16
Mai 2023

Der australische Ansatz: Smile!

Themen: Neues |

Ich glaube so wenig an die transformative Wirkung von Reisen wie die von Beziehungen oder der Lektüre guter Bücher. Der Mensch ist, wie er ist. Ein Klassentreffen vor ein paar Jahren hat mir das bestätigt. Ich war überrascht, wie wenig die Eigenschaften meiner ehemaligen Klassenkameraden sich mit 50 von denen mit 15 unterschieden. Die Persönlichkeit ist uns eingebacken und sie kann variieren, verstärken oder abschwächen, aber wirklich ändern kann sie sich nicht. Du bist der Gefangene deines Charakters – und du tust gut daran, mit ihm leben zu lernen.

Das heißt aber nicht, dass man eine Einstellung nicht justieren kann, auch wenn es mitunter die Kontrolle des eigenen Verhaltens voraussetzt. Ich gestehe, dass ich viele archaische, grobe und beschämende Instinkte besitze, die ich durch meine Ratio an die Kette legen muss. It’s a struggle. In einer direkten Konfrontation wird das sehr deutlich – weil es dann nicht mehr funktioniert. Es gehört zu meinen Defiziten, dass ich im Konfliktfall zu schnell ausklinke.

Aber die Reise nach Australien im Januar hat etwas verändert. Müsste ich Australien und seine Bewohner in einem Satz beschreiben, würde sich das ungefähr so anhören: “Die südliche Hälfte der USA, aber die Freundlichkeit der Bewohner ist nicht aufgesetzt.”

Tatsächlich ist der weiße Australier (ich kann nicht über die Ureinwohner urteilen) weitgehend extrem freundlich, chill, hilfsbereit und familiär. Das merkt man schon an der Sprache – alles wird verniedlicht (breakfast zu brekkie, barbecue zu barbie, biscuit zu bikkie), und die übliche Reaktion auf eine Bitte oder eine Frage lautet “no worries”, gerne gefolgt vom universalen “mate”. Es ist wie bei den Schweden: man ist zivilisiert, aber kein großer Player auf der Weltbühne, und kann daher ungestresster agieren als z.B. die USA, Großbritannien, oder eben Deutschland.

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Das äußert sich in kleinen, aber auffälligen Begegnungen: Als die LvA und ich durch Sydney streiften, waren wir auf der Suche nach der großen Einkaufsmeile in der Innenstadt. Ich sagte etwas wie “irgendwo muss hier die George Street sein”. Eine junge Australierin, die in diesem Moment an uns vorbeikam, blieb stehen, grinste uns an und zeigte ohne Worte energisch nach links. No worries. Der Besitzerin eines Stands für frische Muscheln haben wir versprechen müssen, ein Bild von uns beim nächsten Oktoberfest zu schicken.

Der Australier (pauschalisiert natürlich) hat Zeit, hat Geduld. Als wir in Melbourne auf den Einlass zum Open Air-Kino warteten, dauerte es eine Stunde – und es wurde geplaudert, mit den Kindern gespielt, Insektenschutz aufgetragen. Als das Tor aufging, stürzte niemand aggressiv in Richtung Leinwand, um sich den besten Platz zu sichern. Kommt schon jeder irgendwie auf seine Kosten, war der unausgesprochene Tenor.

Es ist eine banale Erkenntnis, aber: Freundlichkeit funktioniert nach dem “pay it forward“-Prinzip. Zuerst steht nicht die Erwartung, freundlich behandelt zu werden, sondern die Bereitschaft, vorauseilend freundlich zu sein. Obwohl ich immer höflich, aber auch unverbindlich bin, fiel es mir in Australien leicht, offener und herzlicher mit Menschen umzugehen. Da steckt man beim Friseur in Wauchope den Kopf zur Tür rein und ruft laut: “Any chance of fitting me in for quick haircut, mate?”. No worries.

Als wir nach Deutschland zurückkehrten, fiel mir schnell auf: das hat mir gut getan. Das möchte ich nicht verlieren. Aber es ist schwer, eben weil es hierzulande nicht auf natürlicher Gegenseitigkeit beruht. Die Menschen in Deutschland sind gestresster, skeptischer, zweckorientierter. Mich inbegriffen. Kann man da den “australischen Ansatz”, wie ich es getauft habe, in den Alltag retten?

Nach dreieinhalb Monaten kann ich ein erstes Fazit ziehen: man kann. Es braucht ein wenig Übung, ein wenig Überwindung, aber es schleift sich auch schnell ein, gerade weil die Ergebnisse so erfreulich wie augenblicklich sind.

Nur ein paar der Erlebnisse der letzten Wochen:

Ich bringe unsere Glasflaschen zum Container. Drumherum liegt viel Müll. Ein Kleinlaster des Entsorgers hält, zwei Mitarbeiter beginnen mit der Säuberung. Ich spreche sie an, dass es sehr schade ist, dass die Leute ihren Kram einfach hinschmeißen, wenn die Container voll sind – und dass ich es toll finde, dass es Menschen gibt, die sich darum kümmern. So eine Reaktion sind sie nicht gewohnt, wir unterhalten uns ein paar Minuten. Sie erzählen, dass es in jedem Kiez gleich ist, mit Ausnahme von Edel-Vierteln wie Grünwald oder Herzogpark. Da ist es schlimmer.

Gegen Gebühr stellt mir ein Sammler die ersten 11 Playboy-Ausgaben zum Scan zur Verfügung. Er kommt aus einem Kuhkaff in der Nähe von München. Da hatte ich mal eine gute Freundin, bei deren Familie ich in den 90ern sogar Weihnachten gefeiert habe. Ich entscheide mich für den Klassiker: “Kennen Sie dann auch die Familie XY?”. Er nickt – mit dem Sohn (also dem Bruder meiner Freundin) ist er in die gleiche Klasse gegangen. Wir plaudern über die mittlerweile verstorbenen Eltern, das verlassene Haus.

Wir checken ins Hotel in London ein. Die junge Dame an der Rezeption trägt ein Namensschild: “Oksana”. Ich erinnere mich: “You were so kind to ask via email if we had any wishes prior to arrival, right?”. Sie strahlt – normalerweise erinnert sich niemand an ihren Namen. “It’s an interesting name – Ukraine, if I might venture a guess”. Sie strahlt noch breiter und kümmert sich darum, dass unsere Koffer aufs Zimmer gebracht werden. Obendrein bietet sie uns noch frische Früchte oder eine Flasche kalten Sekt an.

Ich fahre zum Wertstoffhof. Neben mir parkt eine Frau mit einem silbernen Golf I. Kein Youngtimer-Kennzeichen. Ziemlich viel Rost, aber ich bin überrascht, wie modern der Wagen mittlerweile wieder aussieht mit seiner klaren Form und seiner reduzierten Ausstattung. Ich spreche sie lächelnd an: “So einen sieht man aber nicht mehr so oft”. Sie strahlt: “Ich habe noch einen, in schwarz und mit Youngtimer-Kennzeichen. Den hole ich aber nur am Wochenende aus der Garage. Ich würde mich nie trennen. 50 Umzüge habe ich mit ihm schon hinter mir!”

Mit dem Motorroller in Trudering unterwegs. An der Ampel ein BMW mit einem auffällig jungen Fahrer vermutlich persischen Ursprungs. Er gibt aggressiv Gas, fährt mit mindestens 70 km/h durch die Straße, die seit einiger Zeit auf 30 km/h herunter geregelt ist. An der nächsten Ampel stehe ich neben ihm. Mein Instinkt: ihm für die Raserei den Arsch aufreißen. Stattdessen klopfe ich an seine Scheibe. Er fährt sie runter, guckt mich trotzig an. Ich grinse: “Alder, da hinten ist 30 wegen Kindergarten und Schule. Hier stehen immer wieder Radarfallen, da biste ganz schnell deinen Lappen los”. Er stutzt, dann lächelt er, nickt, und zeigt mir den “Daumen hoch”.

Beim ALDI an der Kasse. Es ist ziemlich voll, ich habe es ein bisschen eilig, entscheide mich aber, dass mich das nicht stört. Weil ich nur eine Pizza und ein Eis in der Hand habe und der junge Mann vor mir nur eine Palette mit obskurer Südfrucht, fände ich es angemessen, wenn das Ehepaar mit dem vollgepackten Einkaufswagen uns vorlassen würde. Ich würde es tun. Aber das Ehepaar schert’s nicht. Der junge Mann mit der Palette bietet mir an, mich vorzulassen. Ich winke ab – die 10 Sekunden machen keinen Unterschied. Ich frage ihn, was er denn da einkauft. Passionsfrucht, erzählt er – hat er im Fernurlaub mit seiner Frau kennengelernt. Seitdem eine Leidenschaft. Zu seiner Überraschung seien die hier besser als vor Ort, weil man die besten Früchte wohl für den Export vorbehalte. Ich beschließe, das mal zu googeln. Dann sind wir beim Kassierer. Ich sage noch freundlich “schönen Abend” – er drückt mir lächelnd eine Passionsfrucht in die Hand: “probieren Sie mal”. Laut LvA sehr lecker.

Unser Malermeister kommt immer gern zu uns. Wir haben guten Kaffee und er ist froh, dass wir uns ins Sachen Farbe durchaus was trauen – das ist für ihn spannender als immer nur weißeln:

Er hat auch vor zwei Jahren meine Kommode umlackiert. Mittlerweile hat sie etwas gelitten, weil mein massiver Papierschneider draufsteht. Ein paar Kitschen und Risse sollten also übermalt werden. Ich bitte ihn, dafür mal kurz vorbeizukommen. Er kommt, wir stopfen ihn mit Kaffee, Käsekuchen und Anekdoten aus London voll. Er hat ein kleines Messgerät dabei, das den Farbton der Kommode exakt bestimmt. Er verspricht, ein Töpfchen Lack anrühren zu lassen. Heute bringt er es vorbei. Was das kostet? “Passt schon”. Ich gebe ihm ein Stück Käsekuchen mit.

Am Blumenstand. Hochzeitstag. Ich kaufe einen üppigen Strauß und möchte eigentlich nicht groß ratschen – mit der Verkäuferin bin ich mal übel aneinander gerasselt, weil man mich trotz Öffnungszeit für eine Kaffeepause hat stehen lassen. Aber als sie erzählt, dass in meinem schönen Strauß auch die von ihr geliebten Princess-Rosen stecken, werde ich doch weich: ich erzähle von der Krönung in London. Ruckzuck sind wir bei “der armen Diana” und tauschen aus, wie wir den Unfall 1997 erlebt haben.

Es bleibt nicht bei einzelnen Episoden. Ich merke, dass sich meine Laune generell bessert. Vielleicht ist die Welt nicht so schlecht und die Menschheit nicht so verdorben, wie ich immer unterstellt habe. Vielleicht ist Trudering ein präziseres Abbild unserer Realität als Facebook. Ich muss wohl mehr vor die Tür.

Ein weiterer positiver Nebeneffekt: Ich gehe auch mit Menschen, die mich aktiv nerven, anders um. Ich lerne das hohe Lied des Ignorierens zu singen. Wenn ich merke, wie es in mir zu kochen beginnt, dann winke ich innerlich ab: das ist es nicht wert. Arschlöcher sind meine Wut nicht wert. Oder meine Aufmerksamkeit. Bitte umfahren Sie die Baustelle weiträumig. Seit Australien fällt mir auch das leichter. Ich lasse mir meine Aura nicht mehr so leicht vergiften.

Dennoch: Ich muss mich überwinden. In Vorkasse freundlich und plauderig zu sein ist nicht meine Art. Ich reagiere da lieber, wenn ich merke, wie mein Gegenüber “eingestellt” ist. Damit fühle ich mich sicherer. Andererseits lässt sich der Erfolg der Strategie, Menschen präventiv gut gelaunt zu begegnen, nicht bestreiten.

Auf einem ganz anderen Blatt steht natürlich die Frage, wie lange ich das durchhalte… wollt ihr Wetten abschließen?



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Matts
Matts
16. Mai, 2023 16:43

Ein echt interessanter Artikel! Ich finde, es ist ein wirkliche Leistung, wenn man es schafft, sich menschlich ein bisschen zu verbessern (ich gehe einfach mal davon aus, dass du diese Entwicklung so siehst).
Bei mir selbst liegt da auch ein gewisses Problem mit der social anxiety – wie man auf neu-deutsch sagt – vor: Einfach wildfremde Leute anzusprechen würde mir im Leben nicht einfallen. Ich bin mir nicht sicher, ob eine Reise nach Australien da ausreicht. Nicht, dass ich nicht trotzdem gerne mal dahin wollte ; )

Ich wünsche dir jedenfalls, dass du es lange durchhalten kannst.

Dinozeros
Dinozeros
16. Mai, 2023 17:56

Fiel mir auch auf – du bist freundlicher. Nicht wirkst. Bist. Viel Spaß auf dem Weg.

comicfreak
comicfreak
16. Mai, 2023 20:07

Halte durch.
Ernsthaft.
Du kannst so authentisch charmant sein wenn du nicht darauf achten musst und das Gespräch interessant ist.
Wenn du das noch länger durchhältst wird das ganz natürlich <3

PabloD
PabloD
16. Mai, 2023 20:49

Es gehört zu meinen Defiziten, dass ich im Konfliktfall zu schnell ausklinke.”

Ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber der Torsten Dewi auf Facebook kommt tatsächlich weniger sympatisch rüber als der Wortvogel hier im Block. Hat natürlich alles seine (Diskussions-)Gründe und steht mir auch nicht zu, dies irgendwie zu bewerten. Aber man nimmt es als Außenstehender eben erstaunlicherweise (?) wirklich wahr.

Von daher: More Australia please, mate! 😄

PabloD
PabloD
17. Mai, 2023 09:11
Reply to  Torsten Dewi

Sag ich doch.
Auf FB würde da als Reaktion so etwas stehen wie: “Halt bloß ****** du ****** Ich werde ****** und alle deine *******”

Christian
16. Mai, 2023 23:46

Danke für den Bericht und die Anregung!

Uwe
Uwe
17. Mai, 2023 00:26

Ja, das funtkioniert tatsächlich. Ich handhabe es schon seit vielen Jahren so und die Menschen um mich herum sind freundlicher. Lächeln hilft. Freundlich sein auch – und es kostet keinen Cent!
Vielen Dank, dass Du es so gut beschreibst.

Chris
Chris
17. Mai, 2023 14:09

Ich reagiere da lieber, wenn ich merke, wie mein Gegenüber “eingestellt” ist.

Und ich glaube das ist das Geheimnis, dass die anderen Menschen auf deine positive Einstellung auch positiv reagieren. Freut mich, wenn es so gut klappt und ich drücke die Daumen, dass es noch lange anhält.

Mario
Mario
17. Mai, 2023 14:24

Interessant zu lesen, schöne Anekdoten. Danke dafür.
Spannend wird es immer an dem Punkt, wenn die eigene Freundlichkeit vom Gegenüber als Schwäche interpretiert wird. Gerade in Deutschlands Diskussions- und Dialogkultur geht es sehr oft ums Gewinnen und Verlieren. Und wenn du gewinnst, dann auch gerne mal 5:0. Wer hat den dicksten Strahl?
Klar: Freundlichkeit entwaffnet. Hat Oma schon gesagt. Bei der galt aber auch: Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.
Was wäre gewesen, wenn der Typ an der Ampel deinen freundlichen Hinweis auf die Radarfalle mit einem „F!*k dich selber, A**$loch!“ gekontert hätte? Ignorieren? Zurückpoltern? Reframen?
Oder wie dem klischeehaften Arbeitskollegen oder Mitarbeiter begegnen, der alle Unternehmensschlupflöcher mit Ellebogen Mentalität für sich nutzt und damit durchkommt? Nett drauf hinweisen? Klare Ansage? Das Unternehmen verlassen und sich ein besseres Umfeld suchen?
Der Proll in der Straßenbahn, der verzogene Schnösel im Restaurant, das politisch inkorrekte Pärchen im Freundeskreis …
Durch die Mechanik der sozialen Netzwerke werden wir aktuell zudem gerade konditioniert, belohnt werden die, die am lautesten sind. Da ist nur noch wenig Platz für Zwischentöne. Ein bisschen mehr Wertschätzung täte uns allen jedoch gut. Man muss gar nicht nach bis Australien fahren. Irgendwie haben unsere kleineren Nachbarländer (die Niederlande, Dänemark, Schweden) gefühlt eine viel gechilltere Lebensweise. Ich bin OK. Du bist OK. Das gehört zu deren inneren Werten, zur Kultur. Vielleicht auch, weil sie sich nicht jeden Tag mit dicken Eiern auf der Weltbühne präsentieren (müssen/ wollen). Der typische Deutsche ist da jedenfalls deutlich kompetitiver …