Filmlexikon-Geschichtsklitterung: Lügen wie gedruckt
Themen: Film, TV & Presse |Vor ein paar Jahren habe ich über die letzte Ausgabe des legendären "Movie Guide" von Leonard Maltin geschrieben. Gedruckte Filmlexika haben sich überlebt, man holt sich die gewünschten Informationen aus dem Netz. Da ist die Schrift auch nicht so klein.
Nun dachte ich, mit der letzten aktualisierten Version (dann auch in digitaler Fassung) den finalen Wälzer im Regal zu haben, die volle Packung – auch wenn Maltin in den letzten Jahren immer mehr alte Reviews gestrichen hatte.
Gestern musste ich jedoch feststellen, dass beim Movie Guide im Laufe der Jahre nicht nur aufgeräumt wurde – es wurde auch "gesäubert", wenn ich das mal vorsichtig ausdrücken darf. Zu meinen Lieblingsreviews aus den alten Versionen des Buches zählte folgende Einschätzung des Thrillers VENOM mit Klaus Kinski und Oliver Reed, die sich in den 90ern in mein Gedächtnis eingebrannt hatte:
Die Hälfte der Besetzung sieht aus, als wäre sie betrunken – und die andere Hälfte, als wünschte sie sich, sie wäre es auch.
Nicht konstruktiv, nicht diplomatisch, aber hammerlustig.
Nun wurde der Film gestern auf Facebook mal wieder erwähnt und ich beschloss, die alte Kritik für einen launigen Kommentar rauszusuchen. Doch in der finalen 2015er-Version des Maltin Movie Guide fand ich nur das hier:
Imagine my surprise.
Hatte ich mich vertan? Stammte der hämische Verriss, an den ich mich erinnerte, aus einem anderen Filmlexikon? Hatte ich das jahrelang falsch zitiert?
Die Antwort lag auf der Hand:
Also begab ich mich gestern Abend an die Recherche – ein Haufen der alten Editionen vom Maltin Movie Guide sind ja erfreulicherweise bei archive.org noch zur Ausleihe verfügbar (wenn auch nicht mehr zum Download). Ich wählte ein Exemplar aus den frühen 90ern, als das "Brikett" ein unverzichtbarer Teil meiner Arbeit als Redakteur beim GONG gewesen war. Und siehe da:
Ich kapier’s nicht. Was soll das? Man kann die alte Kritik schnippisch und gemein finden, aber sie bringt in drei Zeilen hohen Unterhaltungswert mit und vermittelt deutlich, was man von VENOM zu halten hat. Es ist wie die CONAN-Kritik von Penthouse (!) damals:
Arnold Schwarzenegger wuchtet sich durch die Handlung mit Muskeln an Stellen, wo normale Männer nicht mal Stellen haben.
That’s Entertainment! Die "aktualisierte" Kritik ist so furchtbar zahm und zahnlos. Eine klare Vorstellung der "Qualität" von VENOM lässt sie nicht zu.
Leider entspricht das aber meinem Eindruck von Filmkritik im Internet-Zeitalter, besonders auch im deutschen Raum. Es gibt kaum klare Stimmen, kaum Reviewer mit einer erkennbaren Handschrift, die nicht einer falsch verstandenen Idee von "fairer Kritik" hinterher hecheln, sondern die ihre eigene Meinung zum Maßstab machen und danach trachten, die Leser zu überzeugen. Ich weiß nicht, wie oft ich auf den großen Review-Seiten auf Kritiken klicke, nur um dann gleich wieder weiter zu surfen, weil mir sechs Seiten Text angekündigt werden. Elend lange Beschreibungen von Inhalt, Figuren, einzelnen Szenen, tonnenweise "info dump" in Sachen Background, ständiges sowohl/als auch-Abwägen, um ja keinen Leser vor den Kopf zu stoßen. Keine Struktur, kein roter Faden, keine klare Meinung.
Meine eigenen, immer subjektiver gefärbten Reviews, die sich Einschätzungen zu Spezialeffekten oder Musik oft komplett verkneifen, sind in gewisser Weise auch eine Reaktion darauf. Früher habe ich strukturierter geschrieben, war stärker darauf bedacht, alle Aspekte des Films zu beleuchten. Wer Negatives schreibt, muss auch das Positive sehen wollen.
Ist natürlich Quatsch. Wenn ein Film langweiliger Scheiß ist, dann reicht es oft genug, "langweiliger Scheiß" zu schreiben. Meine Leser kennen meine Einstellung, die können daran selber ablesen, ob sich der Kauf einer Karte lohnt.
Aber das ist ein Nebenkriegsschauplatz. Hier geht es mir darum, dass großartige, knackige, präzise Kritiken offensichtlich ausgetauscht wurden, um "objektiveren" Einschätzungen Platz zu machen. Das geht nicht. Das ist falsch. Das erinnert an Neusprech. Das gehört dokumentiert. Ich will nicht anfangen, an meinen eigenen Erinnerungen zu zweifeln, nur weil ich die falsche Edition eines Buches in der Hand halte.
Oder bin ich wieder nur der "old fart", der die Fäuste gen Himmel schüttelt?
Das Problem ist doch das alles heute auf die Goldwaage gelegt wird. Hat es nur den kleinsten Deut eines Geschmäckles wird gleich ein Brimborium daraus gemacht. Könnte mir schon vorstellen das irgendeine Boulevard Zeitung in der Sommerpause titelt: Star Kritiker betitelt Hollywood Stars als Alkoholiker.
Hayden und Reed waren ja bekannte Konsumenten der alkoholischen Substanzen. Von daher hat Maltin nicht mal Unrecht.
Ich könnte nicht mehr zustimmen. So sehr ich es wichtig finde, dass man bei einer Kritik ins Detail geht (ich kann mich erinnern, dass ich Filme, die du verrissen hast, daraufhin unbedingt sehen wollte, weil ich genau weiß, dass das, was dich da gestört hat, mich nicht stört und Dinge die du erwähnt hast, die dir nicht so wichtig sind, für mich ein klares Plus sind), so wenig möchte ich auf Humor und klare Worte verzichten. Zumal das hier nicht irgendwie verletzend oder unter der Gürtellinie ist.
Ich weiß nicht, welchen Einfluss er auf die Neuauflage hatte, aber wenn man mal davon ausgeht, dass er selbst die Änderung abgesegnet hat: das muss ja keine Selbstzensur sein. Man wird eben auch älter und weniger wütend, und dann hat er sich vielleicht nicht mehr damit identifizieren können. Oder er hat einen Alki in der Familie und guckt auf solche Sätze heute mit anderen Augen.
Ich baue darauf, dass du weitere Perlen dieser Art im Gedächtnis hast: ist noch irgendwas Anderes gestrichen worden? Oder ist das der (vielleicht) einzige fehlende Satz im Buch?
Das habe ich weder im Kopf noch kann ich das prüfen.
off-topic: Vielen Dank für diesen Walk down memory lane.
Durch deine internen Verlinkungen auf ältere Artikel zum Thema habe ich einen eigenen alten comment wiedergefunden, den ich damals noch unter einem anderen nick geschrieben hatte, an den ich mich dann später nicht mehr erinnern konnte; ebensowenig wie ich diesen bewussten comment wiederfinden konnte – bis heute.
https://wortvogel.de/2011/10/vhs-ntsc-fsk-nl-cat-iii-bpjs-ld-zdf-omu-erinnerungen-an-eine-horrorgeek-jugend-in-den-80ern/#comment-1050061
on-topic: In einer Zeit
wundert es mich nicht wirklich, dass auch solche Klassiker wie Leonard Maltin’s Movie Guide durchgesiebt werden, um nur ja bei keinem Schneeflöckchen anzuecken.
Ich habe einige seiner Bücher als ebooks und auf Grund von deren Erscheinungsdaten (nach 2010), sind diese sicher auch entsprechend "bereinigt" worden.
Siehe mein anderer Kommentar: Die Änderung, um die es hier geht, findet sich das erste Mal bereits in der 2005er-Ausgabe. Das war lange vor Sensitivity Readers und großen öffentlichen Diskussionen um kulturelle Aneignung.
In einer Zeit, in der Kulturstaatsministerinnen (Roth) Filmförderanträge an Diversität und Sensitive Writing koppeln wollen, also quasi eine inhaltlich-ideologische Ausrichtung gefordert wird, müssen wohl auch die Archive dran glauben und schnellstens "bereinigt" werden. Das nennt man Zensur. Klar sollte es so etwas in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht geben, erst recht nicht im Kunstbereich. Was die Kritik anbelangt: Mit wenigen Ausnahmen (z.B. Georg Seeßlen, aber auch Wolfgang Schmitt Jr.) besteht die Filmkritik heute nur noch aus sicherheitsorientierten, angstgetriebenen Nullnummern. Das ist zumindest mein Eindruck.
"Georg Seeßlen, aber auch Wolfgang Schmitt Jr." – da fehlt mir jemand. Räusper, hüstel…
Weil einige Kommentatoren hier gleich die nächste Front im Kulturkampf wähnen: Wenn man in anderen Ausgaben bei Archive.org nach der Kritik sucht, stellt sich heraus: Die Änderung taucht das erste Mal in der 2005er-Ausgabe aus, d.h. sie wurde vor gut 20 Jahren gemacht. Insofern taugt sie m.E. schlichtweg nicht als Beleg für irgendwelche realen oder gefühlten gegenwärtigen Entwicklungen.
Auch wurden keine Archive zerstört oder verschlimmbessert, sondern es ist halt eine Textänderung in einer neuen Ausgabe eines Nachschlagewerks. Sowas gab’s schon immer (weshalb beim wissenschaftlichen Zitieren aus Büchern ja auch immer die verwendete Ausgabe angegeben werden muss), und dafür kann’s tausend Gründe geben. Und sei es nur, dass eine relevante Stimme in Verlag oder Redaktion seinerzeit meinte, man müsse "seriöser" rüberkommen, um sich von Internet-Konkurrenz wie Harry Knowles abzusetzen.
Man muss diese Änderung nicht mögen und kann natürlich den "wilderen" und unterhaltsameren Zeiten hinterhertrauern, aber ich seh’ da weder Neusprech noch Zensur, sondern erstmal einfach nur ein Indiz, dass irgendwer glaubte, dass der Eintrag für die Neuauflage eine Überarbeitung nötig hatte. Warum genau das so war, ist sicher eine interessante Frage, aber die Gründe dafür dürften sich in der Zeit finden lassen, in der die Änderung gemacht wurde, und nicht, wie einige Kommentatoren zu vermuten scheinen, in der Gegenwart.
Ich halte es auch nicht für ein Zeichen eines Kulturkampfes oder gar "woke" – es geht mir um Transparenz. Es hätte mir vollkommen gereicht, wenn man sich ein Sonderzeichen überlegt hätte, mit dem geänderte Kritiken gekennzeichnet werden. Man darf ja auch fragen, warum sich mit dem Text die Wertung verändert hat.
Das war auch tatsächlich nicht an Dich gerichtet, sondern an die Interpretationen in einigen Kommentaren hier, die m.E. in diese Richtung gingen.
Aber die von Dir angesprochene Parallele zu Neusprech oder Geschichtsklitterung sehe ich auch nicht wirklich. Dass sich Kommunikationsstrategien und -stile im Laufe der Zeit ändern, ist normal. Man Vergleiche etwa die seriös-steife Präsentation der ÖR-Radionachrichten aus den 1980ern mit denen von heute, oder umgekehrt, die Professionalisierung mancher Fanzines, die sich zu "richtigen" Zeitschriften entwickelten (und dabei oft viel an Charme und Originalität einbüßten.).
Und ich glaube, es ist allgemein nicht üblich, bei solchen Werken Änderungen zwischen Editionen zu kennzeichnen. Hab ich zumindest auch noch in keinem anderen Lexikon oder Nachschlagewerk gesehen. Klar kann man das für wünschenswert halten, man kann aber umgekehrt auch sagen: Die Jahreszahl der Ausgabe steht groß drauf und impliziert, dass das drin ist, was die Herausgeber aktuell drin haben wollen – und das muss nicht dasselbe sein wie vor X Jahren. Wer wissen möchte, wie es in älteren Ausgaben war, kann es vergleichen. Insbesondere weil ja, anders als etwa bei Websites, die alten Exemplare des Textes durch eine Änderung nicht plötzlich verschwinden oder unzugänglich werden.
Insofern: Ja, ich halte die Frage, warum da vor 20 Jahren jemand entschieden hat, den alten Text zu ersetzen, auch für durchaus interessant. Ich gehe halt nur bei dem oben angesprochenen Neusprech-Vergleich nicht mit, weil der von seiner Herkunft her eben zentral gesteuerte Meinungsmache und Geschichtsrevisionismus impliziert. Und das ist mir einfach ein paar Nummern zu groß, um es an einer jahrzehntealten Änderung von ein paar Zeilen Kurzkritik zu einem relativ obskuren 80er-Jahre Film festzumachen.