06
Jun 2017

True Story: The Miracle Mile

Themen: Diet Diary |

Ich will laufen. Die Klamotten und die Schuhe liegen seit dem Morgen bereit. Aber es ist zu heiß. Über 30 Grad im Schatten. Da hole ich keinen neuen Rekord, allenfalls einen Hitzetod. Es heißt ja joggen, nicht quälen – oder gar sterben.

Also warte ich, bis die Sonne hinter dem Fremersberg verschwindet, ohne sofort alles Tageslicht mitzunehmen. Ein Fenster von vielleicht einer halben, dreiviertel Stunde tut sich auf, in dem ich noch nicht wie ein Depp mit einer Lampe am Stirnband joggen muss. Rein in die Laufkleidung. Gibt es ein Gegenstück zu “pellen”? Ich ächze und schiebe alle Probleme auf das Kompressions-Shirt.

20.00 Uhr. Es ist immer noch drückend draußen, aber nicht mehr so stechend, dass ich alle 100 Meter zur Wasserflasche greifen muss. Was auch schwierig wäre, da ich ohne Wasserflasche laufe. Leichtes Gepäck: nur der Wohnungsschlüssel, der MP3-Player, die Sportkopfhörer – und 99 Kilo Kampfgewicht auf dem Asphalt.

Die ersten 500 Meter sind leicht, denn ich spaziere sie, um mich aufzuwärmen. Dazu passt, dass es hier noch durchs Wohnviertel geht, wo die Lauferei keinen Spaß macht. Erst an der großen Kreuzung mit der Ampel und den zwei Radarfallen, wo es auf die andere Seite der B 500 geht, beginnt der Kiespfad, der von Bäumen gesäumt flach und geradewegs zu einer kleinen Parkanlage führt. 2500 Meter. Inklusive Aufwärmstrecke und Rundlauf im Park zur Halbzeit sind das knapp 6000 Meter hin und zurück.

Während sich die Muskeln in meinen Beinen lockern, denke ich darüber nach, was ich geschafft habe – und was noch zu schaffen ansteht. Mein bisheriger Rekord liegt bei 28 Minuten Jogging am Stück, was ich in knapp 3200 Meter Strecke umgerechnet habe. Nicht schlecht für gerade mal drei Wochen Training. Aber das Endziel liegt noch in weiter Ferne: 5000 Meter am Stück – und das idealerweise in gut 30 Minuten. Ich bin froh, mit dem Couch to 5K-Programm immer einen professionellen Trainer im Ohr zu haben, der mich anfeuert, aber auch mahnt, es nicht zu übertreiben.

Heute will ich es aber mal anders probieren.

Das Couch to 5k-Programm wird ausgelassen, stattdessen steht auf meinem MP3-Player ein Rockmix aus den 80ern in den Startlöchern. Lauter fiese Schweinemusik, gerne aus aufgeblasenen Actionfilmen, die vom großen Traum handeln und von der Kraft, nie aufzugeben. Eine Playlist, wie Sylvester Stallone sie in “Rocky” beim Lauf die Stufen rauf benutzt hätte – wenn es damals schon MP3-Player gegeben hätte. Solche Sachen halt:

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Ich will einfach mal laufen und sehen, wie weit ich komme. Schaffe ich auch ohne die Trainerin vom Couch to 5k-Programm wieder 3200 Meter? Treibt mich die Musik gar noch ein bisschen weiter? Ich habe meine Zweifel, weil mir klare Vorgaben und klare Ziele normalerweise hilfreich sind. Aber ich will es versuchen. Es schaut mir ja keiner zu.

An der Stelle, wo meiner bisherigen Erfahrung nach die Aufwärmphase vorbei ist, drücke ich “play”. Es geht mit Blurs “Song 2” los. Trotz Damon Albarns treibendem Gebrüll laufe ich langsam los, finde aber schnell meinen Rhythmus. Nicht unnötig überanstrengen, denke ich, “the race is long, and in the end, it’s only with yourself”.

Fünf Minuten, zehn Minuten, fünfzehn Minuten, die ich nur grob in Songs messen kann, denn ich habe keine Uhr dabei. John Parr, Van Halen, Gary Moore. Never give up, come out on top, can’t be broken. Augen geradeaus, Atmung gleichmäßig.

Ich sehe weit vor mir den kleinen Park in Sicht kommen, der ungefähr die Hälfte meiner üblichen Laufstrecke signalisiert. Eine Runde vorbei an Grillern und Bier trinkenden Jugendlichen, dann noch zwei- bis dreihundert Meter und das Pensum ist geschafft.

Mir fällt auf, dass ich nicht erschöpft bin. An diesem Punkt müsste ich erschöpft sein. Nicht genug, um abzubrechen, aber merklich erschöpft. Heute nicht. Noch bevor ich den Park erreiche, ahne ich, dass ich heute vielleicht weiter komme als gedacht.

Der Park ist eine psychologisch wichtige Wegmarke, denn er markiert den Wechsel von Hin- zu Rückweg. Außerdem hat er eine kleine Steigung, nur ein paar Meter, die mich zwingt, ein wenig mehr Kraft zu investieren. Ich laufe zu Stan Bushs “The Touch” ein, dem Titelsong aus dem “Transformers”-Trickfilm der 80er:

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Nach der Runde im Park bin ich gewöhnlich ziemlich runter und freue mich schon darauf, dass Linda vom Couch to 5k-Programm nun bald sagen wird:

“You’re doing great. Only two more minutes to go. Keep it up!”

Ab dann ist es nur noch eine Frage von Durchhalten. Die letzten Schritte, danach ein entspannter, verschwitzter Spaziergang heim.

Not today.

Ich bin nicht müde und es gibt keine Linda, die mir sagen wird, dass ich genug geleistet habe. Heute halte ich nicht an, solange ich meinen inneren Schweinehund an der Kette halten kann. Das fällt mir gerade nicht schwer.

Vor mir geht ein Typ in Sportkleidung. Leicht übergewichtig, ein Anfänger wie ich. Als ich ihn überhole, fühlt er sich herausgefordert. Er startet durch, überholt mich, zieht davon. Ich lasse mich nicht provozieren. Nach kaum 200 Metern muss er japsend wieder anhalten. Ich grinse. Slow and steady wins the race.

Es ist jetzt fast dunkel. Ich schwitze stark, wische mir immer wieder den Schweiß aus dem Nacken. Die Brille rutscht. Vielleicht noch bis zur Kreuzung laufen, also 300 Meter drauf legen? Ich erreiche die Kreuzung. Die nächste Fußgängerbrücke? Ein guter visueller Zieleinlauf wäre das. An der Fußgängerbrücke denke ich nur “nein” und laufe weiter. Wie lange schon? Keine Ahnung.

Ein Gedanke schleicht sich in meinen Kopf: Ich könnte bis nach Hause laufen. Könnte ich bis nach Hause laufen? Vielleicht nicht. Aber Versuch macht kluch.

Frankie goes to Hollywood trifft die Entscheidung – “Born to run”:

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Ich denke so viel über die Aussicht nach, meinen persönlichen Rekord zu schlagen, dass ich kaum merke, wie ich bereits in unsere Straße einbiege. Vor unserer Wohnungstür bleibe ich stehen, schalte den MP3-Player ab und lehne mich an die Hauswand. Meine Beine sind plötzlich wie Gummi, aber nur für zwei Atemzüge. Dann geht’s.

Die LvA ist mittlerweile heimgekommen. Sie schaut mich an: “Du siehst aber fertig aus. Wie ist es denn gelaufen?”. Ich winke ab: “Ich muss das erstmal verarbeiten.”

Nach einer langen, kühlen Dusche setze ich mich in Boxer-Shorts und frischem T-Shirt an mein Macbook. Ich will es nun wissen, im wahrsten Sinne des Wortes. Google Maps ist meine einzige Möglichkeit, die gelaufene Strecke zu rekonstruieren. Auf einmal bereue ich es doch, meine Läufe nicht mit einer APP zu protokollieren.

Nach ein paar Minuten habe ich das Ergebnis zusammen geklickt. Alles über 3200 Meter wäre ein Erfolg, wäre mehr, als ich mir ohne das Couch to 5k-Programm zugetraut hätte:

5,42 Kilometer. Ich bin gerade 5,42 Kilometer gelaufen. Genauer gesagt um die 5,2, denn fairerweise muss man die Anlaufstrecke abziehen, bevor ich den MP3-Player eingeschaltet habe.

5,2 Kilometer. Zwei Kilometer mehr als vor drei Tagen, eine Steigerung um fast 60 Prozent. Was psychologisch noch wichtiger ist: ich habe das Couch to 5k-Programm damit offiziell beendet. Ich war eine Sofakartoffel und kann nun 5 Kilometer am Stück laufen. What a difference a month makes.

Ich brauche neue Laufschuhe. Und einen umfangreicheren Rockmix.



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Heino
Heino
6. Juni, 2017 06:59

Gratuliere, damit ist eine wichtige Hürde geschafft. Aber lass dich nicht täuschen, sowas ist auch von der Tagesform abhängig und kann beim nächsten Lauf völlig anders aussehen. Mir hilft Musik auch beim Durchhalten, man muss nur aufpassen, dass man seinen eigenen Laufrhythmus beibehält und sich nicht der Geschwindigkeit der jeweiligen Lieder anpasst.

Clemens
6. Juni, 2017 09:00

Tu dir auf jeden Fall den Gefallen und lass dich bezüglich Laufschuhen in einem richtigen Laufshop beraten und kauf sie nicht von der Stange. Ein optimal passender Laufschuh kostet dich vielleicht einen 20er mehr, ist aber für deinen Bewegungsapparat unbezahlbar… grade für uns etwas schwereren Läufer… 😉

Clemens
6. Juni, 2017 09:09

naja, ich meine ja schwer ich Vergleich zu einem leichtfüssigen Kenianer 😉

S-Man
6. Juni, 2017 09:19

Oh Gott, ich BRAUCHE deine Playlist! Wäre super wenn du mal bei Youtube eine erstellst, ginge das? 🙂 Ich glaube da ist noch jede Menge geiler Schund dabei, den ich leider noch nicht kenne

Jake
Jake
6. Juni, 2017 09:20

“Ein Fenster von vielleicht einer halben, dreiviertel Stunde tut sich auf, in dem ich noch nicht wie ein Depp mit einer Lampe am Stirnband joggen muss.”

Deppen sind vielmehr die “Möchtegern-Ninjas”, die bei Dunkelheit auf unbeleuchteten Wegen dunkel gekleidet, ohne Stirnlampe und/oder Reflektionsweste laufen, so dass sie von Fahrradfahrern/anderen Läufern fast über den Haufen gefahren/gerannt werden. 😉

Gratuliere zur erfolgreichen Absolvierung des 5k-Programms!

Jake
Jake
6. Juni, 2017 10:45

@Torsten: “Deswegen bin ich ja bei Tageslicht gelaufen. Ich bin kein Ninja und auch nicht Batman.”

Der Ninja-Vergleich war natürlich nicht auf Dich bezogen. Wollte damit nur sagen, dass man sich als Läufer mit Stirnlampe nicht deppert vorkommen muss, wenn mal kein Tageslicht vorhanden ist. Im Winter ist das für viele ja eher die Regel als die Ausnahme.

Dr. Acula
6. Juni, 2017 11:51

Pah, die Songs hör ich doch lieber von der Couch aus 🙂

spargelstecher
spargelstecher
6. Juni, 2017 15:35

Wie, du läuft “bis dahin vielleicht schon im Studio”? Ich bin fassungslos.

Da les ich voller Begeisterung von deinem Wandel zum Läufer, und dann willst du auf einem Laufband laufen? Unglaublich.

Beim Laufen geht es ums Vorwärtskommen. Über das Bewegen durch die Natur (die auch mal städtisch sein darf). Um das Gefühl, jede kleine Wetteränderung zu spüren, zu schwitzen, nass zu werden, trockengepustet zu werden, zu frieren. Um all das.

Nichts davon findet man in einem “Studio”.

Bei allem Respekt: Läufer mit Stirnlampe als Deppen zu bezeichnen und als Alternative auf einem Gummiband auf der Stelle auf und ab zu hüpfen, ist – ohne Worte.

Heino
Heino
6. Juni, 2017 17:01

In der Tat, das ist sehr kleingeistig. ich nutze auch regelmäßig, das Laufband im Studio, besonders bei schlechtem Wetter. Nicht jeder will beim Laufen vom Regen durchnässt werden oder steif gefroren nach Hause kommen. Und wenn ich eh schon für das Studio bezahle, kann ich auch das Laufband nutzen. Das macht mich nicht weniger zum Läufer als andere.

spargelstecher
spargelstecher
6. Juni, 2017 17:35

Sagt ihr einem Schwimmer, der euer Training in der Badewanne kritisiert, auch, er habe eine extrem begrenzte Sicht der Möglichkeiten?

Keine Sorge, ich hab gar keine Lust mehr, hier zu kommentieren. Mitlesen genügt voll und ganz.

Bisweilen amüsier ich mich über jemanden, der nach London und Manchester und sonstwohin jettet, aber der meint, bei 30 Grad ein paar Meterchen durch die Gegend zu traben sei besonders gefährlich.

Dietmar
6. Juni, 2017 20:01

Gibt es ein Gegenstück zu „pellen“?

Witzig: Mir fällt dadurch ein, dass wir früher manchmal “anpellen” sagten. Hatte ich völlig vergessen.

Dietmar
6. Juni, 2017 20:08

So, jetzt komplett gelesen: Glückwunsch!

Feivel
Feivel
6. Juni, 2017 23:25

Ich treibe Spargelstechers Attitüde sogar noch auf die Spitze und prophezeie: das Studio ist jetzt noch eine fixe Idee, aber aufm Band wird der Wortvogel nicht glücklich, sondern bleibt lieber draußen.

..aber das wird sich ja zeigen, auf jeden Fall Gratulation zu den ersten 5k!

Heino
Heino
7. Juni, 2017 06:44

@Feivel:das geht mir grundsätzlich auch so, aber als Ergänzung ist das Laufband durchaus eine gute Sache.

Heino
Heino
7. Juni, 2017 06:47

“Sagt ihr einem Schwimmer, der euer Training in der Badewanne kritisiert, auch, er habe eine extrem begrenzte Sicht der Möglichkeiten?”

Das ist überheblicher Schwachsinn. Sind für dich dann auch nur die Profis aus der 1. Liga echte Fußballer und die Regionalligisten und Hobby-Spieler Deppen und Möchtegerns, die ihre Zeit vergeuden?

Jake
Jake
7. Juni, 2017 08:19

@Heino: Nach Spargelstechers Schwimmer-/Badewannen-Vergleich steht ein Laufband-Nutzer wahrscheinlich auf der selben Stufe wie ein schmerbäuchiger Tischkicker-Spieler, der seine Handgelenk-Akrobatik im heimischen Wohnzimmer für Bundesliga-Fußball hält.

S-Man
11. Juni, 2017 10:37

Danke für die Playlist: Nicht übel 😀