07
Okt 2007

Das Reisende – eine Kurzgeschichte

Themen: Neues |

Anmerkung: Dies ist eine Kurzgeschichte, die ich für die zweite Staffel der “Böse Nacht Geschichten” verfaßt habe. In der ersten Staffel hatte ich mit “Schnauze voll” sehr klassische Krimistrukturen bedient, um die teilweise sehr schrägen Stories der Kollegen (Eschbach, Hohlbein, etc.) auszugleichen. Bei Staffel 2 war es umgekehrt – wie hatten sehr viele traditionelle Kurzkrimis, darum wollte ich ein wenig aus der Rolle fallen. Gelesen wurde die Geschichte in der Sendung von Andrea Kempter.

Das IchWir näherte sich dem Planeten von seiner sonnenabgewandten Seite. Als reines Energiewesen mied es starke solare Strahlung. Sie kitzelte unangenehm. Als das IchWir jünger gewesen war, viele Millionen Jahre jünger, war es bei einer Supernova unvorsichtigerweise in eine starke Sonneneruption geraten, und die Impulse hatten es fast zerrissen. Seither wußte es, wie wichtig es war, sich vom WirIch-Kollektiv nicht zu entfernen.

Und doch – wie so viele IchWir seiner Generation verspürte dieses junge Energiebündel einen unstillbaren Drang ins Universum, den Hunger nach etwas, das die Wesen, aus denen seinerzeit das WirIch hervorgegangen war, aufgegeben hatten, um die höhere Bewußtseinsstufe zu erreichen. Es verzehrte sich nach Gefühlen, die aus Fleisch geboren waren, nach wildem Rausch und unbezähmbarem Verlangen.


Dieser Drang war weder neu noch ungewöhnlich – alle IchWir durchlebten ihn, bevor sie sich endgültig dem WirIch überließen. Er war das Echo der Körperlichkeit, eine düstere Erinnerung.

Mittlerweile hatte das IchWir einen geeigneten Planeten gefunden. Er war blaugrün, seine Atmosphäre bestand aus einem üblen Gemisch verschiedenster Gase, und klimatisch war er geradezu lächerlich instabil. Doch das interessierte das IchWir nicht, denn die physischen Eigenschaften dieser Welt betrafen es nicht. Aber schon von weitem, von außerhalb des Sonnensystems, hatte das IchWir die Kakophonie der Gefühle gespürt, das Durcheinander von Millionen Seelen ohne Balance. Sie schienen zu schreien, schrill und begeistert, schrankenlos und gierig.

Das IchWir huschte über die Schattenseite des Planeten, tupfte immer wieder den Boden an, glitt durch komplizierte Strukturen aus Metall und Stein, in denen die Menschen sich einander auslieferten.

„Deine Eifersucht macht mich krank!”

„Nicht nur Schwiegervater – auch Opa wirst du!”

„Sie sollte nochmal zu ihm rein gehen – es ist bald vorbei.”

Das IchWir war begeistert – die Gefühle der Menschen waren so viel… mehr, als es sich erhofft hatte. Sie schienen aus den Städten, die das IchWir als solche nicht wahrnahm, zu wabern, und den Planeten wie ein pulsierendes Meer zu überspülen.

„Wenn du jemandem etwas davon erzählst, muss ich dir weh tun.”

„Gefällt es dir, wenn ich das mache?”

„Sie können am Montag bei uns anfangen.”

IchWir hatte keine Ahnung, was die Worte bedeuteten – oder dass die Menschen überhaupt miteinander sprachen. Es hatte keine Sinnesorgane, die Schallwellen hätten auffangen können – und kein Gehirn, diese zu verarbeiten. Ihm blieb nur die Empathie, die völlige Hingabe an die ausgesandten Gefühle.

„Das könnte unser Ende bedeuten.”

„Aber ich WILL NICHT!”

“Und der Gewinner ist…”

Dem IchWir gelang es nun endlich, aus dem Durcheinander einzelne Gefühlsebenen zu filtern, die starken von den ordinären Gefühlen zu trennen. Sein Geist sah einzelne Emotionen wie verschiedenfarbige Blitze aufzucken, auf denen es hüpfen konnte.

„Ich würde Ihnen gerne helfen, aber…”

„Es ist wunderschön, einfach wunderschön…”

„Na klar nehme ich noch einen!”

Das IchWir war im Rausch, sprang von Herzschmerz zu Hass, von Rage zu Resignation. Ohne Kategorien von Gut und Böse konnte es die Gefühle nicht einordnen, es nahm nur ihre Macht wahr.

„Bitte, bitte… nicht mehr.”

Das IchWir hielt inne. Es war über eine Emotion gestrichen, die anders war. Verhalten, aber stark. Leise, aber unendlich penetrant. Und sie gehört zu einer anderen Emotion, die scharf und faserig zuckte.

„Das hast du dir selbst zuzuschreiben, Schlampe. Wenn du nicht spurst, gibt’s halt den Gürtel.”

Das IchWir nahm sich ein paar Sekunden, um aufzunehmen, wie die beiden Gefühle einander bedingten, wie in einem schwarzen Tanz.

„Bitte, bitte… nicht mehr schlagen.”

„Was glaubst du denn, wer hier das Sagen hat? Doch wohl immer noch ich!”

„Natürlich, Jack. Natürlich. Ich…”

„Dann halt jetzt endlich die Fresse!”

Kurz darauf flackerte das eine Gefühl in großem Schmerz. Mittlerweile schwebte das IchWir neugierig über dem Ort, an dem sich der Streit zutrug. Von solch intensiven Konflikten hatten ihm die anderen erzählt, aber sowas konnte man sich erst vorstellen, wenn man es selber erlebt hatte. Langsam sank das IchWir tiefer, um der Quelle des Gefühlsausbruchs näher zu sein. Ohne Ohr hörte es die Türklingel nicht, und die Emotionen der Menschen vor dem Haus waren zu belanglos, um aufzufallen.

„Wer ist das? Hast du wen angerufen?”

„Ich… Jack, ich hatte Angst!”

„Das sind die Bullen, oder?”

„Ich hatte Angst, du würdest Melinda etwas tun…”

„Glaub ja nicht, dass du mich so loswirst, du Nutte. Dich mache ich fertig – und die Kleine gehört sowieso mir!”

Wie auf einem Leitstrahl glitt das IchWir in die Mitte zwischen den beiden Menschen. Hier waren die Gefühle noch intensiver, noch direkter. Das IchWir badete in ihnen wie in einem Regenbogen.

„Mach die scheiß Tür auf! Schick die Bullen weg – und dann sehen wir weiter.”

„Jack, kann ich nicht, können wir nicht…?”

„Du bist wohl TAUB?!”

„Nein, ich… ich mache gleich auf.”

„Wisch dir den Rotz aus dem Gesicht. Wie sieht das denn aus?”

Das IchWir entschied sich zu einem mutigen Schritt – es schlüpfte direkt in den Menschen, der sich gerade mühselig aufrappelte. Es wollte wissen, wie es war, „einen Menschen zu reiten”.

Und es war, als hätte das IchWir einen Sprung direkt ins Herz einer Sonne getan. Das erbärmlich kleine Gehirn dieses Menschenwesen bombardierte das IchWir mit Gefühlen jeder Farbe und Intensität. Wuchtiger Hass überdeckte verzweifelte Liebe, Sanftmut kämpfte auf verlorenem Posten gegen den Selbsterhaltungtrieb. Das IchWir fühlte sich hin und her geworfen, verlor jedes Koordinatensystem der Raumzeit, und schlingerte hilflos durch den Strom der Emotionen. Es suchte verzweifelt Halt, sein körperloses Bewußtsein griff nach allem, was stark genug war.

„Glaub ja nicht, dass ich mit dir fertig bin.”

Und das IchWir fand die Angst. Eine Angst, die allumfassend und unbewzingbar schien, die jedes andere Gefühl in den Hintergrund drückte, und an der sich das IchWir andockte, um endlich diesen Menschen sicher reiten zu können. Mit der Angst als Sattel wurde es etwas ruhiger im Geist des Energiewesens. Seine Wahrnehmung reduzierte sich auf das direkte Umfeld des Menschen – das IchWir erkannte nun, dass es eine Frau war, ohne dem Begriff irgendeine Bedeutung zumessen zu kennen. Und der Gegner – Auslöser und Beherrscher der Angst, die diese Frau verspürte? Ein Mann. Auch das ohne Bedeutung, sicher.

„Worauf wartest du? Ich habe dir gesagt, du sollst die Tür aufmachen, bevor die Bullen sie eintreten!”

Es war nicht leicht, die Kontrolle zu behalten, nicht durch den ständigen Beschuss von Emotionen wieder aus dem Kopf des Menschen gestoßen zu werden. IchWir mühte sich, doch die Angst der Frau ließ kaum Platz, sich zu orientieren. IchWir war beeindruckt von der Totalität der Panik, der Wucht der Furcht. Es war mehr, als er sich von dem Erlebnis versprochen hatte. Doch hier, im direkten Zentrum der Gefühle, spürte IchWir auch, dass die Angst zwar stark, aber nicht wünschenswert war. Sie war ein ungewolltes Gefühl – sie war… schlecht?!

Der Mann kam auf die Frau zu, und mit jedem Schritt intensivierte sich die Angst.

„Ja, zitter ruhig, du blödes Stück.”

Das IchWir empfand die Angst der Frau nun wie die eigene, und den Mann wie den eigenen Gegner. IchWir merkte, dass es die Angst nicht wollte. Nicht mehr.

Es entschied sich zu handeln. Den simplen Geist der Frau vollends zu übernehmen, war keine Anstrengung, eher eine Entlastung. Das IchWir führte ihr die Hand, die um sich herum tastete, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. Es krümmte ihr die Finger, als die Hand den Feuerhaken fand. Und hielt dem Blick des Mannes stand, als dieser lächelte.

„Was willst du machen, eh? Körperverletzung? Prima, dann können dich die Bullen gleich mitnehmen. Und das Kind siehst du nie wieder.”

Das IchWir beherrschte den schlanken Körper deutlich schneller und geschickter, als es die Frau selber je gekonnt hätte. Der Feuerhaken unterlief den zum Schutz hochgerissenen Unterarm des Mannes, und bohrte sich direkt in seinen Brustkorb. Seine Gefühle erloschen, während sein Körper lautlos in sich zusammen sackte.

Die Angst in der Frau brach in sich zusammen, implodierte förmlich. Unsicherheit und Verwunderung traten an ihre Stelle – und Erleichterung? Das IchWir nahm warme Gefühle wahr wie kleine Flammen, die nun Platz hatten, sich zu nähren. Es war ein wenig stolz, denn der Geist der jungen Frau wirkte nun ruhiger, ausgeglichener.

Als die Polizei die Tür aufbrach, gab das IchWir das Bewußtsein der jungen Frau wieder frei.

„Was ist hier passiert?”

„Ich weiß ich, nicht habe…”

„Legen Sie bitte den Feuerhaken beiseite, Miss…”

Das IchWir konnte die Worte weder hören noch verstehen. Es freute sich nur über die Harmonie in diesem Raum, an der es einen nicht geringen Anteil hatte.

„Aber ich… ich habe nicht…”

„Sie sollten jetzt besser nichts sagen. Ich verhafte Sie wegen Mordes an Ihrem Ehemann. Alles was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden…”

In der Gewissheit, diesem fremdartigen Wesen geholfen zu haben, verließ das IchWir den seltsamen blaugrünen Planeten, um sich dem WirIch anzuschließen, wo es sicher war.



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Peter Krause
7. Oktober, 2007 17:16

Sehr schön.
So … real und gleichzeitig mystisch, hatte ich nicht erwartet.
Ich hatte bei den Religionsbetrachtungen schon Angst, Du würdest dem Physikalismus zu sehr frönen.

Wortvogel
Wortvogel
7. Oktober, 2007 17:39

Ich denke manchmal auch, dass die vielen Religionsdiskussionen einen falschen Eindruck liefern: Ich bin ein kreativer Mensch, und das bedingt einen gewissen Zugang zur Meta-Ebene. Ich brauche Phantasie, und eine Antenne für Schönheit und Rhythmus. Ob ich damit gut und erfolgreich bin, entscheide ich nicht selbst. Aber warum sollte ein Atheist nicht ebenso wie ein Gläubiger von der Schönheit eines Sonnenuntergangs überwältigt sein? Liebe ich eine Frau weniger, wenn ich nicht an Gott glaube? Finde ich ein Kätzchen weniger süß, weil ich Homöopathie ablehne?

Die obige Kurzgeschichte hätte ich noch ganz anders angelegt, wenn sie denn für einen Abdruck vorgesehen gewesen wäre. Aber es war ja klar, dass sie im Rahmen von 10 Minuten gelesen werden mußte, und das bedingt einen anderen, klareren Erzählstil – der Zuschauer kann ja nicht ein paar Zeilen zurück springen, um noch einmal etwas nachzulesen…

Peter Krause
7. Oktober, 2007 18:00

Ich möchts trotzdem nicht vorgelesen bekommen – ginge mir noch viel zu schnell – hab mehrere Absätze zweimal gelesen.

Mir gings auch jetzt nicht um Schönheit und Liebe.
Ich wollte das böse Wort nicht benutzen, aber worüber Du schreibst, sind: “Seelen”. Sogar Seelen ohne Körper. Und die buddhistische Idee des “WirIch”. Wenn ich nicht wüßte, daß Dich das beleidigt, würde ich sagen: “Diese Geschichte ist sehr religiös”.

Wortvogel
Wortvogel
7. Oktober, 2007 18:07

Es beleidigt mich überhaupt nicht, Peter – ganz im Gegenteil. Wenn du das so siehst, dann beweist es doch nur, dass ich in der Lage bin, über meinen eigenen Horizont hinaus zu schreiben. Welch schöneres Lob könnte ich mir wünschen?

Peter Krause
7. Oktober, 2007 18:30

(Wegen dem Unterschied, den Du zwischen “Glaube” und “Religion” siehst. Deshalb schrieb ich lieber “mystisch”.)

Tornhill
8. Oktober, 2007 12:26

Gefällt mir auch!
Dass du keine Berührungsängste mit mystischen/religiösen Dingen hast, wusste ich ja schon von deinem Filmgeschmack und deinen “Nibelungen”-Romanen. Warum auch nicht? Man muss ja nicht nur über Dinge schreiben, die man für real hält (ganz davon abgesehen, dass es in der Geschichte ja “nur” Energiewesen sind, die halt “wie Seelen” wirken).

Aber wie gesagt, völlig unabhängig davon eine nette kleine SF-Story. Die Namensgebung in WirIch und IchWir ist recht kreativ, aber plausibel, und die Technik, bekanntes von neuem Standpunkt zu zeigen ist ja auch immer wieder interessant.

– Aber Kätzchen sind dennoch nicht süß sondern BÖSE. Durch und durch.

comicfreak
comicfreak
10. Oktober, 2007 10:44

Völliger Off-Topic-Kommentar:

Wenn es eine Hölle für total verbockte-verblödetet-Gehirnzersetzende-Serienliedchen-
schreiber gibt, landet der Autor des Shaun-das-Schaf-Liedchens an prominenter Stelle dort!!!

Und jetzt die gute Nachricht: auf der DVD ist nur die Musik 😉

*Off-Topic-off*

Gute Geschichte 🙂

Dieter
Dieter
11. Januar, 2009 01:42

Seit einigen Tagen lese ich die älteren Seiten durch, die ich vorher noch nicht kannte. Was soll ich sagen? Ich bin Fan geworden. Deine skeptische Haltung, die Klarheit Deiner Argumentation und Dein Humor treffen voll meinen Geschmack. Und diese Kurzgeschichte ist einfach klasse.

Also echt Torsten, sagenhaft gut!

daLoT
daLoT
5. Februar, 2009 19:02

nur ein Wort: “WOW”

im Ganzen gelesen, nicht als Abkürzung für überbewertete MMORPG