21
Aug 2017

Abstieg in die digitale Gosse

Themen: Neues |

Ihr kennt meine Geschichten aus Ibiza – auch die von der Absicht, dort internet-abstinent zu bleiben. Der Wunsch war der Vater des Gedankens, die Niederlage jedoch sein Kind. Die ersten Jahre gab es in der Wohnung keinen Internet-Anschluss, daher musste ich immer nach Eulalia in den Internet-Shop Ibi.Com fahren. Ich kann mich gut erinnern, wie ich 2010 der hibbeligen LvA die ersten Folgen „Downton Abbey“ geladen habe. Oder wie ich die Kapitel meines jeweils neusten Romans an den Verlag verschickte. Gute Zeiten, vor allem deshalb, weil Ibi.Com ein extrem angenehmer Internet-Shop war – die Rechner waren einheitlich und gut ausgestattet, mit ausreichend Speicher und flotten Prozessoren, um die Arbeit „home away from home“ so knapp wie möglich zu gestalten. Selten habe ich mehr als 1 Euro bezahlt.

Ein besonderes Plus bei Ibi.Com war zudem, dass ich meinen eigenen Rechner mitbringen und statt der vorhandenen Desktops ins Netzwerk einstöpseln durfte. Das war erheblich sicherer und erlaubte mir die direkte Verwendung meiner Daten und Programme.

Vor drei Jahren kam ein DSL-Anschluss in die Ibiza-Ferienwohnung und damit erledigten sich die Trips zu Ibi.Com eigentlich. Wirklich begeistert war ich davon nicht, denn den Mangel an „always online“ hatte ich als durchaus befreiend empfunden. Wenn ich Zugang habe, bin ich auch im Netz unterwegs. Und damit bin ich auch nicht wirklich „weg“, nicht 100 Prozent „im Urlaub“.

Wir sind gerade das erste Mal seit 3 Jahren wieder in der Wohnung auf Ibiza und haben festgestellt – Internet geht nicht. Zwar scheint die Leitung zu stehen und das Passwort zu stimmen, aber der Rechner meldet, ich solle mich doch vielleicht näher an den Router setzen, um die Verbindung zu stärken – während ich neben dem Router sitze. Da geht nix. Also habe ich mir beholfen, in dem ich unsere beiden Macbook Air über das Tethering mit dem iPhone verbunden habe. Das ist erstaunlich einfach, erstaunlich stabil, erstaunlich schnell und erstaunlich günstig – ich musste lediglich noch mal 5GB Datenvolumen zu meinen mageren 300MB hinzu buchen.

Das Problem: Größere Downloads will man angesichts der Restriktionen lieber vermeiden, und alle paar Tage haben sich Sachen angesammelt, die ich mir gerne anschauen, aber nicht über das Smartphone streamen möchte. Außerdem musste die LvA ein paar Grundrisse ausdrucken. Also doch wieder ein Trip zum Internet-Laden.

Leider gibt es Ibi.Com nicht mehr. In dem Geschäft befindet sich nun ein Friseur, was die LvA gleich zum Anlass nahm, sich die Haare machen zu lassen. Erfreulicherweise ist aber 200 Meter weiter ein anderer, sogar deutlich größerer Internet-Laden zu finden. Klimagekühlt, Snacks und Getränke vorrätig. Das sollte ausreichen, um in einer flotten halben Stunde die notwendigen digitalen Aufgaben zu erledigen.

Pustekuchen. Es ist ein Ausflug in die digitale Gosse.

Zuerst einmal kann ich im Laden mein Macbook Air NICHT anstöpseln. Auch nicht über WLAN verbinden. Sämtliche Arbeiten müssen an den vorhandenen PCs verrichtet werden. Und die sind eine Mischung aus alt, versifft und schadhaft – in wechselnden Proportionen. An manchen Tischchen stehen fette Desktops auf dem Boden, an anderen kleinere PC-Boxen auf dem Tisch. Bei manchen muss man hinter den Desktop kriechen, um einen freien USB-Port zu finden, andere sind mit Webcam und Headset auf Skype ausgelegt.

Allen gemeinsam sind schmierige Cherry-Tastaturen im 90er Jahre-Stil und mit spanischer Belegung – X und Z vertauscht, keine Umlaute, Sonderzeichen an den „falschen“ Stellen. Das ist sehr erfreulich für Blindtipper wie mich, jede Eingabe wird zur Quälerei – und hinterher möchte ich mir die Finger mit Sagrotan säubern.

Symbolbild
Symbolbild

Hinzu kommt, dass die Rechner keine einheitliche Software-Ausstattung haben – auf diversen Desktops nervt ein Fenster, dass man doch bitte Windows 10 registrieren möge, andere haben Popups, die auf Malware schließen lassen. Den USB-Stick einzuschieben, bekommt etwas Obszönes, es wird ein Akt der Prostitution, Furcht vor digitalen Geschlechtskrankheiten kommt auf.

Erwähnte ich, dass Windows hier natürlich auf Spanisch eingestellt ist und ich mir die entsprechenden Begriffe für öffnen, schließen, löschen, speichern etc. erstmal beibringen muss? Logo. Einiges kann ich mir zusammenreimen, weil ich ungefähr weiß, WO es sich befindet. Torpediert werden diverse Versuche allerdings von der Tatsache, dass ich seit sieben Jahren nur noch mit Macs arbeite und mir Windows 10 total fremd ist. Egal, da beiße ich mich durch.

Natürlich hat der Rechner an Station 14 die Software, die ich für meine Arbeit brauche, nicht installiert. Also lade ich sie runter und installiere sie. Außerdem aktiviere ich noch ein paar andere Tools, um für etwas mehr Sicherheit zu sorgen. Die Tatsache, dass das überhaupt möglich ist, macht mich unruhig. Der Rechner scheint null gesichert. Während die Downloads laufen, schaufele ich fertige Dateien immer wieder auf die mitgebrachten USB-Sticks, damit die LvA sie wiederum auf das mitgebrachte Macbook laden kann. Keine elegante, aber eine praktikable Methode.

Immer wieder werfe ich unauffällige Blicke auf die anderen Besucher des Internet-Ladens. Natürlich ist hier nichts abgeschirmt, jeder kann bei jedem zuschauen. Es gibt durchaus normale und erfreuliche Vorgänge: ein kleines Mädchen schaut auf YouTube eine Disney-Serie namens „Paw Patrol“ – vermutlich ist die Mama gerade einkaufen. Ein junger Mann arabischer Herkunft skyped mit zwei jungen Frauen – ich vermute, es sind seine Schwestern daheim. Eine Frau ruft Emails ab.

Aber da sind auch Leute, die ich weniger sympathisch finde: ein extrem verschwitzter und entsprechend riechender Mann um die 60 ist auf rumänischen Nachrichtenseiten unterwegs – und es ist kein Klischee, dass die meisten Rumänen zur Hauptsaison eigentlich nur deshalb nach Ibiza kommen, um sich der weniger legalen Eigentumsverschiebung zu widmen. Und gleich neben ihm sitzt ein Alt-Hippie, der einen ganz besonderen Fetisch pflegt – er schaut Videos junger Asiatinnen, die große Mengen Speisen und Getränke verzehren. Davon habe ich schon mal was gelesen. Wenig vertrauenerweckend ist auch der junge Mann mit dem Aggressionsproblem, der auf YouTube Fußballspiele anschaut und bei dramatischen Szenen immer wieder laut fluchend mit der Hand gegen den Bildschirm haut.

Die Rechner, die Besucher – kein Ort, an dem man länger als nötig bleiben möchte.

Die LvA versucht nun, den Ausdruck ihrer Grundrisse anzustoßen. Sie geht zum Tresen und fragt die sehr augenscheinlich gelangweilte junge Frau, ob sie 10 Seiten PDF vom USB-Stick drucken könne. In A3. Drucken kann die junge Frau schon, weil sie den Befehl command-P kennt. A3? Nee, ham wa nich. Obwohl alle drei Drucker/Kopierer hinter ihr Fächer für A3-Papier haben. Mir kommt der leise Verdacht, dass sie nur nicht weiß, wie man einen Ausdruck auf A3 umstellt – und auch kein Interesse hat, es zu lernen.

Wo bleibt denn das Positive? Nun ja, wenigstens sind die Downloads angemessen fix, um die 5MB pro Sekunde pladdern auf die schrammelige Festplatte. Das macht die Wartezeiten erträglich.

Derweil schaue ich mir mal an, was sich so auf dem Rechner befindet, an dem ich gerade arbeite. Der Download-Ordner ist eine wahre Fundgrube. Es macht mich fassungslos, was die Leute hier alles zurücklassen, wenn sie fertig sind. Allein drei Bordkarten für Flüge innerhalb Europas, zwei davon noch gültig. Mit den vorliegenden Angaben könnte ich sie stornieren. Diverse Bilder, vielleicht nicht anstößig, aber doch privat genug, um in den Papierkorb zu gehören. Ein Kündigungsschreiben einer jungen Dame, von der ich nun Adresse, Ex-Arbeitgeber, Beruf und aktuelle Beschäftigung kenne. Ein paar raubkopierte Bücher. Tools, die kein gesicherter Rechner hätte downloaden dürfen. Dieses digitale dumpster diving macht mir wirklich Angst. Würde ich selber noch einen PC benutzen, würde ich meine USB-Sticks einer digitalen Desinfektion unterziehen.

Die Ausdrucke der LvA sind fertig – oder eher nicht. Die Blätter sind fast komplett weiß, nur an den Rändern ist mal der eine oder andere Strich zu sehen. Die junge Dame hofft, dass die LvA es nicht bemerkt. Die LvA bemerkt es. Nein, die junge Dame kann nichts dafür und es auch nicht ändern. Im Drucker-Menü die Option „auf Papiergröße anpassen“ zu aktivieren, das ist wirklich zu viel verlangt. Genervt gibt die LvA mir den Stick, ich wandele die PDF-Dateien in JPG um und beschneide sie seitengerecht. Jetzt sollte es gehen. Die ersten vier Seiten kommen in der Tat korrekt aus dem Drucker. A4, aber immerhin. Dann kommt eine Doktorarbeit, wie ich vermute. Eine Frau von Station 3 hat sich eingeklinkt und ihren Ausdruck dazwischen geschoben. Wir fragen, wie viele Seiten das werden. 219, sagt sie. Ihr Blick fügt hinzu: dumm gelaufen, was?

Das wird zehn Minuten dauern. Wir entscheiden uns für einen Kaffee gleich um die Ecke, packen alle unsere Sachen ein und verabschieden uns temporär. Es tut gut, aus dem schwitzigen, schmierigen Internet-Laden rauszukommen. Aber wir müssen noch mal zurück – die Ausdrucke holen und einen weiteren Download anstoßen.

Als wir zurückkommen, ist Station 14 besetzt. Obwohl noch fünf weitere Plätze frei sind und sie wusste, dass wir wiederkommen, hat die junge Dame hinter dem Tresen „unseren“ PC erneut vergeben. Wir bekommen nun Platz 5 zugewiesen. Ich bin etwas angefressen, denn nun muss ich für einen einzigen Download meine Tools NOCHMAL installieren. Leider hat dieser PC aus unerfindlichen Gründen Antivirus-Software an Bord, die noch dazu den Zugang zu vielen grauen Webseiten und den Download von Software komplett blockiert.

Ich seufze und intensiviere meine Spanischkenntnisse, um der Antiviren-Software ein paar Ausnahmen hinzu zu fügen, damit meine Tools nicht mehr blockiert werden. Die LvA findet es sehr sexy, dass ich sowas kann. Nach zehn Minuten habe ich sämtliche Security des Rechners ausreichend kastriert, um meine Vorhaben umsetzen zu können. Der letzte Download läuft, während die LvA ihre nun vollständigen und korrekt ausgedruckten Grundrisse abholt.

Nachdem alles erledigt ist, lösche ich alle meine digitalen Spuren, kontrolliere noch einmal, ob meine USB-Sticks keine unerwünschten blinden Passagiere mitnehmen und fahre die Security Suite am Rechner wieder auf 100 Prozent. Es bleibt unfassbar, dass kein digitaler Alarm ausgelöst wird, dass am Tresen keinerlei Warnung aufblinkt, dass hier jemand tief in die Innereien des Rechners greift. Alles geht. Keine vertrauenswürdige Philosophie für einen Internet-Laden.

Immerhin: 1,80 Euro für fast zwei Stunden Netz und zehn Ausdrucke. Wie in einem schäbigen Bordell: nicht schön, aber wenigstens billig.

Als wir in die Sonne treten, bin ich seltsam nervös. Ich komme mir vor, als hätte ich gerade im Darknet Drogen gekauft und auf dem Haus gegenüber lägen bereits die Scharfschützen einer spanischen Sondereinheit. Der Internet-Laden hatte etwas so inhärent Halbweltiges, dass man ihn eigentlich in einen deutschen Hauptbahnhof anno 1974 verorten möchte – direkt neben dem Pornokino. So sollte ein Besuch im Netz nicht laufen müssen.

Ich vermisse Ibi.Com.

Als wir wieder im Apartment sind und ich mein Macbook öffne, ist das wie eine Rückkehr ins Paradies: das klare Design des MacOS, der blanke Aluminium-Body, der aufgeräumte Desktop. Nichts klebt, nichts riecht. Wunderbare digitale Sterilität.



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4 Kommentare
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Comicfreak
Comicfreak
21. August, 2017 10:09

..stimme der LvA zu

Heino
Heino
21. August, 2017 13:50

In einem Internet-Cafe war ich auch schon ewig nicht mehr. Zum Glück musste ich die nie für mehr als ein paar Emails oder Ausdrucke nutzen, aber hier ist der Standard ja auch wesentlich höher. So eine Siffbude, wie du so hier schilderst, ist mir aber auch noch nicht begegnet. Was mich allerdings immer genervt hat, war die auch von dir geschilderte Tatsache, dass meist kein einheitlicher Standard bei den Installationen auf den Rechnern herrscht.

Jake
Jake
21. August, 2017 15:05

“er schaut Videos junger Asiatinnen, die große Mengen Speisen und Getränke verzehren. Davon habe ich schon mal was gelesen.”

Bin erst vor ein paar Tagen bei einem YouTube-Streifzug auf ein Video gestoßen, in dem eine junge Dame dem Zuschauer erzählt, sie wollte jetzt eigentlich ein “Mukbang-Video” drehen, aber sie hätte vorhin schon gegessen und gerade keinen Hunger. Hatte keinen Schimmer, wovon die redet, aber jetzt wird ein Schuh draus. Sachen gibt’s…

Marko
21. August, 2017 20:17

Nette Geschichte. Glaubhafter wäre sie natürlich, wenn im Internetcafé ein Haufen versiffter 90er-Jahre-iMacs vor sich hingestunken hätte und man nach Hause erleichtert zu seinem blitzblanken Windowsrechner im edlen Barebonegehäuse zurück gekommen wäre.

😛