17
Dez 2011

Am Nachmittag, im Hotel, beim Kaffee

Themen: Neues |

Ich will nach dem Essen nicht gleich wieder aufs Zimmer. Mir ist noch nach süßen Schweinereien, also treibt es mich zur Patisserie im großen Lounge-Bereich vor dem Nachtclub des Hotels. Die Auslage hat Wiener Qualität, ich wähle zwei Pralinés und Erdbeeren auf Vanillemousse in einem Becher aus Schokolade.

Das breite, tiefe und sehr weiche Sofa nimmt mich leise ausatmend auf, als hätte es nur auf mich gewartet. 20 Seiten “Sonky Suizid” habe ich mir vorgenommen. Draußen, jenseits der Drehtür zum Poolgarten, streunt die gut genährte schwarzweiße Katze herum, die ich gestern Nacht neben dem Heizstrahler gestreichelt habe, während sie schnurrend eine Decke knetete. Entspannung, so sieht sie aus.

Eine livrierte Kellnerin steht binnen Sekunden neben mir, knipst eine Lampe an, damit ich besser in meinem Buch lesen kann, fragt nach meinen Getränkewünschen. Ein Cappuccino, bitte. Während ich das Lesezeichen aus dem Roman nehme, fällt mir das Ehepaar auf, das im Sofa direkt gegenüber sitzt. Obwohl ohne jeden Beleg, ist die Tatsache, dass beide verheiratet sind, trotzdem nicht zu leugnen. Leger, aber teuer gekleidet, mit dem Alter angepasst dezenter Sportswear das Hobby Golf zumindest andeutend. Um die 60, schätze ich sehr grob, denn ich kann hinter der BILD-Zeitung, von denen beide jeweils einen Teil vor sich ausgefaltet haben, nur kurze Blicke auf sie erhaschen.

Internet hin, Blackberry her – die BILD ist eine Urlaubskonstante. Schon als ich mit meinen Eltern das erste Mal in Spanien war (1971?), gab es am Pool ein großes Hallo, wenn man eine zwei Wochen alte BILD-Zeitung fand, die man durchblättern konnte.  BILD war Heimat, weit entfernt von der Heimat. Auch wenn sie an Kiosken, die darum wussten, gerne mal 3 Mark kostete. Heute ist sie ungleich leichter und aktueller zu bekommen, aber nicht weniger unverzichtbar.

Das Paar mir gegenüber liest also die BILD. Es ist ein seltsamer, weil so hindrapierter Anblick. Sie sitzen getrennt, jeder in seiner Ecke des Sofas. Zwischen ihnen geschätzte zwei Meter Abstand. Beide haben die Beine übereinander geschlagen. Ich kann es nicht beschwören, aber mir ist, als würden beide sogar zeitgleich umblättern, ihr Rascheln nach Dekaden der eingependelten Gemeinschaft unbewusst koordinierend. Sie liest nicht den Klatsch, er nicht den Sportteil. Das wäre zu vorhersehbar. Die Rückseite seiner Hälfte empört sich “Im Altersheim bestohlen!”, während bei ihr “Dieser Irre vergiftet Menschen auf dem Weihnachtsmarkt!” groß gelettert steht.

Eine halbe Stunde lang werfe ich immer wieder einen Blick zu dem Ehepaar, wenn ich eine Seite im Roman umblättere. Sie trinken nicht. Sie essen nicht. Sie reden nicht miteinander. Sie lesen nur die BILD. Sehr ausführlich, wie es scheint. Es liegt eine ganz eigene Spannung in der Frage, wer die fast schaufensterpuppenhafte Starre auflösen wird, wer zuerst die heilige Ruhe bricht.

Dann, endlich.

Sie beginnt zu sprechen, leise, gesetzt, offensichtlich sorgsam vorformuliert. Ihren Blick nimmt sie nicht aus der Zeitung, so wie ihr Mann seinen als Reaktion nicht verändert.

“110 Millionen Dollar bekommt die Ehefrau von Tiger Woods.”

Es wird wieder still. Er antwortet nicht, weil es nichts zu antworten gibt. Die Information wurde übertragen, der Kanal wieder geschlossen. Es gibt keine höfliche Verpflichtung, “ach was?” zu murmeln. Keinen sanften Spott, der ein “Von mir könntest du so viel nicht erwarten” rechtfertigt.

Sie lesen weiter. Auch noch, als ich die Lounge verlasse.



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kingalekz
kingalekz
17. Dezember, 2011 19:45

Wer kann denn ‘ne BILD-Zeitung über eine halbe Stunde lang lesen? Die hat man doch in zehn Minuten durch.

Der andere Karsten
Der andere Karsten
17. Dezember, 2011 20:02

Das war ein Auszug aus Torstens nächstem Fantasy Roman.. deswegen. 😉

Aber schöne Anekdote.. 🙂

BCF
BCF
17. Dezember, 2011 21:18

Und sie lesen weiter, und weiter, und weiter…
Sehr schöner Beitrag!

Bernhard
Bernhard
18. Dezember, 2011 12:57

Fortsetzung folgt?

Wortvogel
Wortvogel
18. Dezember, 2011 13:13

@ Bernhard: Nö. Momentan könnte ich allenfalls von der LvA und mir erzählen. Wir sitzen vor der “Socie-Tea”-Bar, jeder mit dem Laptop. Sie schaut (mit Kopfhörern) eine britische Doku und lacht immer mal wieder leise auf, während ich wild an einer Reportage über Keberschnitzerei feile und dabei einen Cappuccino nach dem anderen versenke. Lieber würde ich “Schwerter des Königs 2” zu Ende gucken.

bravo
18. Dezember, 2011 15:07

Boah, gerade bricht eine Welt für mich zusammen. Du begehrst die BILD im Urlaub? Selbst wenn Du Internet hast? Ich fass’ es nicht.
Aber trotzdem eine sehr schöne Beobachtung. Ob sie sich wirklich nichts mehr zu sagen haben oder ob das tatsächlich eine über die Jahre gewachsene Zweisamkeit ist, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben.

Gerd
Gerd
18. Dezember, 2011 15:29

Ist ja bestimmt eine ganz andere Kiste, wenn man mit seiner Liebsten in den Urlaub fährt und der eine eine Doku (Fernsehen im Urlaub??) schaut und der andere arbeitet. Jeder mit seinem Laptop, anstatt die gemeinsame Zeit miteinander statt nebeneinander zu genießen.

Soviel zum Thema “sich nichts mehr zu sagen haben”. Ist sehr viel anders als das “Bild-Ehepaar”…

Wortvogel
Wortvogel
18. Dezember, 2011 16:31

@ bravo: Deine Welt bleibt heil. Ich lese keine BILD. Die Unverzichtbarkeit bezieht sich auf die Einstellung anderer Urlauber.

@ Gerd: Gesperrt. Danke fürs Gespräch.

bravo
18. Dezember, 2011 17:43

@ wortvogel: Danke für die Erklärung, ich hätte kein ruhiges Weihnachtsfest gehabt 😉

Who knows?
Who knows?
18. Dezember, 2011 18:04

BILD… yuck!

Letzten Sommer auf dem Weg in den Urlaub bei McDoof halt gemacht. Ein Typ hat seine BILD durch und bietet sie uns an. Ich hab’ die so rüde abgelehnt, dass ich mir eine Rüge von meiner Frau einhandelte 😀

Hausmeister
19. Dezember, 2011 07:13

Sehr schöne Alltagsbeobachtung. Aber um das alternde Ehepaar ein wenig in Schutz zu nehmen: meine Frau und ich können das auch, obwohl wir erst Mitte/Ende 30 sind und gerade das verflixte siebte Jahr hinter uns gebracht haben. Und ja, manchmal ist es richtig schön einfach nur nebeneinander zu sitzen, jeder für sich in seine Zeitungshälfte (keine BILD!) versunken und zu schweigen. Man kann es durchaus mal genießen sich eben nicht immer über jede Meldung unterhalten zu müssen. Wie heißt es doch auch so schön: eine wahre Freundschaft erkennt man daran, dass man auch mal gemeinsam schweigen kann. Das heißt nicht, dass wir uns nicht schon am nächsten Tag wieder mit Kommentaren zu den Zeitungsmeldungen zublubbern können. Und wir haben uns tatsächlich auch nach so vielen Jahren noch ‘ne ganze Menge zu erzählen.

Als schöne Momentaufnahme eines Paares, das bieder und langweilig wirkt echt okay, aber natürlich nicht allgemeingültig. Trotzdem: mehr davon, ich lese das gern!