05
Feb 2023

Fantasy Filmfest White Nights 2023 München (1): LOCKDOWN TOWER

Themen: FF White Nights 2023, Film, TV & Presse, Neues |

Frankreich 2022. Regie: Guillaume Nicloux. Darsteller: Angèle Mac, Hatik, Ahmed Abdel-Laoui, Kylian Larmonie, Merveille Nsombi

Story: Eines Morgens ist nichts mehr so, wie es war: Die Bewohner eines vielgeschossigen Sozialbaus erwachen umschlossen von undurchdringlicher Finsternis, die sich vor Türen und Fenster gelegt hat. Jeder Versuch, die schwarze Leere zu durchdringen, endet tödlich. Gefangen in einem Gebäudekomplex, in dem Menschen verschiedenster Herkunft zusammenleben, müssen die Mieter sich organisieren, um ihre ausweglose Situation zu meistern – doch als die Lebensmittel zur Neige gehen, beginnen die ersten Konflikte. Und schon bald herrscht das erbarmungslose Recht des Stärkeren.

Kritik: Immer wieder schön, wenn der Veranstalter zum Start des FFF-Wochenendes “den härtesten Downer des Festivals” ankündigt – zu viel Entertainment ist ja auch nicht gesund und mein Jetlag könnte durch Endorphine versehentlich auskuriert werden.

LOCKDOWN TOWER gehört mit seiner depressiven Weltsicht, dem Mangel an klassischen Helden und der Ausweglosigkeit des Setups eigentlich tief in die Nacht, weil es Sinn macht, das Publikum aus der Dunkelheit in die Dunkelheit zu entlassen.

Nun ist aber “Downer” eine Eigenschaft, keine Wertung. Und tatsächlich gehört der Film zu den FFF-Beiträgen, die sich nicht einfach in Nihilismus suhlen wie MORITURIS oder 36 PASOS. Präzise analysiert er die “conditio humana” und durch eine simple Stellschraube (den Wegfall des “draußen”) erschafft er eine Extremsituation, die einen sofortigen Rückfall in eine rassistische Stammeskultur und schließlich in die Barbarei zur Folge hat. Das ist so schockierend wie plausibel. Es gehört zum Drama, dass die Beteiligten an keiner Stelle nennenswert versuchen, das Mysterium des “Schleiers” zu erforschen oder Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen – das Faustrecht gilt sofort.

Dass es sich bei dem Wohnblock nicht um ein Mittelklasse-Hochhaus, sondern um ein herunter gekommenes Sozialprojekt handelt, ist Weg und Ziel zugleich: die Menschen in den freudlosen Apartments sind gewohnt, den wenigen Besitz mit Gewalt zu verteidigen, in vorzivilisatorischen Mustern zu denken. Es muss kein Sprengstoff entstehen, weil sie Sprengstoff sind – es reicht ein Zündfunke.

Der soziale Dampfkessel steht außerdem für die sozialen Spannungen im Bodensatz der französischen Gesellschaft. In von der staatlichen Verantwortung verlassenen Sozialprojekten wie diesem Block gibt es schon lange kein “draußen” mehr, keine Hilfe von außen, keine Perspektive auf ein besseres Leben. Der Block ist keine Zwischenstation, kein Ausgangspunkt für einen Aufstieg. Er ist ein Klassenkäfig wie Manhattan in DIE KLAPPERSCHLANGE: einmal drin, kommst du nie wieder raus. You can check out any time you like, but you can never leave.

So ist auch der “Schleier” eher metaphorisch zu sehen: genau genommen gibt er der Ablehnung und der Verweigerung der “heilen” Zivilgesellschaft gegenüber den Bewohnern nur eine optische Konkretisierung. Es braucht ihn nicht, weil es ihn schon längst gibt. Jeder für sich und Gott gegen alle.

Das ist gnadenlos und brutal gefilmt, teilweise unangenehm anzusehen und immer authentisch, auch wenn man Details – wie bei einer Metapher üblich – nicht allzu konkret hinterfragen darf. Es ist ein Film ohne Helden, ohne konkreten Bösewicht, letztlich ohne Auflösung. Aber mit 89 Minuten ist er überzeugend straff erzählt und am Ende hat er uns vielleicht nichts Neues über den Menschen als des Menschen ärgster Feind erzählt, aber er hat es gut erzählt. Dennoch fand ich HIGH-RISE vor sieben Jahren zum gleichen Thema anregender und umfassender.

Ich fange ungern schon beim ersten Film mit der üblichen Leier an, aber: wäre so etwas wie LOCKDOWN TOWER nicht genau die Sorte Film, die auch der deutsche Kino-Nachwuchs in den Plattenbauten der Ex-DDR ohne großes Budget, aber mit viel Eiern produzieren könnte? Was läuft bei uns schief, dass dieses Festival wieder mal ohne einen einheimischen Beitrag auskommen muss?

Fazit: Brutale und unangenehme “survival of the fittest”-Metapher über den Klassenkampf in Krisenzeiten. Wahrlich kein Schocker von der Stange, aber wer auch zum FFF kommt, um sich herauszufordern, wird gut schlecht bedient. 8 von 10 Punkten.

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2 Kommentare
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Nummer Neun
7. Februar, 2023 21:18

“Hausen” von Sky ging in die Richtung unheimlicher DDR-Plattenbau. Allerdings war das inhaltlich zu wenig für eine 8-teilige Serie, ein guter Spielfilm hätte vermutlich besser funktioniert. (Ob der aber ähnlich gut wie Lockdown Tower gewesen wäre, sei mal dahingestellt)

https://de.wikipedia.org/wiki/Hausen_(Fernsehserie)

noyse
noyse
13. Februar, 2023 12:22
Reply to  Nummer Neun

HAUSEN fand ich schon ganz gut. Hat mich insgesamt an Lars von Triers RIGET erinnert. Auch was die dialoge anging.