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Mrz 2017

Hyperland Redux (4): Kartenkino statt Kinokarten: Kommt das ALDI-TV?

Themen: Film, TV & Presse, Hyperland |

Originaltext April 2013:

Der britische Supermarkt-Filialist Tesco lässt seine Kunden fleißig Treuepunkte sammeln – und bietet dafür jetzt neben Prämien und Gutscheinen Zugriff auf ein Streaming-Portal im Internet. Filme und Serien bekommen Besitzer einer Tesco Clubcard umsonst auf den Bildschirm. Eine Belohnung mit doppeltem Boden…

In England ist Tesco einer der Marktführer unter den Supermarktketten – und allgegenwärtig: hat man keine Filiale in der Nachbarschaft, findet man meistens einen „Tesco Express“ mit reduziertem Sortiment. Weltweit rangiert das Unternehmen hinter Walmart, aber vor Metro. Jahresumsatz: 70 Milliarden Euro.

Wie viele andere Unternehmen gibt Tesco eine eigene Kundenkarte aus, die Clubcard. Und wie bei vielen anderen Unternehmen ist der Preis, den die Kunden für Coupons und Rabatte bezahlen, die totale Durchleuchtung: Tesco registriert, was die Kunden wann und wo kaufen, wertet ihre Daten auf breiter Front aus. Wer an der Kasse die Karte vorzeigt, gibt auch den Inhalt seiner Einkaufstasche preis.

Ein nur scheinbar kostenloses Angebot

Die Tatsache, dass die Clubcard nun auch den Zugriff auf ein Streaming-Portal erlaubt, erscheint im ersten Augenblick wie ein sympathischer Bonus, zumal die Filme und Serien keine der gesammelten Punkte kosten – es reicht, eine der kostenlosen Clubcards zu besitzen. Zu glauben, dass Tesco diesen Service nur aus Kundenfreundlichkeit anbietet, wäre allerdings naiv. „ClubcardTV“ ist vielmehr ein raffiniertes Marketinginstrument, bei dem der Nutzer mit seinen Daten zahlt.

Das System funktioniert so einfach, dass es die meisten Kunden kaum wahrnehmen: Die Clubcard hat gespeichert, was der Kunde kauft. Logged er sich mit ihr beim Streaming-Portal ein, werden seine Einkaufsgewohnheiten geprüft und der gewählte Film oder die Serie wird von dazu passenden Werbespots unterbrochen. „Targeted ads“ nennt das die Werbebranche.

Damit nicht genug: durchaus vorstellbar, dass auch die Filmauswahl selbst in das Datenprofil des Kunden einfließt. So bekommt ein Fan von Actionfilmen im Sommer vielleicht mehr Bierwerbung gezeigt, während jemand mit Hang zur Liebeskomödie Schokolade und Taschentücher empfohlen bekommt. Die Belohnung für die Freigabe der eigenen Daten führt so zur Freigabe von noch mehr Daten – und einem immer feineren Profil über die Vorlieben des Nutzers.

Der Kunde nimmt die Datensammelei im Hintergrund meistens gar nicht, bestenfalls sogar wohlwollend wahr: im Gegensatz zum Privatfernsehen bekommt er beim Tesco-Portal nicht irgendwelche beliebigen Werbeunterbrechungen vorgesetzt, sondern Spots, die ihn (hoffentlich) wirklich interessieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass er während einer Werbung wegschaltet oder wegsurft, wird damit reduziert.

Kaufen, um gucken zu dürfen

Vorstellbar, dass auch deutsche Unternehmen anfangen, ihren fleißigen Punktesammlern ein ähnliches Portal anzubieten. Die Kosten wären überschaubar, könnten über Werbung refinanziert werden und als „Abfallprodukt“ ließen sich Rückschlüsse aus den Filmvorlieben der Nutzer und den Abrufzeiten ziehen. Das ist so lange unproblematisch, so lange der Kunde die freie Wahl hat. Was aber, wenn das Streaming-Portal zwar kostenlos bleibt, den Zugriff auf höherwertige Filme aber vom Punktestand auf der Karte abhängig macht? Oder wenn das Log-In nur so lange funktioniert, wie man mindestens einmal die Woche zum Betreiber-Supermarkt einkaufen geht? Dann wird aus dem kostenlosen Angebot schnell eine Form „weicher“ Nötigung.

Bevor es so weit ist, muss sich ClubcardTV erst einmal noch im Praxistest bewähren. Momentan ist das Angebot an Filmen und Serien sehr überschaubar und bietet neben alten Sitcoms und Kindersendungen vor allem eins: Kochshows. Die Zutaten gibt’s ja bei Tescos.

NACHTRAG 2017: Schon ein gutes Jahr später war bei ClubcardTV wieder Sendeschluss. Und mittlerweile gerät auch Tesco selbst massiv unter Druck, weil sich deutsche Discounter wie ALDI und LIDL auf der Insel immer mehr durchsetzen.



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Jake
Jake
31. März, 2017 13:57

Kaum verwunderlich, dass sich dieses Konzept nicht lange gehalten hat. Der einzige Vorteil (kostenlose Nutzung) wiegt die Nachteile (mieses Angebot, Werbung, gläserner Kunde) nicht ansatzweise auf. Zumal man jetzt ja nicht wirklich Unsummen ausgeben muss, um sich werbefreien Zugang zu einem breit gefächerten Streaming-Angebot zu verschaffen (Netflix, Amazon Prime usw.).