Letting go: Abschied von Katinka
Themen: Neues |Von unserer ersten Katze Katinka habe ich vor unfassbaren 16 Jahren erzählt:
Eines Tages, ich war wohl sieben oder acht, kam ich vom Fußball-Training nach Hause, und wollte mich erschöpft auf das kleine schwarze Kissen auf dem Sofa im Wohnzimmer fallen lassen. Mitten in der Bewegung hielt ich verrenkt inne, weil ich dachte: “Seit wann haben wir ein kleines schwarzes Kissen?!”. Ich schaute genauer hin: Es war eine winzige, zusammengerollte Katze! Michael hatte sie in einem Hinterhof gefunden und es nicht übers Herz gebracht, sie dort zu lassen.
Katinka wurde im Laufe der Jahre zum Prototypen der fetten, faulen Wohnungskatze, die sich nur noch in Bewegung versetzte, wenn sich eine Wespe ins Wohnzimmer verirrte, oder wenn jemand nach der Reisetasche griff, in der sie immer zum Tierarzt transportiert wurde. Wir haben sie geliebt.
In meiner Erinnerung steht Katinka in direkter Verbindung zu Abby und heute zu Rufus und Becky. Tiere, die uns begleiten, uns prägen.
Aber darum soll es heute nicht gehen. Es geht um Erinnerungen – und die Frage, wann es reicht, dass es Erinnerungen sind. Ob Erinnerungen den Anspruch haben müssen, eine Wahrheit zu sein, oder ob es reicht, dass sie meine Wahrheit sind.
Mein Vater ist 1990 verstorben, meine Mutter 2022. Auch meine Großeltern sind komplett unter der Erde. Es leben keine blutsverwandten Onkel und Tanten mehr, die Geschichten erzählen oder bestätigen könnten.
Vor ein paar Tagen fiel mir bei einer meiner vielen Entrümpelungsaktionen diese Kachel in die Hand:
Die Geschichte zur Kachel geht so: Mein Vater war in Düsseldorfer Taxifahrer in Nachtschicht – neben seinem Hauptberuf als Buchhalter bei Mannesmann. Er hatte Frau und zwei Kinder, da zählte jede verdiente Mark. Als Taxifahrer fuhr er viel die Düsseldorfer Altstadt ab. Er konnte launige Geschichten erzählen von Besoffenen und Boney M, von Räubern und Roland Kaiser. Er hat sie alle gehabt.
Zu Kirmes-Zeiten und an Feiertagen fuhr er besonders gern, denn da gab es extrem viel Kundschaft und gerne auch mal großzügiges Trinkgeld. Das "passt schon!" sitzt bei 2 Promille lockerer. Und auf der Düsseldorfer Rhein-Kirmes war es auch, dass ihm Ende der 70er eine Malerin über den Weg lief, die einen kleinen Stand hatte, an dem die Besucher sich porträtieren lassen konnten. Ich vermute, dass ein Zettel auch aufwändigere, heimgefertigte Malereien anbot, denn mein Vater ließ sich ihre Kontaktdaten geben.
Bei der Recherche für diesen Beitrag fand ich tatsächlich das Foto, das mein Vater in der Folge an die Malerin schickte:
Und so kam es, dass wir nach ein paar Wochen (zu Weihnachten?) eine Kachel mit einem "Gemälde" unserer Katinka in der Wohnung hängen hatten.
Katinka starb Ende der 80er. Ein paar Jahre später hat mir meine Mutter die Kachel mitgegeben, als ich nach München gezogen bin. Anfänglich hing sie noch an einem Nagel in der Diele. Irgendwann wanderte sie in eine Schublade – und dann von Schublade zu Schublade. Ein Wunder, dass sie keinen Schaden genommen hat.
Ich habe die Kachel jetzt hochauflösend fotografiert – und werde sie entsorgen. Für den physischen Gegenstand habe ich keine Verwendung, meine Nostalgie stillt auch das digitale Bild. Das werde ich nie verlieren, das kann nie brechen.
Aber die Sache mit der Kachel brachte mich zum Nachdenken. Wer hat mir die Geschichte der Kirmesmalerin überhaupt erzählt? War es mein Vater, war es meine Mutter? Wenn es meine Mutter war, wäre es eine Story aus zweiter Hand gewesen. Mit welcher Inbrunst kann ich sie wiedergeben, wenn ich sie weder zeitlich noch personell verorten kann? Ist die Geschichte überhaupt wahr oder vielleicht nur fehlerhaft erzählt?
Alles, wofür ich als "Fakt" bürgen kann, ist die Tatsache, dass wir eine Katze namens Katinka hatten und es von ihr ein Porträt auf einer Kachel gibt. Der Rest sind Erinnerungen an etwas, das mir jemand irgendwann mal erzählt haben muss, als ich noch ein Kind war. So sehr ich davon überzeugt sein mag, so sehr ist es nur eine über Jahre eingebrannte Anekdote, auf die ich kein Geld wetten könnte.
Und tatsächlich passiert mir das immer häufiger, gerade in Gesprächen mit meinem Bruder. Wir erzählen uns Schwänke aus der Kindheit und stellen fest, dass wir nichts haben, um sie zu belegen – und niemanden mehr, den wir fragen können. Wir stellen Lücken in unseren gemeinsamen Erinnerungen fest, die Lücken bleiben werden, weil unsere Mama auf Nachfrage nicht mehr ihr patentiertes "Das kann ich dir genau sagen…" rausholen kann. Und manchmal grübeln wir dann beide, ob wir einem Mandela-Effekt aufgesessen sind, ob wir als "true story" weitergeben, was nur um der Familienräson so erzählt wurde.
Bequeme Märchen.
Das Wissen über unsere Familie, das wir in den letzten 50 Jahren angesammelt haben, ist final und abgeschlossen. Wahr oder unwahr haben jede Bedeutung verloren. Vielleicht ist das aber nicht wichtig, weil uns die Erinnerungen prägen und nicht ihr Wahrheitsgehalt. Darin liegt womöglich eine tiefere Wahrheit.
Ich könnte die Geschichte um die Katinka-Kachel auch als "unbewiesen / unbeweisbar" abhaken und nicht mehr erzählen. Aber mein Leben wäre dann ärmer. Die Geschichte ist wichtig – ganz gleich, ob sie wahr ist.
Wir sind nicht primär das, was wir wissen, sondern das, was wir glauben.
(gelöscht)