Folgen machen, wenn das schief geht und man dann mit dem Finger auf mich zeigt. Aber nein, es ist bequem, Forderungen und Fragen zu stellen, solange man sich im kuscheligen Nest totaler Verantwortungslosigkeit befindet.

Wir sind damit eigentlich beim ollen Kant – fordere nur, was du tatsächlich in aller Konsequenz verantworten könntest, wenn man es umsetzen würde.

Ich selber versuche das aus genau diesem Grund anders zu handhaben. Ich habe keine Macht, irgendwas durchzusetzen. Schlimmer noch: trotz eifriger Lektüre von Artikeln, Statistiken und Kurven habe ich nicht den geringsten Schimmer, was ich denn überhaupt fordern würde. Masken ja oder nein? Ich selber habe das Gefühl, die sind nicht mehr als eine Beruhigungstablette für das Volk, aber möchte ich das Risiko eingehen, mich zu irren und vielleicht zigtausende Infektionen zu riskieren mit Hunderten Toten? Ich würde mich freuen, wenn die Läden wieder aufmachen würden, aber würde ich meine Unterschrift unter die Anordnung setzen, wenn ich (zumindest moralisch und oder politisch) dafür haftbar wäre? Sicher nicht.

Und darum treffe ich keine Entscheidungen, die ich nicht treffen kann, und stelle keine Forderungen, die ich nicht stellen kann. Ich weiß es doch schlicht auch nicht. Und “ich weiß es nicht” ist gerade in einer hoch komplexen Situation eine völlig legitime, sogar entwaffnend ehrliche und sympathische Aussage.

Aber das ist nicht die momentane Diskussionskultur. Wie Samira El Ouassil neulich in einem lesenswerten Beitrag schrieb:

Die hobbyvirologische Antipose hat etwas beeindruckend Selbstüberschätzendes, auch wenn mit der eigenen Unwissenheit kokettiert wird, weil es in der Medienlogik offenbar immer noch besser ist zu sagen, dass man zwar keine Ahnung hat, aber dezidiert dagegen ist, als gar nicht zu senden.

Und so muss ich immer wieder erklären, dass die Tatsache, dass ich gegen eine vorzeitige Öffnung der Gesellschaft bin, eben nicht bedeutet, dass ich für einen weiteren strikten Lockdown bin. Ich habe einfach nicht die Expertise, das zu beurteilen – und ich erkenne das demütig an. Ich bin nicht für Masken, nur weil ich nicht gegen sie bin.

Das führt natürlich zu der legitimen Frage, woran ich mein Verhalten ausrichte, wenn ich selber nicht weiß, was richtig und falsch ist.

Was tut man, wenn man nicht weiß, was richtig ist? Man überlegt sich, wer es besser weiß, besser wissen könnte, wer die richtigen Netzwerke hat, um eine kompetente und für meine Lage angemessene Entscheidung zu treffen. Wir leben in einer Demokratie, in der wir Menschen an die Macht wählen, deren Aufgabe genau das ist: abwägend und basierend auf erarbeiteten Modellen Entscheidungen zu fällen, die uns alle schützen. Die Gesundheit der Menschen schützen, aber auch Jobs erhalten, Grenzen schließen, aber Menschen nicht einsperren. Die politischen Entscheider tragen viele Hüte und im Gegensatz zu uns müssen sie abwägen, tägliche neue Informationen in ihren Entscheidungsprozess einflechten, Fehlurteile korrigieren und Versäumtes nachholen.

Wo wir uns nur die Rosinen rauspicken und Forderungen basierend auf unseren persönlichen Interessen stellen, muss die Politik das fast Unmögliche versuchen: allen gerecht zu werden. Dafür hat sie Beraterstäbe, Institute, Fachleute, Szenarien, öffentliche und geheime Informationen. Wir reden hier von einem Apparat, der sich schon dem Terrorismus, AIDS, und Weltwirtschaftskrisen stellen musste.

Bei aller Politikverdrossenheit: they are trained to do this. Wenn sich in meinen Augen in den letzten Wochen etwas gezeigt hat, dann das: die Politik arbeitet. Nicht immer fehlerfrei, nicht immer gleich gut für jedes Klientel – aber wahrlich, sie bemüht sich. Und schaue ich mir die aktuellen Zahlen für Deutschland an, dann stehen wir so gut da, dass man der Kanzlerin eigentlich Konfetti schmeißen müsste, wo immer sie geht.

Darum stelle ich mir bei Diskussionen auf Facebook auch immer die Frage: weiß die Person, die gerade das Maul aufreißt, es wirklich besser als der Krisenstab der Regierung und das RKI? Oder ist das nur wieder so ein Stammtisch-Nationaltrainer, mit dem wir in den letzten 20 Jahren auch jedes Mal Weltmeister geworden wären? Vielleicht ist auch das der Grund, warum ich mit ihnen so wenig Geduld habe.

Wenn ich dagegen argumentiere, wenn ich für die Masken und den Lockdown bin, dann tue ich das nicht im Brustton der Überzeugung meiner Richtigkeit. Für die kann ich nicht bürgen. Ich würde sogar jedem dringlich raten, nicht auf meine Meinung zu hören. Ich argumentiere aber im Sinne der Menschen, die ich für erheblich kompetenter halte als mich selber (und die meisten meiner Gesprächspartner). Ich mache mir ihre Ratschläge zu eigen, weil ich einsehe, dass ihr Verständnis und ihr Fachwissen nicht nur meinem überlegen sind – sondern auch dem der YouTube-“Experten” und Geheimwissen-Verbreiter, die rückblickend nie Recht hatten und nur jedes Mal frisch auftischen, dass wir alle willenlose Schlafschafe sind.

Das alles tue ich, weil ich ein Lebensprinzip der Briten verinnerlicht habe, für das es hierzulande leider keine direkte Übersetzung gibt:

“to err on the side of caution”

Am ehesten trifft “auf Nummer Sicher gehen” den Kern dieses Prinzips. Vorsichtig sein, planen, vorbereiten, lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Weil man wahrscheinlich keinen Ersatzreifen braucht, aber wenn doch, dann ist “kein Ersatzreifen” scheiße.

In Zeiten von Corona ist es mehr denn je angesagt “to err on the side of caution”. Nicht unvorsichtig sein, nicht voreilig, nicht vorschnell. Weil die Maßnahmen gegen Corona funktionieren, muss man sie nicht gleich wieder abschaffen. Man muss nicht auf andere Länder schielen, die das vermeintlich besser oder schlechter machen (und dann das Land wechseln, wenn sich das als Irrglaube herausstellt). Keep calm and carry on.

Es geht um Menschenleben. Jede Fehlentscheidung, die korrigiert werden muss, erhöht den Leichenberg. Jede verfrühte Entspannung ist eine Gefahr. Und jeder, der “es sterben halt immer Leute” sagt, meint damit NIE sich selbst.

Und so werde ich Masken tragen, wenn die Regierung es vorschreibt – nicht, weil ich es verstehe, sondern weil ich das tue, was zumutbarer ist als die Folgen, wenn wir es nicht tun und damit falsch liegen. Ich nehme hin, dass Läden geschlossen sind, auch wenn ich nicht immer einsehe, warum es diese oder jene Branche betrifft und diese oder jene nicht. Ich höre auf die Experten, die mir sagen, dass es eben nicht ideal ist, wenn wir uns alle schnell gegenseitig anstecken. Ich höre auf die Experten, die eben nicht behaupten, dass sei doch alle nur eine unangemessen dämonisierte Grippe. Ich glaube der Regierung, dass die momentanen Maßnahmen keine perfide Aushebelung der Demokratie darstellen (zumindest bei uns), sondern notwendige Beschränkungen wegen einer medizinischen, nicht politischen Krise sind.

Die Alternative wäre, auf mein Bauchgefühl zu hören oder auf die Schlaumeier im Internet – beides kann ich nicht guten Gewissens tun.

Natürlich kann, vielleicht soll, vielleicht muss man immer alles in Frage stellen, um als mündiger Bürger zu gelten – aber zur Mündigkeit gehört eben auch die Erkenntnis, dass man oft genug nicht die besseren Antworten hat und dass man Politiker gewählt hat, weil man hofft, dass sie kompetenter sind als man selbst.

Ich bin durch und durch Mentalitätsdeutscher – ich halte mich an Vorgaben nicht, weil ich zu doof oder zu faul bin, sie zu hinterfragen, sondern weil ich daran glaube, dass wir alle – Regierung eingeschlossen – letztlich im gleichen Boot sitzen und in die gleiche Richtung rudern. Die Aussage “die da oben werden schon wissen, was sie tun” mag naiv sein – aber nicht naiver als “ich weiß besser als die da oben, was zu tun ist”.

Ich glaube daran, dass wir hinterher aufräumen werden, das Bewährte zurück holen und neue Realitäten in unseren Alltag einpreisen werden. Wir werden mit einem blauen Auge davon kommen. Weil wir eben nicht auf die Schwätzer und Beschwerdenführer gehört haben, nicht auf Verschwörungstheoretiker und Panikmacher. Wenn die Rechnung kommt und die Bilanzen erstellt sind, dann können wir noch mal darüber nachdenken, was falsch gemacht wurde – und ob jemand anderes es richtiger gemacht hätte. Das ist, wie es sich gehört, ein Fall für die Wahlurnen.

Wir werden davon kommen, weil wir die Krise wie immer handhaben – sehr deutsch. Und ehrlich? Darauf kann man dann schon auch mal ein bisschen stolz sein.



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SvenBr.
SvenBr.
29. April, 2020 13:36

Danke für diesen hervorragenden Kommentar. Das bin so ich und ich hätte es nie und nimmer so in Worte fassen können.
Dickes “Daumen hoch”!

simop
simop
29. April, 2020 14:11
Reply to  SvenBr.

Ich kann mich hier nur anschließen!

Dietmar
29. April, 2020 14:05

Ich bin durch und durch Mentalitätsdeutscher

So sehe ich mich auch. Und als kulturellen Christen.

Das ist nicht der gleiche Stil aber bei mir der gleiche Effekt: Als ich Hoimar von Ditfurth las, bewunderte ich seine ellenlangen Schachtelsätze, weil er damit bei mir erreichte, das, was er sagen wollte, fragenlos zu verstehen. Dankenswerterweise schachtelst Du nicht. Aber Du bist für mich gleich effektiv im Abgrasen des gedanklichen Umfelds und dem Klären umliegender Fragen.

Hans
Hans
29. April, 2020 14:21

Die Aussage “die da oben werden schon wissen, was sie tun” mag naiv sein – aber nicht naiver als “ich weiß besser als die da oben, was zu tun ist”

Stimmt, das ist beides ziemlich naiv. Ich weiss es nicht besser als “die da oben”, halte es aber für zwingend, jeden Eingriff in unsere Grundrechte sehr gründlich zu hinterfragen und nicht einfach als “wird schon passen” abzunicken. Das Rad in Richtung Überwachung und Aushöhlung von Grundrechten dreht sich nicht automatisch wieder zurück, wenn die Gefahr gebannt ist. Insbesondere dann nicht, wenn niemand protestiert.

Dietmar
29. April, 2020 14:25
Reply to  Hans

Das Rad in Richtung Überwachung und Aushöhlung von Grundrechten dreht sich nicht automatisch wieder zurück, wenn die Gefahr gebannt ist.

Ehrlich? Du meinst ehrlich, dass, wenn die Pandemie vorbei ist, was nicht so schnell sein wird, irgendetwas von den Maßnahmen weiter bestehen bleibt? Was sollte das wohl sein?

Wolf Dieter Vogt
Wolf Dieter Vogt
29. April, 2020 14:28

Klasse geschrieben.

Nummer Neun
29. April, 2020 14:29

Wunderbar, vielen Dank für deinen fundierten Kommentar!

Was mir in vielen Argumentationen im Internet sehr auf die Nerven geht, das ist das ständige Verknüpfen von Themen. Wenn man das eine nicht macht, darf man das andere auch nicht machen. Oder wie kann man das eine tun, das andere aber nicht? Dabei gibt es oft genug zwischen den beiden Sachen keinerlei Zusammenhang.

Ich möchte in der aktuellen Situation kein Politiker sein (zugegeben, vorher wollte ich das auch nicht). Es ist ein verdammt schwieriger Job und die Welt ist sehr viel komplexer, als es sich der normale Facebook- oder Twitter-Kommentator so vorstellt. Dazu kommt, dass im Moment niemand weiß, was passiert, mit so einer Situation musste man in Europa schlicht seit 70 Jahren nicht mehr umgehen. Daher sollte man jede sich im Nachhinein als falsch herausstellende Entscheidung auch verzeihen können. Ich zweifle nicht daran, dass die Entscheidungsträger nach bestem Wissen und Gewissen handeln – und einer Angela Merkel wäre so ziemlich die letzte, der ich unterstellen würde, dass sie Einschränkungen zum Ausbau ihrer Macht verabschiedet. Ich finde es durchaus okay, wenn zur Zeit Gesetze erlassen werden, die dann vom Bundesgerichtshof wieder revidiert werden müssen, dass ist der Kürze der Zeit geschuldet. Nicht umsonst dauert es sonst Monate, um Gesetzt zu prüfen und zu erlassen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ein toller Kommentar!

Dietmar
29. April, 2020 16:01
Reply to  Nummer Neun

Wo kann ich hier unterschreiben?

Dr. Acula
29. April, 2020 16:09

“To err on the side of caution” – genau das muss momentan die Maxime sein. Wir sind in einer Situation, in der *so* noch niemand zuvor gewesen ist, alles, was wir an Präzedenzfällen haben, ist eben nicht 1:1 anwendbar, weil Covid nicht das selbe ist wie Schweinepest und die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage nicht so ist wie zur Zeit der Spanischen Grippe. Es ist eben alles im Fluss, darum muss das, was Drosten vor vier Wochen gesagt hat, nicht falsch gewesen sein und trotzdem heute nicht mehr Stand der Wissenschaft. So ist das nun mal, wenn auch die Experten weitestgehend im Blindflug amtieren.

Generell gesehen – uns als Gesellschaft ist die Fähigkeit zu Kompromissen abhanden gekommen. “Wir” (als postmoderne social-media-society) wollen simple Losungen und simple Lösungen, schwarz oder weiß, wer nicht für uns, ist gegen uns (das ist ja auch die Masche, mit der die AfD funktioniert), und das wird durch diese Krise – die eigentlich Anlass sein sollte, innezuhalten – wir haben ja jetzt die Zeit dafür -, sich zu besinnen und einfach mal komplett unsere kapitalistische Wertestruktur zu überdenken – leider täglich neu befeuert.

Dietmar
29. April, 2020 16:28
Reply to  Dr. Acula

Generell gesehen – uns als Gesellschaft ist die Fähigkeit zu Kompromissen abhanden gekommen.

Den Eindruck habe ich auch, aber die Hoffnung, dass das nur ein Eindruck ist und nicht die Realität. Denn vielleicht ist es einfach nur so, dass die extremen Positionen lauter geworden sind und dadurch größer erscheinen, als sie wirklich sind. GroKo arbeitet jedenfalls zusammen, kann man sagen, und wenn ich so, wie eben, durch unsere kleine Stadt gehe, sehe ich vor allem vernünftiges Verhalten.

Marko
29. April, 2020 23:55

“Und “ich weiß es nicht” ist gerade in einer hoch komplexen Situation eine völlig legitime, sogar entwaffnend ehrliche und sympathische Aussage.”

Vor allem ist “Ich weiß es nicht” bescheiden, und Bescheidenheit ist – gerade in Diskussionen – eine Zier.

ebenezer
ebenezer
30. April, 2020 00:23

Hoffe sehr, das immer mehr Menschen soo denken wie Du, und ich.

Irgendein griechischer Philosoph (ich glaube Sokrates) hat schon gesagt: Ich weiß, das ich Nichts weiß.

Imiak
Imiak
30. April, 2020 12:09
Reply to  ebenezer

Was Sokrates genau alles gesagt hat, ist nicht bekannt, da von ihm keine Schriften überliefert sind. Sokrates taucht nur in Texten seines (mutmaßlichen) Schülers Platon auf. Es ist meiner Erinnerung (Altgriechisch-LK – aber bald schon 20 Jahre her) nach hochumstritten, wo Sokrates aufhört und Platon anfängt. Wird man aber natürlich auch vermutlich nie genau ergründen können, von daher ist das an sich auch nicht so wichtig.
Und bei Platon kommt der Ausspruch in dieser absoluten Form gar nicht vor – es ist nur die verkürzte Fassung einer längeren Grundaussage aus der Apologie des Sokrates, die auf diese Kurzfassung heruntergebrochen wurde und daher etwas unscharf ist:

“…Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst: weiser als dieser Mann bin ich nun freilich. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen. …”
(Übersetzung von Schleiermacher, 1805)

Passt aber natürlich wunderbar auf die aktuelle Situation. Ich halte es auch für generell wesentlich klüger, das Nichtwissen zuzugeben als so zu tun als wisse man irgendwas, was zurzeit noch nicht einmal Spezialisten wissen.

Dietmar
30. April, 2020 08:47

Der Retter der Welt, der wahre Tony Stark, das Multigenie Elon Musk hat jetzt in mehreren Twitter-Kommentaren bekundet, es wäre an der Zeit, die USA zu befreien und die Corona-Sperren aufzuheben. Er hat uns ein Auto geschenkt, das einen Bruchteil der Reichweite eines Kraftfahrzeugs mit Verbrennungsmotor hat, er hat es möglich gemacht, dass Raketen selbst wieder landen (dass sie es schon vor Jahrzehnten konnten und man das nicht weiter verfolgte, weil man den Brennstoff dafür mitschleppen musste: geschenkt), er will Menschen in Vakuumröhren durch die Gegend schießen (eine Idee aus dem vorletzten Jahrhundert; damals nicht durchführbar, heute nicht durchführbar), produziert als Publicity-Stunt teuren Weltraummüll in Umlaufbahn-Höhe. Seine Fans kreischen begeistert.

Und jetzt weiß dieses “Genie” es wieder besser als die Wissenschaft.

sven
sven
30. April, 2020 12:31
Reply to  Dietmar

Bei jeder Erwähnung der Person denke ich an Lyle Lanley und ersetze gedanklich den Namen. Lyle Musk oder Elon Lanley, je nach Geschmack. Hilft, wenn man kurz davor ist ihn aus Versehen ernstzunehmen.

Dietmar
30. April, 2020 14:22
Reply to  sven

😀

Matts
Matts
6. Mai, 2020 13:20
Reply to  sven

MonoRail! MonoRail!! MonoRail!!!

Dietmar
13. Mai, 2020 07:50
Reply to  Dietmar

Der Technik-Guru himself gestern auf Twitter: “Tesla startet heute seine Produktion neu entgegen den Alamada-County-Regeln. Ich werde mit allen anderen in der Schusslinie stehen. Wenn irgendjemand verhaftet ist, verlange ich, dass es nur ich sein werde.” Was für ein Held! So mutig!

Gleichzeitig erklärt der orange Utan, dass die Tests überflüssig seien, denn die Frau von Stephen Miller wurde jetzt positiv getestet. Alle Tests davor zeigten keine Erkrankung. Also kann man diesen Tests nicht trauen. Per Twitter forderte der Möchtegerndiktator, dass man Musk erlauben müsse, seine Fabrik wieder zu öffnen. Musk bedankte sich artig.

Das sind Idioten.

Schlumpfine
Schlumpfine
30. April, 2020 09:28

In meiner Arbeit sitzen sehr oft Menschen vor meinem Schreibtisch und erklären mir, wie ich doch gefälligst meine Arbeit zu machen habe. Und ich denke dann…. man, man, man, ihr habt überhaupt keine Ahnung, was alles dazu gehört und beachtet werden muss. Und heute? Da bin ich diejenige, die vor dem Schreibtisch sitzt und keine Ahnung hat.

Seltsame Zeiten, interessante Zeiten, aufregende Zeiten – mit dem Luxus, keine Angst um meinen Arbeitsplatz zu haben.

In dunklen Stunden muss ich manchmal an “The handmaids tale” und die dort geschilderten Umstände der gesellschaftlichen Veränderungen denken und bin dann so froh, dass es “Quälgeister” gibt, die die Gerichte beschäftigen und aktuelle Grundrechtseinschränkungen hinterfragen und prüfen lassen.

Passen wir auf uns und unsere Lieben auf, seien wir wachsam und bleiben alle gesund.

Dietmar
1. Mai, 2020 08:24

Gestern Abend fand ich das erste Mal nichts von Dieter Nuhr lustig: Er begann seine Show mit einem Rant gegen die Corona-Maßnahmen und dagegen, dass sich die Vorgaben, die er der einem Wissenschaftler möglicherweise hörigen Angela Merkel zuschrieb (auf diesen “Witz” muss auch erst einmal jemand kommen) immer wieder änderten und auch die Bedingungen, unter denen sie das tun. Ebenso griff er das angebliche Aushöhlen der Grundrechte an und witzelte darum herum, teilte dabei aber auch nach der rechtsradikalen Seite aus: Regierung unfähig und inkompetent niederträchtig, die Rechten strohdoof. Haha. Wir drei saßen unamüsiert und verdattert da. Dreht der langsam durch? Für solch ein dämliches Gequatsche war uns der schöne späte Abend zu schade.

Heino
Heino
1. Mai, 2020 10:12
Reply to  Dietmar

Der ist leider schon länger auf dem Weg in die Lächerlichkeit. 2018 hatten wir noch seine recht gute Show in der Lanxess Arena gesehen, direkt danach liess er sich in der ARD ungetrübt von jeglichen Fakten über die Fahrverbote aus, griff die durchaus kritikwürdige Metoo- Bewegung auf unterirdische Weise an und zeigte auch in Bezug auf Fridays for Future, dass er nur noch Überschriften, aber keine kompletten Artikel liest. Schade, Ich fand den früher recht unterhaltsam, aber inzwischen ist er das Paradebeispiel des stupid white man

Dietmar
1. Mai, 2020 12:36
Reply to  Heino

Das, und dies unerträgliche Melken nach einem Gag. Billiger Witz ersetzt politische Pointe. Nichts gegen Kalauer etc. Aber was ist witzig an: “Vielleicht ist Merkel ihm ja hörig?! Man weiß ja nicht …” Meine Güte!

Dietmar
1. Mai, 2020 09:04

In Michigan haben jetzt mit automatischen Gefechtsgewehren schwer bewaffnete “Demonstranten” gegen die Corona-Maßnahmen das Regierungsgebäude besetzt. Zivilisten, angestachelt von ihrem eigenen Präsidenten, aufgeputscht von rechten Kräften, die bereits an der Regierung sind!

Vernunft ist nicht mehr zu erwarten, wenn es um die USA geht. Alles ist jetzt möglich.

Thies
Thies
1. Mai, 2020 17:51

Ich habe eben einen großen Wutanfall unterdrücken müssen nachdem mir Youtube den Werbeclip für die Sat1-Show “The Mole – Wem kannst Du trauen” untergeschoben hat. Wirklich? In einer Zeit in der wir aufeinander achtgeben sollten um uns selbst zu schützen bringt ihr eine Game-Show darüber, dass man niemandem trauen darf? WTF!

S.K.K.
S.K.K.
1. Mai, 2020 18:24

Ein sehr guter Kommentar, danke dafür.

Mein Lieblingssatz zurzeit ist übrigens “Lieber Vorsicht als Nachsicht.” Das passt ganz gut zu “to err on the side of caution”.

Joris
Joris
11. Mai, 2020 09:41

Toller Beitrag. Ich hoffe wir haben mehr Leute wie Dich und weniger Leute, die sich von Youtube Kommentaren beeinflussen lassen.