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Apr 2024

Gänsehaut zur Geisterstunde (1): “Ein Todesfall” von Marko Heisig

Themen: Film, TV & Presse, Neues |

Christian Brunnigan hörte das Martinshorn in der Ferne und schreckte auf. Nach einigen Sekunden besann er sich jedoch wieder, raffte den eben erbeuteten Schmuck zusammen und warf hastig einen letzten Blick auf den toten Geschäftsinhaber. Eilig verließ er den Juwelierladen. Kühle Nachtluft schlug ihm entgegen. Die Sirenen klangen bereits gefährlich nahe. Brunnigan beschleunigte seine Schritte, um den Polizeiwagen zu entgehen. Durch die nachtleeren Gassen klangen seine Tritte unnatürlich hohl und hallten von den dunklen Häusern wider. Als er sich schon in Sicherheit glaubte, das Heulen der Sirenen war fast verklungen, prallte er plötzlich verunsichert zurück. Vor ihm auf dem schmalen Pflaster, zwischen den engen Häusern, standen fünf kleine Gestalten. Zögernd ging Brunnigan auf sie zu.

*

Inspektor Foster wandte sich schaudernd ab. Trotz seiner fünfzehnjährigen Arbeit beim BKA war er doch erschüttert.

“Entsetzlich”, stöhnte er. “Wer konnte so etwas tun? Und vor allen Dingen: Warum?”

Der Polizeiarzt fühlte sich angesprochen und antwortete: “Es müssen Tiere gewesen sein. In den Hüftknochen haben wir zwei sechs Zentimeter lange Hornkrallen entdeckt; sie stecken tief im Gelenk. Uns ist allerdings kein Tier bekannt, das solche Krallen besitzt!”

Ein jüngerer Polizist betrat den Leichenraum. Nach wenigen Minuten des Schweigens räusperte er sich und sagte: “Das Labor ist mit der Identifizierung fertig. Das Opfer heißt…” Er räusperte sich erneut, “das Opfer hieß Christian Brunnigan”.

“Der?” Foster hob erstaunt die Augenbrauen.

“Sie kennen ihn, Inspektor?”

“Ja, ich kannte ihn außerordentlich gut. Christian Brunnigan war mindestens zwei Dutzend mal vor Gericht; kleinere Überfälle und so was.”

Es herrschte wieder Schweigen.

“Klingt wie in einem Kriminalroman”, meinte Foster sarkastisch. “Ein Mörder – auf der Flucht vor der Polizei – stirbt, wird von der Polizei aufgefunden, die vor einem Rätsel steht.”

Der Arzt lachte schwach auf. “Nur daß dieses hier Realität ist”, bemerkte er.

“Kommen Sie – hier wird es mir allmählich zu kalt.” Foster verließ den Obduktionsraum. Der Mediziner und der Polizist folgten ihm. 

Als Foster mit einer heißen Tasse schwarzen Kaffee in seinem Büro erschien, erwartete ihn seine Sekretärin bereits an der Tür. “Sie haben Besuch”, sagte sie und griff zur Türklinke, “fünf japanische Herren, die mit ihnen über die vor zwei Stunden aufgefundene Leiche reden wollen.”

Foster war verblüfft. “Ja, woher wissen die denn . . .?” Seine Laune sank rapide. Er warf der Sekretärin einen miẞbilligenden Blick zu und betrat sein Büro.

Fünf kleine, grinsende Gesichter erwarteten ihn in dem kleinen Zimmer; nur mühsam konnte er einen Lachanfall unterdrücken. Der Anblick war zu herrlich.

“Nun, meine Herren”, begann Foster einigermaßen ernst. “Was kann ich für sie tun…” 

*

In der Katakombe begann sich etwas zu regen. Leichenreste Brunnigans schoben sich zusammen. Ein leises Saugen war zu vernehmen, während sich eine neue Masse formte. Der zerfetzte Oberkörper schloß sich zu einer Kugel und verschmolz mit dem entstellten Kopf. Die Beine verkümmerten zu kurzen Stum- meln und gingen ebenfalls in die formlose Kugel über. Das Saugen verstärkte sich zu einem Schmatzen, das sich durch den ganzen Raum erstreckte. Und während sich die Masse leicht gelblich verfärbte, bildete sich langsam ein kleiner, deutlich neuerer Körper aus der gummiartigen Kugel: kurze Ärmchen und Beinchen, ein dünnes Gesicht, pummelig… 

Innerhalb von zwei Stunden war die unheimliche Prozedur beendet. Auf der Bahre stand ein winziger, grinsender Japaner. 

*

Foster durfte sein Büro erst am späten Morgen verlassen. Die Japaner stellten eine Menge Fragen, von denen die meisten noch nicht einmal Foster beantworten konnte. Gegen acht Uhr morgens hatten sich die noch immer grinsenden Männchen verabschiedet, so daß er endlich etwas Zeit für sich selbst besaß. Erleichtert ging er nach Hause, nahm ein etwas verspätetes Abendessen zu sich und schlief bis zum nächsten Morgen durch.

Ausgeruht und frisch kam er bei dem Polizeimediziner an. “Morgen, Doktor”, sagte er gutgelaunt, “irgendetwas Neues?”

Der Arzt sah ihn von unten über seine Brille hinweg an.

Sie wissen es also noch nicht?”

Der Inspektor lächelte erstaunt. “Was?”

“Brunnigan ist weg.”

Fosters Lächeln zerbröckelte. “Wie – weg?!”

“Eben weg!” Der Arzt geriet in Rage. “Keine Spur ist zu finden, nichts wurde berührt, Türen und Fenster waren verschlossen – aber die Leiche ist weg!”

Nervös fragte Foster: “Wurde der Fundort der Leiche noch einmal untersucht?”

Nun war der Arzt an der Reihe, erstaunt zu sein. “Der Fundort? Nein, warum? Das hat doch nichts . . . he!”

Der Inspektor war aufgesprungen und strebte hastig der Tür zu. Kopfschüttelnd sah ihm der Mediziner nach. 

*

Er sah schon von weitem das Erwartete: Auf der schmalen Pflastergasse lag eine zusammengesunkene Gestalt in ihrem eigenen Blut. Eilig verließ Foster den Dienstwagen und lief auf die schrecklich entstellte Frauenleiche zu. Verdammt, schoß es ihm durch den Kopf, hätte ich doch bloß auf die verrückten Worte der Chinesen gehört: “Diese Straße ist verflucht. Ihre wahren Bewohner haben sich lange Zeit versteckt halten müssen, jetzt sind sie zurückgekehrt. Beachten Sie unsere Warnung! Ein Todesfall wird dem anderen folgen..

Foster hatte darüber gelacht und den Wortführer der fünf Männer nicht ernst genommen. Aber was er in diesem Augenblick vor sich sah, das war Realität! Foster sah sich die Leiche genauer an und verständigte dann seine Kollegen. Als er das Martinshorn bereits vernahm, bemerkte er am hinteren Ende der Gasse eine Bewegung:

Vor ihm auf dem schmalen Pflaster, zwischen den engen Häusern, standen sechs kleine Gestalten. Zögernd ging Foster auf sie zu . . . 

ENDE 

Erschienen am 25.8.1986 in der Zweitauflage von DER MANN, DER NICHT STERBEN KONNTE.



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minkymietze
minkymietze
23. April, 2024 10:31

Für eine Amateurgeschichte nicht schlecht… schade nur, daß sich der Autor nicht entscheiden kann, ob es um Japaner oder Chinesen geht (ich bin da empfindlich)

Marko
23. April, 2024 12:05

Ich will und vor allem darf diese Story nicht unkommentiert lassen – sie wurde 1986 veröffentlicht und ich hatte sie 1985 geschrieben, es dauerte immer ein paar Monate, bis der Verlag sich meldete. 1985 war ich 13. Ich habe absolut keinen Plan mehr, was ich da eigentlich erzählen wollte, im Grunde hab ich wohl nur Sachen zusammengebaut, von denen ich dachte, okay, das und das passiert jetzt und dann das und das. Ich war froh und stolz, dass meine Charaktere sich unterhalten konnten, dass ich wörtliche Rede richtig verwenden konnte, mit Anführungszeichen und so, und dass in der Geschichte überhaupt Dinge passierten. Ich komme aus einer Handwerker-Familie, in der kaum einer Bücher gelesen hatte, für mich war die Grundschulzeit daher eine wahre Offenbarung, weil ich mich durch die gesamte öffentliche Bücherhalle durchlesen konnte und überzeugt war, dass ich Schriftsteller werden wollte. Apropos Familie, entsprechend gering erlebte ich im übrigen auch die Wertschätzung der Veröffentlichung: Mein Vater fand natürlich die Bezahlung toll, aber gelesen hat er die Geschichte trotzdem nie.

Die Asiaten-Sache ist mir heute sehr unangenehm, auch da kann ich nur sagen, ich war halt jung und dumm und hab nicht drüber nachgedacht. Solche Stereotypen gehörten Mitte der 80er leider zur Medienlandschaft, und ich hab einfach nur nachgemacht, was ich aufgenommen hatte. Ich find’s heute völlig daneben und bitte es ausschließlich als das zu lesen, was es ist: Eine unüberlegte Geschichte aus der Feder eines pubertierenden Jungen der 80er Jahre, der irgendwas schreiben wollte, um zu zeigen, dass er schreiben kann. Vor allem seinen Eltern.

Last edited 4 Monate zuvor by Marko