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Dez 2009

Wortvogels Kurzkrimi zum Jahreswechsel: Niemand tötet an Silvester

Themen: Neues |

Unter dem Pseudonym “Lars Henrikson” habe ich in der aktuellen Ausgabe der LandIdee einen zweiseitigen Kurzkrimi geschrieben. Folgende Vorgaben wurden gemacht: Es sollte ein “procedural” sein (die ersten beiden Ausgaben hatten schon Geschichten, in denen gepeinigte Frauen damit davon kommen, ihre Männer zu ermorden), um den Jahreswechsel spielen, und bei den Charakteren und den Locations halbwegs die Zielgruppe der LandIdee ansprechen. Keine Ironie, keine übermäßige Gewalt. Unterhaltsam, aber hausbacken also.

Es gibt wohl kaum einen besseren Tag als diesen, um den Krimi hier meinen Lesern zu präsentieren.

Niemand tötet an Silvester

nachtKommissar Heinrich Peters will um diese Uhrzeit nicht mehr vor die Tür. Es ist zu kalt. Es ist zu spät. Und es ist Silvester …

Peters war kein Fan von Silvester. Nie gewesen. Die Knallerei ging ihm auf die Nerven, und die Kollegen von der Schutzpolizei waren immer bis in den frühen Morgen damit beschäftigt, Betrunkene aus dem Verkehr zu ziehen und alberne Schlägereien zu schlichten. Ein Gutes hatte der Jahreswechsel jedoch: Niemand tötet an Silvester. Das war seine ganz persönliche Statistik nach 30 Dienstjahren. Das Morddezernat konnte in dieser einen Nacht eine Auszeit nehmen, ein Schild raushängen: „Wegen Betriebsferien geschlossen“.

Und so saß Heinrich Peters bei geschlossenen Rolläden in seiner Junggesellen-Wohnung und versuchte sich an einem dieser neumodischen Sudoku-Rätsel, als der Anruf von der Zentrale kam: „Eine Leiche an der B967, kurz vor Schiffhausen. Beim alten Böhnkes-Hof. Sieht nach Mord aus.“

Missmutig zog sich Peters feste Schuhe sowie einen dicken Mantel an und stapfte durch den frisch gefallenen Schnee zu seinem Wagen. Es krachte zwischen den Häusern. Peters erschrak. Überall war der Schnee mit kleinen schwarzen Kratern übersät, eine Miniatur-Version eines Kriegsgebietes. Stöcke ausgebrannter Raketen lagen herum, durchweichte Pappe aufgeplatzter Knaller. Nur weil Kinder mit der Böllerei nicht warten wollten. Verdammte Kinder.

Es waren fast 30 Kilometer Fahrt. „Plattes Land“, wie man hier gerne sagte. Peters sah schon aus der Ferne die roten und blauen Lichter durch die trübe Nacht blinken. Hektische Betriebsamkeit von Menschen, die alle lieber woanders sein wollten.

Der Hof war das erste Haus von Schiffhausen, direkt hinter dem Ortsschild. Der alte Böhnkes lag in dem kleinen Graben, der eine natürliche Barriere zwischen seinem üppigen Grundstück und der Schnellstraße bildete. Die linke Seite seines Kopfes war kaum noch zu erkennen, und sein Brustkorb war seltsam nach innen gedellt. „Wenn der nicht sofort tot war, tut er mir nachträglich noch leid“, sagte Adam Höllerich zur Begrüßung. Er und Peters arbeiteten schon seit mehr als zehn Jahren in derselben Dienststelle. Der Kommissar sah sich die Leiche nur oberflächlich an: „Sieht aus, als hätte ihn ein Wagen erwischt“. Höllerich legte den Kopf schräg: „Wir haben keine Reifenspuren gefunden, aber das könnte am Wetter liegen. Was wollte der Mann hier an der Straße?“

Peters deutete auf den kleinen Pfosten mit dem Klingelbrett und der Sprechanlage, der neben der Einfahrt zum Hof stand: „Vielleicht hat jemand geläutet und ihn nach draußen gelockt“. Den Verletzungen nach hatte dieser jemand sein Opfer dann mindestens mit einer Brechstange bearbeitet, eher noch mit einem Vorschlaghammer. Peters bückte sich, seine Fingerkuppen glitten durch den Hauch von Schnee, der den Boden benetzte. Darunter fühlte er Schotter und schließlich Reste von feuchtem Papier. Papier?

Eine stämmige Frau kam nun auf die Polizisten zu, einen Daunenmantel über dem Kittel und ein Kopftuch über den Lockenwicklern: „Ist was mit dem alten Böhnkes?“. Ein Streifenpolizist schirmte sie ab, damit sie keinen allzu genauen Blick auf die Leiche werfen konnte. „Jetzt nicht mehr“, sagte Peters mürrisch und bat die Frau zum Gespräch. Neugierige Nachbarn waren oft ein Geschenk des Himmels: Ihnen musste man Informationen nicht aus dem Kreuz leiern, sie sprudelten über mit Geschichten, Gerüchten und Klatsch. Man musste nur lernen, die Spreu vom Weizen zu trennen, Dichtung von Wahrheit. Nach fünf Minuten wusste Peters, dass der alte Böhnkes allein gelebt hatte seit seine Frau an Krebs gestorben war. Das Paar war kinderlos gewesen, und der durchaus wohlhabende Böhnkes hatte die wenige freie Zeit neben der Bewirtschaftung seines Hofes hauptsächlich damit verbracht, den Dorfbewohnern das Leben zur Hölle zu machen. Mit Beschwerden, Eingaben und Anzeigen hatte der Bauer so ziemlich alle Nachbarn gegen sich aufgebracht. Außerdem wollte die Landesregierung die Straße verbreitern, Böhnkes hatte sich aber quergestellt – wodurch seinen entfernten Verwandten, von denen keiner etwas mit ihm zu tun haben wollte, viel Geld entging. An Tatverdächtigen mangelte es also nicht. Na prima.

Nach einer Stunde zogen die Männer von der Spurensicherung ab, den Tatort ließen sie mit gelbem Plastikband abgesperrt zurück. Die Nachbarin war auch wieder weg, und Höllerich blickte verstohlen auf die Uhr an seinem Handgelenk – er wollte Schlag zwölf bei seiner Frau und den Kindern sein, um zu feiern.

Peters stand einfach nur da. Ließ Schneeflocken auf seinen Kopf rieseln und das Wasser durch seine Schuhe ziehen. Er konnte in der Dunkelheit die Stallungen kaum sehen, die zum Hof gehörten. Weiter hinten quietschte ein offenes Gatter. Durch die offene Haustür war leise das Radio zu hören, dem der alte Böhnkes zugehört hatte, bis ihn irgendetwas – irgendjemand – in seiner Abendruhe gestört hatte. Auf einmal fühlte Peters fast so etwas wie eine Seelenverwandtschaft. Zwischen seinen Fingerspitzen zerbröselte er den Rest Papier. „Ein alter Sturkopf, den keiner leiden kann und von dessen Tod eine Menge Leute profitieren, wird erschlagen, und das Wetter verwischt alle relevanten Spuren“, resümierte Höllerich mit leicht ungeduldigem Unterton in der Stimme. „Die SpuSi hat Metallpartikel in den Wunden gefunden. Vermutlich von der Tatwaffe. Wenn die Obduktion durch ist, können wir sicher Konkreteres sagen. Dann machen wir uns gleich morgen auf die Suche nach Zeugen.“

Peters drehte sich langsam im Kreis. Auf der anderen Seite der Landstraße sah er Felder und dahinter ein ausgedehntes Waldgebiet: „Ruf noch ein paar Kollegen von der Streife zusammen. Ich möchte, dass ihr die Gegend absucht. Abseits der Straße, bis zum Dorf.“

„Du glaubst, der Mörder ist noch irgendwo hier?“ fragte Höllerich entgeistert, weil er gerade jede Chance auf eine zeitige Heimkehr schwinden sah. Peters schüttelte bedächtig den Kopf: „Der Täter. Nicht der Mörder.“

Höllerich verstand ihn nicht, und Peters erklärte es auch nicht. Sein Kollege tat ihm leid, aber nicht leid genug, um ihn bei der mühsamen Suche zu unterstützen. Er wollte nach Hause. Bei diesem Wetter konnte man sich ja den Tod holen. Sozusagen.

Wieder in seiner Wohnung, setzte sich Peters erst mal einen Tee auf. Die Tasse füllte er zu einem Drittel mit Rum. Das hatte er sich verdient. Der Alkohol tat gerade wärmend seine Wirkung, als das Telefon wieder klingelte. Es war Höllerich: „Wir haben ein Pferd gefunden, das knapp 500 Meter vom Hof entfernt nervös durch den Wald trabte. Die Nachbarin hat uns bestätigt, dass es Böhnkes gehörte. Vermutlich wurde es von einem Knall aufgeschreckt, hat den alten Mann getreten, gegen Kopf und Brust, und ist dann panisch weggelaufen“.

„Und die Metallpartikel in den Wunden …“

„Von den Hufeisen“, vollendete Höllerich.

„Kein Mord“, murmelte Peters, mehr für sich selbst. „Der alte Böhnkes wollte bloß seinen störrischen Gaul von der Wiese in den Stall bringen.“

„Woher wusstest du das?“, wollte der Kollege wissen.

Kommissar Peters antwortete nicht, er grunzte nur zufrieden und legte auf. Draußen hörte er die Böller. Er erschrak wieder. Bunte Lichter blitzten zwischen den Ritzen der Rollläden in sein Wohnzimmer. Mitternacht. Er mochte Silvester immer noch nicht. Aber wenigstens stimmte seine Statistik.

Niemand tötet an Silvester.

Frohes Neues Jahr.



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31. Dezember, 2009 16:21

“(Peters) ließ… das Wasser durch seine Schuhe ziehen”

Gefällt mir, der Satz.

Des Rätsels Lösung wäre also, daß das Pferd am Schwanz aufgezäumt wurde?

Drakonis
Drakonis
31. Dezember, 2009 19:23

Erinnert mich ein wenig an eine der Weihnachtsgeschichten aus einem DC Comic von dem Linkara von TGWTG (bzw. seiner eigenen Seite) eine Kritik angefertigt hat.
In der Geschichte wünscht sich Gordon, dass zumindest an Weihnachten keine Verbrechen in Gotham registriert werden – was auch passiert.
Ich weiß, der vergleich hinkt zwar arg, aber der Titel deiner Geschichte ließ mich sofort daran denken.

Guten Rutsch wünsch’ ich allen auf der Seite!

Wortvogel
Wortvogel
1. Januar, 2010 11:35

@ Drakonis: Die Gotham-Story kenne ich gar nicht.

reptile
reptile
1. Januar, 2010 16:54

Ich meine auf dem Foto in der Mitte eine geisterhafte Gestalt zu sehen…

Tornhill
Tornhill
1. Januar, 2010 17:53

Das war doch nett melancholisch!
Amüsiert hat mich die Abkürzung SpuSi und dann wollte ich doch mal dafür loben, die unheilvolle “Böse Männer werden von guten Frauen umgelegt”-Strähne zu unterbrechen…Wie gesagt, die “Gewaltakzeptanz gegen Männer” ist eines der Dinge, die schon ewig an mir fressen, weshalb ich es selbst hier, angestachelt von einem harmlosen Nebensatz anbringen muss…jaja…

Aber das ist ja jetzt nicht wichtig, wünsche ich doch einmal in die Runde ein frohes neues Jahr!

Dietmar
Dietmar
1. Januar, 2010 19:44

Schöne kleine Geschichte, und ich schließe mich den allgemeinen Neujahrsgrüßen an!

Who knows?
Who knows?
2. Januar, 2010 16:14

Gefällt mir gut, die Geschichte – gerne mehr davon… 🙂

The Riddler
The Riddler
3. Januar, 2010 00:06

Hübsche Geschichte! Wie lange hast du dafür gebraucht?

Wortvogel
Wortvogel
3. Januar, 2010 00:39

@ Tornhill: SpuSi ist tatsächlich mittlerweile eine gebräuchliche Abkürzung.

@ Who knows: Weitere sind geplant. Und noch ganz andere Sachen in der Richtung im Jahr 2010…

@ Riddler: Danke. Ungefähr eine Stunde, um mir die grobe Geschichte auszudenken, eine weitere Stunde, um sie aufzuschreiben, und dann noch eine halbe Stunde “schleifen”, damit sie auch sprachlich und im Aufbau “sitzt”.

Scifi
Scifi
20. Januar, 2010 09:47

Schöne kleine Geschichte. Ich mag den gewollt leicht angestaubten Schreibstil. Es kling nach Landatmosphäre, ohne lange Beschreibung. Sehr schön.
Aber bei mir bleiben ein paar Fragen offen. Vielleicht kannst Du meinem schlecht entwickelten kriminalistischen Spürsinn auf die Sprünge helfen.

– Welche Papiere hatte Peters da am Boden gefunden?

– Und wer von den möglichen Tatverdächtigen hat denn nun den Knaller geschmissen – vermutlich die Gepflogenheiten des alten Böhnkes gut kennend – um das Pferd zum geplanten Durchdrehen zu bringen? Das Ergebnis wäre durchaus vorhersehbar.

Ein Pferd als Tatwaffe …..

Ansonsten: bitte weiterschreiben!

Wortvogel
Wortvogel
15. Februar, 2010 10:38

@Scifi: Du hast da einiges missverstanden, wie es scheint.

Die Papiere, die Peters gefunden hat, sind die Reste von Silvesterkrachern. Darauf wurde in der Einleitung schon hingewiesen. Es gibt keinen Mörder – der Kracher war vermutlich nur ein Kinderstreich, der das Pferd erschreckt hat. Darum auch “Niemand tötet an Silvester”.