20
März 2025

Auf euch: Nachrufe auf nur fast vergessene Freunde

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Erst Max Friedmann. Maria. Dann Silvia. Brigitte. Daniel. Markus. Mutti. Stefan. Ich könnte langsam eine eigene Kategorie daraus machen. Und es scheint, als hätte Billy Joel recht: Only the good die young.

Man kann es sich leicht machen und behaupten, dass der Tod "wahrer Freunde" nicht übersehen werden kann, schon gar nicht für 10+ Jahre. Wen man mag, den behält man im Auge, bis dieser seine schließt. Ein "wie, der ist tot?" mag als Beweis interpretiert werden, dass die Freundschaft sooo doll ja nicht gewesen sein kann.

Dazu habe ich eine klare Meinung (animated):

Die digitale Kultur hat seit Mitte der 90er (und damit lange vor "social media") neue Formen von Freundschaften ermöglicht, die nach anderen Spielregeln funktionieren als die Beziehungen zu den Bolzplatz- und Bierdosen-Kumpanen. Es gibt eine Innigkeit, die der virtuellen Vertrautheit gerne abgesprochen wird, die ich schon immer genossen habe. Sie basiert darauf, dass man im seitenlangen Email-Austausch mit Menschen eine Ebene findet, die weder persönliche Nähe noch ein direktes Kennenlernen voraussetzt. Alter, Status, Aussehen, geschlechtliche Neigungen – alles unwichtig, weil man sich auf das Verbindende konzentriert, ohne mit dem Trennenden konfrontiert zu sein.

Dass solche Freundschaften manchmal auch nach intensiven Jahren im Sande verlaufen? Geschenkt. Das tun "echte" Freundschaften auch. Und so, wie man bei "echten" Freunden manchmal erst spät von einem gemeinsamen Bekannten hört "der ist tot, wusstest du das nicht?", stößt man auf Facebook ab und an auf einen verwaisten Account und denkt sich "wie jetzt?".

Heute gibt es – mit Verspätung – wieder zwei Abgänge zu betrauern und zwei Freundschaften zu rekapitulieren.

Relativ einfach macht es mir der liebe Kurt Heering, der unfassbarerweise vor 12 Jahren verstorben ist, in denen ich mindestens zweimal im Jahr dachte "Mensch, ich muss auch mal dringend den Kurt wieder kontaktieren":

Kurt war Verlagsleiter (?) bei der vgs in Köln, als ich ihn kennenlernte. Vermittelt hatte mich Dirk Bartholomä für die deutschen Lizenzen von Babylon 5-Romanen – und so kam es, dass ich eines Tages um 1995 herum diesen Typen an der Strippe hatte, der mich bat, ein Buch für ihn zu übersetzen. Ich hatte noch nie als Übersetzer gearbeitet, aber "habe ich noch nie gemacht" ist nicht deckungsleich mit "kann ich nicht" und an Selbstvertrauen hat es mir noch nie gemangelt. Die 90er waren ein gutes Jahrzehnt für Quereinsteiger.

Wir kamen gut miteinander aus, der Kurt und ich. Wann immer ich meine Familie in Düsseldorf besuchte, schaute ich im Verlag vorbei, unangemeldet und mit der frechen Absicht, mir alles in die Taschen zu stopfen, was das Verlagsprogramm hergab: Romane, Sachbücher, Comics. Kurt hatte immer Zeit für einen Kaffee, ein Gespräch über die neusten Franchises, für wilde Ideen. Für ihn produzierte ich die U-Topics und er war es auch, der meine Ambitionen als Autor unterstützte, als die Amerikaner mit den Charmed-Romanen nicht hinterher kamen und ich darum bat, es mal mit eigenen Werken zur Serie versuchen zu dürfen. Zu dieser Zeit war viel Geld in der Branche unterwegs und man konnte viele tolle Sachen ausprobieren.

Bei einer Buchmesse war ich super begeistert von einem 2×3 Meter großen Stoff-Werbemotiv zur Serie BUFFY, der mein Co-Autor Marc sehr zugeneigt war. Ich stellte Kurt in einer Ecke des Messestandes und verkündete: "Ich brauche dieses Stoffbanner – keine Widerrede!". Kurt lächelte und sagte: "Warte nach der Messe einfach mal ab". Zwei Wochen später lag es auf meiner Türschwelle:

Klar war das eine primär geschäftliche Beziehung – ich lieferte Kurt ein großes Volumen an Büchern und sonstigem Content, wofür er mich unverschämt gut bezahlte. Eine win/win-Beziehung der angenehmsten Sorte. Aber man hatte Kurt auch gerne um sich, er war immer freundlich und gut gelaunt, auch wenn er rauchte wie ein Schlot. Kurt hatte so gar nichts unentspanntes, drängendes. Selbst Honorarverhandlungen mit ihm verliefen freundschaftlich und fair.

In den 2000ern zog Kurt nach München und arbeitete bei einer Firma für die Vermarktung von Serien, Filmen und Videospielen (so genau weiß ich das nicht mehr). Der Boom der TV-Romanadaptionen flaute ab, geschäftlich hatten wir kaum noch miteinander zu tun. Aber er kam ab und an zum Plaudern vorbei und beschwerte sich, dass meine niedrigen Togo-Sofas für einen alten Mann wie ihn die Hölle seien. Ich mochte seinen "inside view" in die deutsche Verlagsszene, er meine Expertise zum Thema Film & Fernsehen. Jedes Mal gingen wir mit dem Versprechen auseinander, wieder etwas miteinander auf die Beine zu stellen.

2012/2013 orientierte ich mich bekannterweise nach Speyer und später nach Baden-Baden um. Die ganzen Ideen und Projekte, die ich für mein Münchner Umfeld geplant hatte, blieben in der digitalen Schublade. Ich heiratete, schaffte mir Katzen an, fuhr für die LIEBES LAND durch die sieben Berge zu den sieben Zwergen. Bekanntschaften wie die zu Kurt fielen dabei hinten runter.

Gone, but not forgotten.

Tja, und vor ein paar Tagen bin ich dann zufällig über seine Facebook-Seite gestolpert – Kurt ist in der Nacht zum 20.11.2013 verstorben. Es ist bezeichnend, wie viele Kondolenznachrichten nicht nur Beileid, sondern auch Dank für eine immer fruchtbare Zusammenarbeit ausdrücken. Dem schließe ich mich an.

Mit ihm ist ein Licht verloschen, das man nicht differenzieren muss – die Welt ist ein wenig freudloser ohne Kurt. Und auch wenn wir schon so lange keinen Kontakt mehr zueinander hatten, werde ich ihn schmerzlich vermissen.

Das war der "leichte" Nachruf. Nun kommt der schwere.

Mitte der 90er, als ich bei ProSieben angefangen habe, war der einzig relevante Browser der Netscape Navigator. Der war genau genommen mehr als ein Browser, weil er ein Email-Programm und einen Newsgroup-Zugang mitbrachte. Besonders die Newsgroups begeisterten mich schwer, denn es gab sie zu wirklich allen Themen und hier konnte man die wirklichen "nerds" treffen, bevor das Internet zum Alltagsmedium wurde (mein Bruder meint ja immer, die Einstiegshürden seien heute einfach zu gering, um den Pöbel außen vor zu lassen).

Eine der Newsgroups hieß alt.video.tape-trading und auch das muss man den Spätgeborenen vielleicht erklären: 1995/96 gab es keine Codecs, mit denen man digitalisierte Videos in vertretbaren Größen über das Internet verschieben konnte. Man unterhielt sich zwar digital, der Filmtausch lief aber noch klassisch mit Videokassette und Deutscher Bundespost.

Über die Newsgroup fand ich viel Angebot und Nachfrage – Amerikaner, die seltene Spaghetti-Western haben wollten, die Kabel1 damals wöchentlich ausstrahlte, oder bizarre S/M-Pornos, die als "truly German" wohl einen besonderen Fetisch bedienten. Ich hingegen fand Jungs, die Zugriff auf extrem seltene und exotische Superhelden-Verfilmungen hatten und auf kuriose Werbungen. Ich schaffte mir sogar einen Tenlab-Konverter an, um die Kassetten von Pal auf NTSC und umgekehrt kopieren zu können:

Für alle, die nun neugierig sind – hier das Katalog-Mag eines semi-professionellen Versenders aus dieser Zeit, dem ich u.a. den türkischen SUPERMAN verdankte:

Eines Tages suchte ich in der Newsgroup nach jemandem, der meine Sammlung an SUPERBOY-Folgen vervollständigen konnte. SAT.1 hatte nämlich zwei von 100 Episoden aus geschmacklichen Erwägungen ausgelassen. Und kein echter Nerd akzeptiert Lücken in der Sammlung.

Es meldete sich David aus Michigan. Er hatte alle Folgen auf Video. Wir handelten irgendeinen Deal aus, an dessen Ende er mit ein Päckchen mit den Episoden fertig machte. Dann stellte er eine schicksalhafte Frage: Ob ich noch was bräuchte? Auf den Bändern sei noch Platz und er habe ungefähr 14.000 Videokassetten bei sich stehen. Praktisch alles selbst im US-TV aufgenommen. Über 30 Jahre.

14.000 Videokassetten. The mind boggles.

David, so stellte sich schnell raus, war nicht auf Geld oder Gegengeschäfte aus. Er half einfach gern und genoss den Kontakt zu anderen TV-Junkies. Die Päckchen, die er mir im Laufe der Zeit zusandte, nahmen immer größeren Umfang an. In einem meiner ersten Blog-Beiträge im November 2006 stellte ich eine Sackladung Jelly Bellys, Dosen mit püriertem Kürbis, und einen Spielzeug-Helikopter vor – alles "Weiterleitungen" von David.

David war der Knaller. Er nahm Waren von Amazon für mich entgegen, als Amazon noch nicht nach Deutschland verschickte. Er war der Mittelsmann für meine Charles Band-Artworks. Einmal fuhr er mit seinem Kumpel Fred 400 Meilen (!) durch vier Bundesstaaten, um mir in einer obskuren Videothek den lang gesuchten THE LEGEND OF HILLBILLY JOHN zu besorgen – so etwas findet man heute problemlos bei YouTube, aber damals war das eine Perle:

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Ein anderes Mal fragte ich ihn nach Mallomars-Keksen, die im Finale von HARRY & SALLY erwähnt werden. Er recherchierte, dass die in Michigan nicht regulär verkauft werden. Aber ZWEI JAHRE SPÄTER hatte ich plötzlich eine Packung in der Post, die er in irgendeinem obskuren Supermarkt entdeckt hatte. Es begeisterte mich besonders deshalb, weil ich jemand bin, der ebenfalls zu so etwas fähig ist.

David war allerdings auch scheu und immer etwas verstockt, wenn es um seine persönlichen Befindlichkeiten ging. Ich weiß noch, dass er mir ca. 1997 eine Email schickte mit einer "Wahrheit", von der er meinte, sie würde mich zum Abbruch unserer "Beziehung" verleiten: Er war fast 15 Jahre älter als ich.

Natürlich geht man instinktiv immer davon aus, dass der Gesprächspartner ungefähr dem eigenen Level entspricht, aber ich hatte mir darüber nie Gedanken gemacht. Es war mir schlicht egal, wie alt David war, und das sagte ich ihm auch. Er schien ernsthaft erleichtert.

Da ich aus einigen Nebensätzen herauslesen konnte, dass bei David das Geld immer knapp war, organisierte ich Ende der 90er einen Deal: Er wurde zum offiziellen "taper" von ProSieben, der dem Sender alles aufnahm, was für den deutschen Markt in Frage kam. Ein win/win/win-Geschäft: ProSieben bekam die neusten Episoden, David bekam 1000 (später 1200) Dollar im Monat, und die Pakete liefen grundsätzlich über meinen Tisch mit der expliziten Erlaubnis, auch private "Beipacker" zu transportieren. Was ich damit über die Jahre an Geld gespart habe, lässt sich heute kaum noch nachvollziehen.

David hatte sieben Videorekorder im Dauereinsatz. Ich wünschte, ich hätte das Foto noch, das er mir von seinem Setup mal geschickt hat.

David – von dem ich nie ein Bild gesehen habe – wurde ein Vertrauter, ein echter Freund. Er war der Einzige, mit dem ich viele Sorgen und Zweifel teilte, als ich noch Single war – weil ich wusste, dass er sie niemals gegen mich verwenden würde. Aus großer Dankbarkeit schickte ich ihm Fresskörbe und nahm ihn in die Vorwörter meiner Bücher auf.

Auch hier ist die Geschichte ähnlich wie bei Kurt Heering: Um 2010 herum konnte man alles aus dem Netz laden, was man suchte. Amazon gab es auch in Deutschland. ProSieben benötigte die Aufnahmen von David (mittlerweile auf DVD-R) nicht mehr. Ich lernte meine Frau kennen. Die Emails wurden sporadischer und David zog sich immer weiter zurück. Es vergingen Tage, dann Wochen, dann Monate, bis wir uns wieder schrieben, zu oft eingeleitet von "Sorry für die lange Funkstille, aber…"

Vor gut zwei Jahren habe ich David noch einmal geschrieben, länger diesmal. Ich habe ihm erzählt, dass ich wieder in München lebe, wie wir Corona überstanden haben, was das Leben als Privatier mit mir macht. Er hat nicht geantwortet und ich habe das als Signal gesehen, dass er kein Interesse am Austausch von Belanglosigkeiten mehr hatte.

Irgendwann letzte Woche wollte ich es noch einmal wissen. Ich suchte mir Davids immer nur spärlich befüllte Facebook-Seite heraus, um zu sehen, wie es ihm geht. Ich fand einen verwaisten Account und eine kurze Meldung seiner Schwester – David war kurz nach dem Erhalt meiner Email vor zwei Jahren verstorben. Vielleicht hätte er mir antworten wollen. Aber er konnte nicht mehr.

Im Netz fand ich sogar eine Traueranzeige der Familie. Jetzt, nach seinem Tod, weiß ich erstmals, wie David aussah:

Ich wusste nicht mal, dass sein zweiter Vorname Lynn war. Er wurde 70 Jahre alt.

Vielleicht macht mir sein Tod deshalb so zu schaffen, weil er ein echter Freund in einer Zeit war, in der ich nicht viele echte Freunde hatte. 1996 bis 2010 waren wir digital unzertrennlich, ohne uns jemals gesehen oder gesprochen zu haben. Ich könnte die zu Textdateien zusammengefassten Email-Konversationen mit David aus meinem Google-Drive heraussuchen. Es würden Tausende sein, teils seitenlang, geschrieben zu jeder Tages- und Nachtzeit. Er hat sich bei mir entschuldigt, als seine Landsleute Bush zum zweiten Mal wählten – und für Trump hat er sich geschämt.

Er war ein sanfter, verständnisvoller, hilfsbereiter Mensch ohne Anspruch, ohne Widerhaken, ohne Selbstsucht. Eine reine Seele.

Weg. Beide. Kurt. David. Was mir verloren geht, wo ich doch mit beiden so lange schon keinen Kontakt mehr hatte? Die Möglichkeit, das irgendwann wieder zu ändern. Und das hinterlässt dann eben doch eine Lücke, verursacht einen Schmerz. Die Erinnerung an das, was war, und an das, was nicht wieder sein kann.

Hinzu kommt, dass beide Gefährten eines anderen Lebens waren, Zeugen meiner wilden Jahre, Kumpane im Wilden Westen des frühen Internets. Wäre ich ein Blues Brother und müsste die Band wieder zusammenbringen – sie wären der Bassist und der Keyboarder. The good old days.

See you on the other side, guys.



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Maximilian Frömter
Maximilian Frömter
20. März, 2025 10:53

Sehr traurig, solche Gedanken beschäftigen mich zur Zeit auch sehr. Genau vor einer Woche war die Beerdigung meines guten, alten Freundes Florian. Ein unglaublich begnadeter Künstler, legendärer Science-Fiction- und Film-Nerd und geradezu unfassbar liebenswerter Mensch. Ich hatte ihn 1999 bei "Ice Planet" kennengelernt, wo wir beide als Concept Artists gearbeitet hatten. Danach haben sich unsere Wege getrennt, er blieb in München, während ich mich in der Weltgeschichte rumtrieb. Persönlich getroffen haben wir uns danach nur noch ein paar Mal, allerdings vollführten wir konsequent das jährliche Ritual eines den ganzen Abend währenden Skype-Videogesprächs unter Alkoholeinfluss. Ich hatte mir immer vorgenommen, ihn nach Erreichen meines sich bereits vage am Horizont abzeichnenden Ruhestandes endlich wieder häufiger zu treffen und eventuell gemeinsame Projekte in Angriff zu nehmen, doch Anfang des Jahres erreichte mich die Nachricht von seinem Krebsleiden. Immerhin konnte ich ihn noch zwei Mal besuchen und zusammen mit vielen alten Freunden und Kollegen in seiner zur einzigartigen Nerd-Höhle umgebauten Wohnung (in der ich zuletzt bei der Feier zu seinem 30.Geburtstag war) eine wirklich schöne Abschiedsparty feiern. Er wurde nur 47 Jahre alt.
Du wirst unvergessen bleiben, Flocki!

Baumi
Baumi
21. März, 2025 00:27

Mein Beileid. Und ein Detail am Rande, das Dich vielleicht interessieren könnte: David hat es dank Deines Deals offenbar sogar bis zur Erwähnung in einschlägigen Uni-Kursen gebracht.

Zumindest gehe ich stark davon aus, dass er gemeint gewesen sein dürfte, als uns unsere gut in der Branche vernetzte Fernsehwissenschafts-Dozentin Ende der 1990er erzählte, dass da in den USA „ein Frührentner sitzt, der von den deutschen Privatsendern dafür bezahlt wird, ihnen die neuesten Sendungen auf Video aufzunehmen und zuzuschicken.“

Frank B.
Frank B.
21. März, 2025 16:35

Hallo lieber Wortvogel, die Beschreibung deiner Freundschaft mit Dave war das Berührendste was ich seit langem gelesen habe.
Made me cry.
(Das wollte ich nur vermelden. Sonst habe ich nichts zu sagen).