That 70s Shit Show: Die Wohnkultur eines unerträglichen Jahrzehnts
Themen: Neues |Ich habe schon in den 80ern voller Überzeugung verkündet:
"Man hätte die 60er wiederholen oder die 80er vorziehen sollen – niemand brauchte die 70er."
Wohlgemerkt – ich sagte das in dem Jahrzehnt, das David Bowie mal hellsichtig so charakterisierte:
"Die Schulterpolster sind auch nur die Schlaghosen der 80er."
Die 70er waren, und davon bin ich bis heute nicht abzubringen, ein durch und durch hässliches, schmieriges, aufdringliches Jahrzehnt bar jeglichen Geschmacks, repräsentiert von Polyester, Plastik, Pornographie, Zigarettenkonsum und einer Überbetonung von allem – Koteletten, Revers, Absätze, Brillen, Schriften.
So sah meine Einschulung 1975 aus:
Alles Auswüchse in jeder Beziehung, ein optischer Schrei ohne Sinn und Verstand.
Schon die Frisuren (bzw. die Verweigerung von solchen) sollte reichen, dieses Jahrzehnt auf immer zu ächten:
Wohlstand wurde fehlgeleitet in Besitz, der zur Verfügung stehende Wohnraum musste zwanghaft gefüllt werden. Nicht benutzter Platz war nicht genutzter Platz.
Sofas mutierten zu Sitzlandschaften und Sitzgruppen, Schränke zu Schrankwänden. Betten waren nun französisch, Aschenbecher aus Murano-Glas. Keine Erkenntnis wert: Einrichtung ist noch kein Stil, ein Ensemble kein Konzept.
Das "junge Wohnen", das ja gerade mit den Traditionen brechen wollte, war in den 70ern genau so wenig zu rechtfertigen – siehe den IKEA-Katalog 1973:
Jeder, den ich kannte, wohnte anders. Ein heute kaum noch nachvollziehbarer Anblick, bei dem sich die Muster anzuschreien scheinen und man den in Polstern und Teppichen gestauten Staub förmlich in die Lunge wabern spürt:
Aber es geht mir heute nicht um die generelle Abrechnung mit einem Jahrzehnt, in dem ich groß geworden bin und zu dessen Verbrechen ich beigetragen habe:
Klar könnten wir über die RAF reden und die Filme von Alexander Kluge, über Dritte Zähne und Bahnhofskinos, über Wiener Wald und die Färbetabletten von Blendax Antibelag. Aber das wäre endlos und irgendwie redundant.
Es geht mir mehr darum, auf ein paar Details in der Veränderung der Wohnkultur hinzuweisen, weil es mittlerweile zwei Generationen gibt, die nicht mit dem aufgewachsen sind, was wir in grenzenloser Ignoranz für "normal" hielten.
Ich möchte die Erinnerung wachhalten, gegen das Vergessen anschreiben!
Da sind zuerst einmal die Teppiche.
Teppiche. Nicht flach rasierte Läufer, die dem Raum Struktur geben und sich problemlos vom Saugroboter sauber halten lassen.
Ich rede von hochflorigen Teppichen, im Extrem bis zum Flokati, die nicht nur Schritte und den Lärm der Wohnung darunter dämpften, sondern auch alles von Katzenhaaren über Brötchenkrümel bis zur Zigarettenkippe schluckten und auf Jahre bewahrten. Unfassbarerweise gibt es die immer noch:
Schichten über Schichten an Teppich.
Eure Großmutter wusste noch, wozu der hier notwendig war:
Teppiche gab es nicht nur im Schlafzimmer. Auch im Wohnzimmer. Im Kinderzimmer. In der Diele. Und bei den Briten gerne auch im Bad und rauf bis an die Oberkante der Badewanne. Ökosysteme aus Schimmel und Kleinstgetier.
Angesichts von Passivrauchen, Braunkohle und ausstehendem Asbest-Verbot waren die 70er das Jahrzehnt, in dem sogar das Einatmen lebensgefährlich war.
Und die Farben. Obwohl ich von Farben gar nicht reden möchte, weil "bunt" keine Farbe ist. Es ist bis heute nicht nachvollziehbar, wieso Augenkrebs nicht die Trend-Krankheit der 70er war. Das großflächige Blumenmuster war unser aller Feind und nach der gnädigen Abrissbirne blieb oft nur die Prilblume zurück.
Ansonsten beherrschten braun, gelb, ocker und orange unser Leben.
Neben dem Teppich war die Gardine eine der gelebten Scheusslichkeiten der 70er. Nicht der Vorhang, wohlgemerkt. Ein Vorhang ist zur Steuerung von Licht, Temperatur und Privatsphäre durchaus vertretbar. Auch zur farblich stimmigen Gestaltung der Wohnung trägt er bei.
Aber die Gardine nicht. Nicht die Gardine. Egal ob mit Goldkante oder ohne.
Nicht nur unterstellte die Gardine, das eigene Heim müsse so züchtig wie trotzig verschleiert werden – sie erzeugte ein seltsames Zwielicht, das nicht Schatten und nicht Licht war. Eine diffuse Repräsentation des Valium-Jahrzehnts.
Meine Eltern hatten in ihrer Wohnung eine prachtvolle Fensterfront zur Terrasse mit einem spektakulären Blick auf/über Düsseldorf:
Die Gardinen mussten übrigens einmal im Jahr aufwändig abgenommen und in eine spezielle Reinigung gebracht werden, weil der permanente Nikotindunst in der Wohnung sie schnell vergilben ließ. Gilb ist ein Wort, das der aktuellen Generation auch nur noch sehr selten begegnet…
Zu meinem Hass auf Gardinen gehört auch mein Hass auf die komplexen wie fragilen, schwer zu montierenden und zu benutzenden Gardinenschienen. Aber das mag ein sehr persönliches Trauma sein.
Wir könnten an dieser Stelle auch über die Tapeten der 70er sprechen, aber das würde ausarten. Belassen wir es dabei, dass die mühsam an die Wände gekleisterten Papierbahnen, die eine untrennbare Symbiose mit dem Putz eingingen, geschmacklich von wenig Reife zeugten. Keine der Rollen aus dem Baumarkt hätte man damals straffrei als "dezent" bezeichnen können.
Schon das Wort Raufaser erzeugt bei mir Gänsehaut – siehe Wikipedia:
Die Raufasertapete ist, gemessen an den Verkaufszahlen, der am meisten verbreitete Wandbelag in Deutschland.
Über der Tapete an den Wänden dann: Makramee, naive Malerei, neonfarbene Panther, sowie "geschmackvolle" Fotos von David Hamilton, die einem heute schnell mal die Polizei ins Haus holen würden. Selbst die Moral der 70er war schmierig und nur mit der Behauptung "Kunst" zu rechtfertigen.
Ein besondere Unterkategorie der Tapete, die ebenfalls fest mit den 70ern verbunden ist, war die Fototapete, gerne in den Varianten Südsee oder Alpen, mitunter auch versteckt im "Partykeller", der ein eigenes Kapitel wert wäre.
Die Fototapete erlebt übrigens im Zeitalter des Digitaldrucks eine unheilige Wiederkehr, weil es heute möglich ist, individuelle Motive in hoher Auflösung zu drucken und das große Panorama aus nächster Nähe nicht mehr wie unscharfer Matsch aussieht. Wir haben uns selbst ein abstraktes Motiv auf den großen Kleiderschrank im Schlafzimmer kleistern lassen.
Nochmal zurück zu den Sünden meiner Eltern – anno 1977 hielt man für einen modernen Neubau (!) diese Badezimmerfliesen für angemessen:
Man müsste sich fragen, was die damals alle gesoffen hatten – aber da sie ständig besoffen waren, wäre das müßig. In unserem Haushalt war es Altbier. Vielleicht deshalb das Bad in flaschengrün.
Kommen wir nun zu einem weiteren idealen Standard (if you know, you know), der in den 80ern und 90ern langsam wegrenoviert wurde: Der Flachspüler.
Ihr wisst nicht, was ein Flachspüler ist? Schätzt euch glücklich. Wir haben damals täglich drauf gesessen. Es war unser Klo. Im Gegensatz zur modernen Toilette hatte es nämlich ein eingebautes "Plateau", auf dem sich die darmseitigen Abscheidungen sammelten. So konnte man vor dem Spülen prima nochmal den eigenen Haufen bewundern. Ich erkläre es euch, weil es sonst niemand tut:
Man könnte allerdings unterstellen, dass dem Flachspüler eine Renaissance gut täte, da immer mehr Menschen das Handy ins Klo fällt.
Ein eher konzeptionelles Problem der 60er und 70er war das Layout des Wohnzimmers. Altar war der immer größer werdende Fernseher, dem alle Sessel und Sofas zugewendet sein mussten. Und weil man auf dem Altar seinen Gottheiten huldigt, durfte der Apparat gerne mit Häkeldeckchen, blinkenden Gondeln oder der Zubettgehzeit gemahnenden Uhren geschmückt werden.
Nicht so, aber auch nicht so weit davon entfernt, wie wir glauben möchten:
Ich unterstelle, dass die Bautiefe des Fernsehers (damals 60 Zentimeter, heute 6 Zentimeter – Fortschritt!) mit verantwortlich war für die Entstehung des Gelsenkirchener Barock. Der Apparat machte aus der Schrankwand das Schrankmassiv, das raumgreifend und erdrückend auftrat.
Herrgott nochmal, wir hatten sogar Kleidungsstoffe, die für das Jahrzehnt seltsam typisch waren. Zwei Sommer lang waren Papierjacken aus Tyvek angesagt, Sofa und Hose protzten mit Breitkord, und in keinem späteren Modezyklus wurde Nickistoff für etwas anderes als Kinder-Schlafanzüge verwendet.
Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass Jahrzehnte nicht isoliert betrachtet werden können, weil Menschen nicht mit dem Umsprung auf die nächste 0 den gesamten Lifestyle wechseln. Was in den 70ern in den Wohnungen stand, war meist noch der Geschmack der 60er und das, was uns heute für die 70er typisch erscheint, kam erst irgendwann in den 80ern dorthin, wo es hingehörte – auf den Sperrmüll. Die Übergänge sind fließend.
Und natürlich hatte jedes Jahrzehnt seine geschmacklichen Verbrechen – die 80er mit Neonröhren, Ledersofas und schwarzem Geschirr von Arcoroc:
Oder die 90er mit Deckenflutern und Niedervolt-Seilsystemen, die jede Wohnung mit der Gemütlichkeit eines Eisstadions beleuchteten, während die Wände schon so bemalt wurden, als hätten die Kinder Teller mit Bolognese geworfen:
So möchte ich die Gelegenheit ergreifen, mich einfach mal beim Zeitgeist zu bedanken. Ich bin nicht nur dankbar für das Internet und Netflix, für meine Pasta-Maschine und das Navi in meinem Auto. Ich bin auch dankbar für das Parkett unter meinen Füßen, für den Tiefspüler und die freien Fensterflächen mit dem Ausblick auf Trudering. Dafür, dass ich nicht mehr tapezieren muss und der Gilb keine Chance hat.
This IS the future.
Hahaha, bei uns passte die Beschreibung der Wohnungsverbrechen noch für die späten 80er bzw frühen 90er. Aber im Osten waren wir vielleicht auch nur etwas später dran.
"Ich bin der Gilb. Ich mache weiße Gardinen schmutzig und grau."
So die Werbung. Keine Ahnung mehr wofür, wird wohl irgendein Waschmittel gewesen sein. Aber schon in den 90ern. Und sogar mir als kleinem Steppke war schon klar, dass vergilbte Gardinen vom Rauchen kommt, einfach weil wir als Nichtraucher dieses Problem nie hatten.
Hat zwar nix mit dem Artikel per se zu tun, passt aber trotzdem irgendwie hierher:
Was mir in der momentanen Retrospektive schon oft aufgefallen ist: Die Jahrzehnte bis zur Jahrtausendwende sind für mich im "Aussehen der Welt" immer strikt getrennt gewesen. Ich könnte problemlos Dinge aus Mode, Kultur, Kunst, Technik, Medien usw. nennen; die ich für die jeweilige Epoche als "typisch" ansehe oder die meiner Meinung nach einen starken (Ein-)Schnitt zum vorherigen oder nachfolgenden Jahrzehnt bedeuten.
Ab den 2000ern wird es da schon diffuser, die verschwimmen teilweise gleichzeitig mit den 90ern und den 2010ern. Aber ab den 2010ern gibt es praktisch keinen Unterschied mehr zu den aktuell laufenden 2020ern. Der komplette Lifestyle der letzten 15-20 Jahre ist für mich subjektiv "alles das Gleiche" (wenn man nicht gerade penibel auf die jeweilige Smartphone-Generation blickt und geopolitische Entwicklungen außer Acht lässt). Was 2008er war, könnte genauso gut 2025 passiert sein. In meiner Erinnerung riecht, schmeckt und fühlt sich das alles gleich an und sieht auch alles gleich aus.
Jeder Frisör oder H&M-Verkäufer würde dem allerdings wohl ziemlich sicher widersprechen…
Man könnte dem Flachspüler allerdings den großen Vorteil der deutlich vereinfachten Stuhlprobeentnahme zu Gute halten – to whom it may concern.
Und nach dem ganzen Minimalismus-Design der letzten Jahre wäre ich sehr für etwas "expressiveres" Design. Aber ich habe die 70er auch nicht mitgemacht, und kann nur fürchten, was man damit herausbeschwört..
Ja, das mit der Stuhlprobe wird immer als Argument angeführt – aber wie oft braucht man die? Und reicht es dann nicht, sich den Hintern abzuwischen?
Hahaha… Ok, erst Kommentare lesen, dann schreiben. Schön, dass noch andere auf die Idee kamen. Zur Häufigkeit: Kommt auf deine Gesundheit an, wohl dir, dass du diese Frage stellen kann. Und nein, Klopapier reicht bei weitem nicht.
In einem anderen Beitrag hast Du (m.E. zurecht) bemängelt, dass die Straßen früher(tm) bunter waren, weil man sich auch mal bei den Autos Farbe getraut hat. Ich finde den heutigen Stil tatsächlich zu minimalistisch und wünsche mir ein bißchen mehr Mut zur zur Schau gestellten Hässlichkeit der 70er zurück.
Guck Dir Neubauten an. Kubistische Kotzkacke, grau angestrichen (!) euphemistisch "Stadtvillen" genannt. Ich nenne es Plattenbau 2.0 ich kenne Eigenheimsiedlungen, da würde ich besoffen das eigene Haus nicht finden, weil die alle exakt gleich aussehen. Zwei Autos in der Einfahrt, Teampolin im Garten. Alles einfach nur ätzend uniform.
McDonalds war mal "the happy place" auch optisch. jetzt sehen die Filialen aus wie durchgestylte Selbstmordzellen.
Und jetzt entschuldigt mich, ich muss das Häkeldeckchen unter der Glasplatte auf meinem Nachttisch neu ausrichten.
Du hast Recht – und doch wieder nicht. In der Tat moniere ich die nachlassende "Buntigkeit" der Außenwelt (farbig ist es ja nach meiner Definition, weil nicht koordiniert). Auch wir leben in einem Haus, das kaum identitätsloser gebaut worden sein könnte. Aber privat haben wir durchaus Farbe im Leben – nur eben etwas geschmackvoller eingesetzt und abgestimmter als in den 70ern, weniger brutal. Unser Stil ist MCM. Zur Schau gestellte Hässlichkeit kann ich nur in begrenztem Maße vertragen.
Hatte früher eine Kinderzimmertapete in Braun-Orange und eine orange Gardine, bis heute gehe ich diesen Farben aus dem Weg, obwohl: Eine Ausnahme gibt es allerdings, und zwar einen Wegbereiter in schlechtem Geschmack, ein silbrig-glänzendes Sci-Fi Alu-Pack in dem sogar geraucht wird.
Die erste Folge wurde 1970 ausgestrahlt, spielt alles aber1980 (die Zukunftsvorstellungen ehemaliger Was-ist was-Buch-Redakteure lassen grüßen). Den Panzer hatte ich (unwissendes Kind) damals als Spielzeug. Muss so Mitte der 70er gewesen sein. Bin ein Fan bis heute.
https://youtu.be/slYW7kkHyI4?feature=shared
Ja, das war schon massiv groovy.
Da hab ich auch noch einen:
https://www.youtube.com/watch?v=RHGV2qJI8fE
…was war ich glücklich, als ich anno77 mit zarten Siebzehn dem zwar buntmoderngestalteten, (man sollte ja was hermachen, wenn mal wer kommt) aber hochexplosivem Elternhaus entkommen konnte.
War das schön – endlich zwar frugal gelebt, aber dafür auch kein Bernd Clüver mehr am Abend vor den üblichen Auseinandersetzungen der dysfunktionalen Kleinfamilie.
Und keine Frisur mehr. Ha!
Mithilfe von Mr. Hit hat dann Iggy Pop geholfen, aber ich habe immer noch eine Abneigung gegen grüne Badfliesen, Puschelvorleger ums Klo sowie Dekozeugs aka "herumstehchen".
off topic, kam mir grad so.
Also mir begegnen sowohl Flach- als auch Tiefspüler durchaus immer noch regelmäßig.
Achtung, potentiell eklig: Wisst ihr, wie schwer es ist, eine Stuhlprobe aus einem Tiefspüler zu extrahieren? In dem Fall haben Flachspüler definitiv einen unbestreitbaren Vorteil!
Bin froh das ich 1980 geboren bin. Jedoch kommen meine Lieblingsfilme und meine Lieblingsmusik aus den 1970igern. Der Flachspǔhler, ein Grund das Klo zu demontieren. Welcher Designer denkt sich sowas aus?
Wundervoller Beitrag, danke!
Sehr schön geschrieben.
Als 75er-Wurf kenne ich das nur noch am Rande.
Aber zum Thema Badezimmerteppiche: ich (inkl. meiner Familie) bekenne mich schuldig, immer noch einen liegen zu haben. Zwar nicht wie früher mit passendem Teil für Wannenrand und Klobrille, aber ohne Badteppich geht es nicht. Die Fliesen werden ohne zu üblen Rutschfallen nach dem Duschen und auch sonst mag ich (aufgrund fehlender Fussbodenheizung) nicht auf kaltem Boden stehen. Besonders nicht vor bzw. nach dem Schlafen.
Der wird aber wöchentlich gewaschen bzw. ausgetauscht.
Genau das ist der Punkt – einen kleinen Ausleger, den man stressfrei reinigen kann, haben wir auch. Es muss ja nicht das Horror-3er-Set sein, für das Max Goldt mal den Begriff Toilettenfußumpuschelung erfunden.