21
Okt. 2025

Lost Media: Der Wortvogel im Weltall

Themen: Film, TV & Presse |

Es gibt Dinge, die faszinieren mich unangemessen stark: Bodycam-Videos von Festnahmen bei Verkehrskontrollen in den USA, deutsche Fernsehwerbung der 70er und 80er – und der Lost Media-Eisberg.

Kurz zur Erklärung: Mit dem Begriff „Lost Media Iceberg“ wird die gesamte Menge an verloren gegangenen oder verloren geglaubten Medien beschrieben, seien es Videos, Musikstücke, Bücher, Fotos, oder Spiele.

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Der Begriff Eisberg ist dabei ein bewusst gewählter, denn die Masse der verschollenen (see what I did there?) Medien liegt unter der Oberfläche, ist nicht nur verschwunden, sondern oft genug nicht mal als verschwunden erkannt.

Wenn man sich klar macht, dass verschiedenen Quellen zufolge über 70 Prozent aller Stummfilme, die zwischen 1912 und 1930 produziert wurden, als mittlerweile unrettbar zerstört gelten, dann wird deutlich, dass wir eine große Menge historischen Kontext verloren haben.

Es ist ja nicht bloß ein Problem unserer Urgroßväter gewesen: Die BBC hat noch in den 70ern viele Masterbänder von Doctor Who-Serials einfach gelöscht. Es ist nicht anzunehmen, dass fertig produzierte Episoden von nie ausgestrahlten Serien wie FLASCHENGEIST AUF PROBE (mit Jeanette Biedermann) und DIE 25. STUNDE (mit Claudia Michelsen) sorgsam gesichert auf ihre Ausgrabung warten.

Nun sollte man meinen, dass das Internet (das ja bekanntlich „nichts vergisst“) eine massive Hilfe dabei ist, Medien aufzuspüren und zu archivieren. Das Internet Archive leistet auch durchaus bemerkenswerte Arbeit, wobei man allerdings immer befürchten darf, dass irgendwann der Stecker gezogen wird und ohne Sicherheitskopien ein neues „digital dark age“ anbricht.

Tatsächlich ist das Internet aber deutlich „vergesslicher“, als seine Apologeten uns glauben machen wollen. Gigantische Webportale mit über Jahre kuratierten Inhalten sind irgendwann verschwunden. MTV hat vor nicht allzu langer Zeit sein gesamtes Online-Newsarchiv einfach gelöscht. Ich bin immer noch nicht in der Lage, irgendwelche Informationen über eine der ersten Webserien NEW BLOOD zu exkavieren – und ich weiss, dass es sie gab. Ich habe sie gesehen!

Unvorstellbar eigentlich: Selbst Episoden und Dokumentationen, die in den letzten 15 Jahren ausgestrahlt und dann auch ins Netz gestellt wurden, sind nicht mehr auffindbar – trotz einer großen Menge an entschlossenen digitalen Dr. Joneses, die ihnen nachspüren.

Aber ich will das jetzt nicht ausufern lassen, auch weil ich beizeiten etwas fundierter und konkreter über das Thema schreiben möchte. Ich wollte euch nur einen Einblick geben, damit ihr versteht, warum ich mich selbst als Gegenstand von „lost media“ sehe. Für diese Geschichte muss ich ein wenig in die Vergangenheit reisen.

Wir schreiben das Jahr 1995. Der Wortvogel, der noch als Torsten Dewi firmiert und bei der TV-Zeitschrift GONG arbeitet, wird von ProSieben abgeworben, um dort die Serienabteilung zu unterstützen. Geile Sache. Die Phrase „die haben mich gezwungen – mit Geld!“ trifft absolut zu. Aber ich freue mich auch, beim jungen und extrem stark expandierenden Privatfernsehen hautnah dabei zu sein.

Ich habe mir nach fünf Jahren als Journalist zwei Monate Pause erbeten, bevor ich in Unterföhring aufschlage. Ich möchte eine größere Reise machen und einfach ein bisschen die Beine hochlegen, bevor ich Vollgas gebe. Das wird mir auch gewährt, allerdings mit einer Unterbrechung: die Pressestelle des Senders meldet sich mit der Bitte um Unterstützung bei einem Presse-Event in Hamburg.

ProSieben hat nämlich BABYLON 5 eingekauft und irgendwie spitzgekriegt, dass ich für diese Serie so eine Art Experte bin. Ob ich mir vorstellen könne, in dieser Funktion im Studio eine kleine Präsentation für die Kollegen der Presse aufzunehmen, in deren Rahmen ich ein bisschen von der Geschichte der SF in Film und Fernsehen erzähle und den langen Bogen von RAUMPATROUILLE und STAR TREK bis zu BABYLON 5 schlage?

Klar kann ich. Gebt dem Mann eine Bühne und er wird sie bespielen.

So fahre ich in der „Zwischenzeit“ zwischen GONG und ProSieben nach Unterföhring – nicht mehr als Journalist, aber auch noch nicht als Mitarbeiter des Senders. Als „Experte“. Im Keller des vor kurzem abgerissenen Großbaus finde ich das SZM, das SendeZentrumMünchen. Für diese Zeit absolut „state of the art“ und schon weitgehend digital.

Eine junge Dame der Pressestelle begrüßt mich, ich werden abgepudert und ordentlich gekämmt. Die Idee: man setzt mich auf einen Stuhl vor einen Greenscreen, der dann durch einen „Weltraum, unendliche Weiten“ ersetzt wird. Ich schwebe quasi auf dem Stuhl durch das All, während ich erzähle.

5-10 Minuten soll das Video-Essay dauern, mehr möchte die Pressestelle den notorisch ungeduldigen Kollegen in Hamburg nicht zumuten. Sie schlägt vor, dass ich mein Manuskript in den Teleprompter einspeisen könne, dann müsse ich nicht ungelenk vom Blatt ablesen.

Manuskript? Welches Manuskript?

Die junge Dame wird sichtlich nervös und hadert mit sich selbst, das nicht konkret abgesprochen zu haben. Manuskript muss natürlich sein, es ist ja kein Interview-Format, und ich soll im Idealfall 10 Minuten ohne größere Stottereien und Stammeleien rumbringen. Nun gut, entscheidet sie mangels Alternativen, man könne ja einfach mal durchlaufend drehen und dann hinterher daraus was zusammen schneiden.

Ich sitze entspannt auf meinem Stuhl vor dem Greenscreen und nicke der Kamera zu – kann losgehen. Kurzer Ton, eine rote Lampe leuchtet auf, ich lächle breit – und rede zehn Minuten am Stück über die Abenteuer von Commander MacLaine, Captain Kirk, Commander Koenig, Captain Power, und schließlich Commander Jeffrey Sinclair. Dann bedanke ich mich und wünsche den Kollegen viel Spaß bei einem ersten Blick auf die neue Superserie BABYLON 5 – demnächst auf ProSieben.

Die Kamera schaltet ab. Die Pressedame ist angemessen baff. Die kennt mich halt nicht. Wenn ich etwas kann, dann ist es aus der Hüfte geschossen Vorträge zu halten. Es ist mein Segen, es ist mein Fluch. Wer mich live erlebt hat, wird davon zu berichten wissen. Der Dewi ist eine Plaudermaschine.

Die Pressedame bedankt sich artig und ich verabschiede mich – ich muss für meinen Urlaub packen. Ich bitte sie noch, mir das fertige Video-Essay auf VHS zu ziehen, damit ich es mir daheim anschauen kann. Sie verspricht es.

Ihr ahnt, was kommt, bzw. was nicht kommt: die VHS. Trotz mehrfacher Nachfrage sieht sich die Presseabteilung des Senders nicht unter Druck, mir einen Screener zu überlassen und irgendwann verlässt die verantwortliche junge Dame das Unternehmen – Rotation war damals Standard. Später will keiner mehr etwas von der Präsentation wissen, die angeblich „sehr gut angekommen“ ist.

Das ist meine „lost media“. Bis heute habe ich die Aufnahme nicht nur selber nie gesehen – sie ist auch mit großer Sicherheit von ProSieben nicht archiviert worden. Sie war halt nur ein „Zuckerl“ für die Presse, ein kleiner Bonus für alle, die tatsächlich bei dem Pressetermin aufgetaucht sind. Ihr wurde kein Wert zugemessen, keine Relevanz für die Zukunft des Senders.

Gefilmt, gelöscht, vergessen.

Schlimmer noch: Niemanden aus dem „Lost Media-Eisberg“-Umfeld wird das interessieren, weil es über meine Person hinaus praktisch keine interessierte Zielgruppe gibt. Selbst für mich hätte die Aufnahme nur nostalgischen Wert. Ich war jung, ich war furchtlos, ich war „king of the world“.

Hätte ich damals ein Manuskript geschrieben, statt den ganzen Text zu improvisieren, wäre zumindest diese Datei erhalten geblieben und ich hätte meinen Vortrag tatsächlich rekonstruieren können. Aber es bleibt Schall und Rauch.

Mit Hilfe von perplexity.ai und einem Pressefoto aus jener Zeit habe ich mal nachgestellt, wie das Video-Essay ausgesehen haben könnte.

Ja, lacht ruhig. Ich hatte meinen Spaß. Und wenn das Video auch verschollen bleiben mag – nun ist wenigstens seine Geschichte erzählt.



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mob
mob
21. Oktober, 2025 15:06

Kleiner Korrekturhinweis: Claudia Michelsen

Marko
22. Oktober, 2025 12:25

Sowas finde ich wirklich bedauerlich. Ich kann das recht gut nachfühlen, weil ich so Anfang bis Mitte der 90er auch erste Versuche mit Video und Videoschnitt gemacht hatte und sehr vieles davon nicht mehr da ist. Das sind natürlich keine öffentlich wertvollen Aufnahmen gewesen, aber ich würde trotzdem viel dafür geben, sie nochmal wieder zu sehen. 

Kleines Beispiel: Ich hatte, bevor ich Ende der 90er aufgrund der damaligen Dotcom-Blase in "Irgendwas mit Medien" quereingestiegen bin, ein Studium auf Lehramt angefangen. Im Bereich "Erziehungswissenschaften" hatte ich mir dabei natürlich die Seminare rausgesucht, die mich privat auch interessierten, und es gab auch damals schon sowas wie "Medienkompetenz für Schüler und Lehrer". Mit einem befreundeten Kommilitonen wollte ich eine kleine Doku über "Gewalt in den Medien" erstellen. Nun muss ich dazu sagen: Mitte der 90er saßen an den Unis 95% Leute, sowohl Studierende als auch Lehrkräfte, die Gewalt in den Medien verdammten. Und natürlich waren insbesondere Horrorfilme verpönt und schlecht für Kinder (was ich per se jetzt auch gar nicht bestreiten möchte).

Tja, und dann waren da mein Kumpel und ich, Anfang 20, Horrorfilmfans. Wir hatten uns richtig Mühe gegeben mit der Doku: Wir schnitten aus Horrorfilmen besonders blutige und gewaltvolle Szenen zusammen, um sie verschiedenen Leuten mit Ahnung von der Materie zu zeigen und um ihre Meinung dazu zu bitten, während wir sie filmten, wie sie die Szenen sahen. Dabei interviewten wir Videothekare und erhielten Einblicke in die Kundschaft, die Horrorfilme auf VHS konsumierte. Wir interviewten den Inhaber von "Hard to get", einer damals frischen Horror-Videothek, die durch eine Gesetzeslücke ungeschnittene Horrorfilme verleihen durfte. (Eigentlich ging das nicht, aber der Trick war, dass die Filme aus anderen Ländern in Originalsprache importiert wurden, und die waren weder indiziert noch beschlagnahmt, geschweige denn überhaupt von der FSK beurteilt.) Wir interviewten einen Professor für Erziehungswissenschaften, der sich als Experte für die Wirkung von Gewaltvideos auf Jugendliche verstand (seine Hauptthese war, dass dumme Kinder davon negativ beeinflusst und intelligente Kinder nur unterhalten wurden). Wir waren bei der FSK und bekamen (kleine) Einblicke in die Herangehensweise an Schnitte in Horrorfilmen und der altersgerechten Einstufung. Und wir waren bei SAT1 und interviewten den damaligen (ich glaube) Geschäftsführer über den Umgang mit Horrorfilmen für die TV-Ausstrahlung. 

Das alles war super interessant und wir hatten richtig viel schönes Material, aufgenommen mit einer damals üblichen VHS-Videokamera. Die Doku schnitten wir letztlich auf stramme 20 Minuten zurecht, länger sollte sie nicht sein, weil wir natürlich nicht die einzigen waren, die innerhalb des Seminars Videos machten. Eingeleitet hatten wir unsere Doku mit einer mehrminütigen Szenen-Collage aus "Braindead", "Evil Dead", "Hellraiser" und so weiter, halt aus allem, was zur damaligen Zeit State of the Art im Horrorfilmbereich war. Ich weiß noch, dass wir das ganze mit einem Schwarzbild gestartet hatten, in dem ich unheilschwanger die Brutalität dieser Szenen ankündigte, abschließend mit dem Satz: "Es sind Szenen, die kaum einer kennt." Und natürlich mussten wir noch einen draufsetzen und unterlegten die schnell geschnittenen Gewaltszenen mit dem Song "Agent Orange" von der Metalband "Sodom". Tja, was soll ich sagen, wir wollten halt schocken. 

Und es hatte funktioniert. Ungelogen: Wir sorgten für offene Münder. Zwei Studentinnen verließen das Seminar innerhalb der ersten Videominute. Und der Prof hat uns nach der Doku mit einem schiefen Grinsen so halbwegs getadelt, dass wir das ganze eher wie eine Werbesendung FÜR Horrorfilme angelegt hatten, statt einer neutralen Info über deren mögliche Wirkung.

Naja, ich fürchte, er hatte recht. 😀

Lange Rede kurzer Sinn: Diese Doku gibt es nicht mehr. Wir hatten sie damals auf VHS und leider nicht die Weitsicht, sie vernünftig aufzubewahren. Und im Laufe der Jahre und im Zuge der Umstellung auf DVD sind die Aufnahmen dann irgendwann verloren gegangen. Ich würde, wie gesagt, einiges dafür geben, das ganze heute nochmal sehen zu können.

Last edited 17 Tage zuvor by Marko
Exverlobter
Exverlobter
22. Oktober, 2025 15:39

Ich hatte mal in meiner Studentenzeit einen kurzfristigen Nebenjob als Entrümpler. Das war so um 2008 als ich noch in München gewohnt hab. Mit wechselnden Einsatzorten bei verschiedenen Auftraggebern. An einem Tag sollten wir bei einem Sender (oder Medienunternehmen, genau weiss ich das nicht mehr), ein Archiv in einem Keller ausräumen. Da waren Fimrollen DVDS, VHS, Etc. Der ganze "Krempel" wird weggeschmissen hieß es. Viel Zeit blieb nicht die Aufschriften zu sichten, aber eine Box erregte meine Aufmerksamkeit. Da stand "Die Viersteins". Plötzlich erinnerte ich mich das Pro 7 mal diese Serie in den 90ern ausgestrahlt hatte. Erinnern konnte ich mich nur daran , weil sie damals unmittelbar nach Babylon 5 lief. Ich schaute damals vielleicht 1-2 Episodem und entschied, dass die Serie nix für mich ist. Das restliche Publikum sah es wohl ähnlich, da die Serie wieder schnell aus dem Programm genommen wurde.
Lange dachte ich über die Sichtung bei der Jahre später durchgeführten Entrümpelung nicht nach. Nachdem ich jetzt aber deinen Artikel gelesen habe frage ich mich ob ich da ggf. tatsächlich die Originale entsorgt habe. Die Serie scheint es nicht auf DVDs zu geben, einige Clips befinden sich auf Youtube mit dem mittlerweile auch nicht mehr existierendem TM3 Senderlogo. Letztendlich hat irgendein Zuschauer einfach nur seine VHS Kassette digitalisiert und hochgeladen. Da frage ich mich ob die Viersteins auch mittlerweile zur Lost-Art gehören. Es wird sich die nächsten Jahre noch zeigen was ggf. In irgendwelchen Kellern mit VHS Kassetten zu Tage kommt, wenn nicht mal die eigentlichen Sender der Archivierung nachkommen. Erschreckend ist, dass es sich hier.nicht um irgendwas aus der Stummfilm-Zeit handelt, sondern aus den verdammten 90ern! Solange ist das noch nicht her.

Last edited 17 Tage zuvor by Exverlobter
S-Man
S-Man
22. Oktober, 2025 18:52

Ich brauch nur einmal bei mir selbst gucken: Was Massen an Fotos oder Textdateien von mir selbst über den Jordan geschickt wurden, weil "das schaue ich mir nie wieder an". Und nun, 20 Jahre später denke ich mir: "War zwar nicht alles Gold, aber die eine oder andere Sichtung hätte ich dann doch gern nochmal." Und hierbei handelte es sich eben um mein eigenes, privates Zeug, wo ich selbst etwas mit verbunden hatte – nicht irgendeinen obskuren Krämpel im Keller meiner Firma, von dem ich nicht einmal weiß, dass es das überhaupt gab und mich vermutlich auch niemals scheren wird, wenn ich es wegschmeißen lasse…