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Feb 2023

Blinkist: Turbo für den Bücherdschungel oder sinnentleerte Abkürzung?

Themen: Film, TV & Presse |

Ich habe das erste Mal von Blinkist vor ein oder zwei Jahren gehört. Das Konzept klang für mich so nachvollziehbar wie bestechend: Statt elend viel Zeit an Sachbücher zu verschwenden, die sich nur selten als wirklich sättigend erweisen, lässt man sich die Auswahl einfach knapp zusammenfassen. Im Fall von Blinkist als Text oder als verkürzte “Hörbuch”-Fassung. Damit kann man sich für den Preis eines Monats-Abos durch eine ganze Bücherei fressen.

In diesem Beitrag soll es nicht um Sinn oder Unsinn dieses Ansatzes gehen. Laut Wikipedia richtet sich Blinkist an “eher karriereorientierte Berufstätige im Stil einer jüngeren Gründer- und Kreativszene“. Anders gesagt: Leute, mit denen ich keinen Kaffee trinken möchte. Aber jedem Tierchen sein Pläsierchen und als jemand, der täglich Dutzende von Quellen durchforstet, mag sowas ja ganz praktisch sein.

Abgehalten hatte mich bis dato der Preis – 12,99 Euro im Monat empfand ich als zu happig und mich gleich auf das günstigere Jahresabo von 79,99 Euro einzulassen kam auch nicht in Frage. Allerdings gab es kurz vor Weihnachten eine Rabattaktion: 20 Euro für ein Jahr Blinkist. DAS schien mir der richtige Preis, um die App mal ausführlich zu testen.

Zuerst einmal – was bekommt man für sein Geld? Die Webseite von Blinkist platzt nicht gerade vor Content aus allen Nähten:

Die Navigation “basic” zu nennen, ist noch eine freundliche Umschreibung. Über 5000 Sachbücher hat man im Angebot, davon angeblich 1500 auf Deutsch. Man kann nach Schlagworten auswählen, hat eine Suchmaske und ein paar kuratierte Listen. Das ist extrem wenig. Mir fehlt die Möglichkeit, wild und querbeet durch das Angebot zu schnüffeln, die Kategorien sind sehr vage und lückenhaft:

Trotzdem finde ich diverse Bücher, die mich nicht genug interessieren, um sie zu kaufen, aber genug, um mir (hoffentlich prägnante) Zusammenfassungen anzuhören. Ich lade also die App für mein iPhone runter und lege knapp 10 Titel in meinen virtuellen Leseschrank. Dazu gleich ein Tipp: Es macht Sinn, in den Einstellungen den automatischen Download und die automatische Löschung des Titels nach Beendigung zu aktivieren. Spart Zeit und Speicherplatz.

Bei Autofahrten und auf längeren Spaziergängen höre ich in den nächsten Tagen fast alle Zusammenfassungen durch, die statt in Kapitel in “blinks” unterteilt sind – was albern, weil deckungsgleich ist.

Um euer Verständnis zu verbessern, greife ich ein konkretes Beispiel heraus – dieses Buch gibt es bei Amazon für knapp 11, gedruckt für knapp 15 Euro:

317 Seiten im Original. Ich habe mir die Mühe gemacht, den Text aus der Blink-App zu extrahieren und auf ein Standard-Manuskriptformat zu setzen: Die Blinkist-Kurzversion umfasst dabei 18 Seiten. Als “Hörbuch” entspricht das einer knappen halben Stunde.

Ich merke schnell: kein gutes Beispiel. Sachbücher wie dieses leben davon, eine Atmosphäre zu erzeugen, den Leser in eine andere Zeit zu transportieren, ihn mit Fakten und Aussagen zu füttern, die sein Wissen zum Thema vertiefen. Das kann kaum funktionieren, wenn man den Text auf 6 Prozent kürzt – und es funktioniert auch nicht. Man nimmt eine generelle Vorstellung des Themas mit, ein paar Zahlen und Anekdoten, aber das war es dann auch schon.

Ähnlich die gerade viel diskutierte Biografie von Prince Harry, “Reserve”. Man bekommt einen groben Überblick über die wichtigsten Stationen seines Lebens, aber ein Gefühl für seine Weltsicht oder sein Innenleben stellt sich nicht ein.

Was außerdem verloren geht, ist die Stimme der Autoren, ihre Eigenheiten, ihr Charme. Kein “blink” kann den Humor von Bill Bryson emulieren.

Für Sachbücher gilt halt wie für Romane: Der Weg ist das Ziel. Eine Abkürzung zu nehmen, sollte nur eine Option für den Notfall sein.

Fairerweise muss man sagen, dass die Blinkist-Reduktion bei anderen, weniger faktenlastigen Büchern besser funktioniert – künstliche Intelligenz und Life Coaching lassen sich als Themen verlustfreier eindampfen.

Positiv ist zu vermerken, dass Blinkist sich durchaus Mühe gibt, die Bücher nicht stur und stupide zusammen zu kürzen: Angenehme Sprecherstimmen und präzise Einleitungen und Zusammenfassungen kennzeichnen praktisch alle “blinks”.

Vielleicht habe ich was falsch verstanden: vielleicht kann Blinkist nur das nicht, was es gar nicht soll – Bücher komplett zu leicht verdaulichen Häppchen schrumpfen. Vielleicht ist die oben genannten Zielgruppe nicht erpicht, den Inhalt eines Buches umfassend zu begreifen, sondern sucht nur nach Buzzwords, Trends und Material für Party-Gespräche und Geschäftsessen. Stichworte für den Status, die glauben machen, man hätte die Bücher tatsächlich gelesen.

Mir ist das allerdings deutlich zu mager.

So wäre mein Urteil zuerst einmal, dass Blinkist für das begrenzte Angebot an Sachbüchern und den regulären Preis zu wenig bietet – zumindest für mich. Your mileage may vary. Der Konsum von “blinks” ersetzt nur sehr halbgar das Lesen ganzer Bücher, mag bestenfalls für die Fahrt zur Arbeit oder das Eisenstemmen im Fitness-Studio eine Alternative sein. Muckis und Hirn trainieren, sozusagen.

Was Blinkist zumindest im deutschsprachigen Raum jede Lebensberechtigung nimmt, ist die unfassbare Menge an kostenfreien Alternativen. Ob es um Podcasts geht oder Hörbücher, Klassiker oder Neuware, Fact oder Fiction – man muss sich schon anstrengen, um NICHT von Optionen erschlagen zu werden. Das Angebot ist erheblich breiter als bei Blinkist und auch nicht so streng: statt der üblichen 15-30minütigen Episoden findet man im Netz Formate in allen Längen.

Dazu braucht es weder iTunes noch Amazon. Es reicht, sich fünf Minuten lang Material bei YouTube auszusuchen. Oder bei archive.org zu stöbern. Wer einen Spotify-Account hat, wird ebenfalls ordentlich bedient.

Vor allem aber – wir deutschen Konsumenten haben Zugriff auf ein kostenfreies, umfangreiches und exzellent kuratiertes Angebot in Form der ARD-Audiothek:

Hier gibt es alles, was man sich wünschen kann – und mehr. Comedy, Hörspiele, Dokumentationen, Klassiker, Politik, Wissenschaft. Alles von vorneherein für die gewünschte Länge produziert und damit nie mit dem Beigeschmack, radikal runter gekürzt zu sein. Tatsache ist: Ich fühle mich bei den Zeitzeichen in 15 Minuten besser und präziser zu einem Thema informiert als bei den “blinks”. Und die Zeitzeichen haben obendrein noch Zugriff auf Original-Tondokumente und Aussagen von Zeitzeugen und Experten. Sie sind eine umfassendere “experience”.

Das kratzt natürlich an einem oft lamentierten Problem: Die öffentlich-rechtlichen Sender nutzen “Zwangsgebühren”, um damit ein Angebot auf die Beine zu stellen, das es dem “freien Markt” zu schwer macht, sich auf Augenhöhe zu entwickeln. Gäbe es gebührenfinanzierte Angebote wie die Audiothek nicht, hätte Blinkist bessere Chancen – und bei mir vielleicht auch besser abgeschnitten.

Nun ist die Welt kein Ponyhof und in der momentanen Situation kann ich Blinkist nicht wirklich empfehlen. Hier wird etwas verkauft, was man anderswo geschenkt bekommt. Da sehe ich kein Geschäftsmodell.

Was auch kostenlos, aber nicht umsonst ist: eure Meinung zum Thema.



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the f.
the f.
25. Februar, 2023 16:56

Anektdötle:
Als der f. in den 60ern noch klein war, aber lesehungrig, fanden sich in der umfangreichen Elternbibliothek (ca. 12 Bücher) einige Ausgaben der Weltklassiker.
Damals herausgegeben von “Reader´s Digest” & brutalstmöglich heruntergekürzt: So kam z.b. “Moby Dick” auf höchstens zwei Kinderfingerbreiten – die Intention dahinter war wohl ähnlich.

Einsamer Schütze
Einsamer Schütze
25. Februar, 2023 18:58
Reply to  Torsten Dewi

Moby Dick ist natürlich auch ein extrem dankbares Beispiel für gekürzte Versionen, weil hier die eigentliche Handlung höchstens die Hälfte des Buches ausmacht. Der Rest sind kulturgeschichtliche Abschweifungen.

the f.
the f.
26. Februar, 2023 20:47

Es kommt ja nur sehr bedingt auf “Handlung” an – ich verweise mal z.b. auf “Warten auf Godot” oder “Endspiel”(S.Beckett) oder auch “Illuminatus” (Shea/Wilson)
Das könnte man dann auch auf “0” kürzen, womit viel verlorenginge.

Marko
25. Februar, 2023 23:00

Hm, das gabs doch schon mal? Ich hab ein paar PDFs, die vor einigen Jahren als “Shortbooks” (von shortbooks.de) vermarktet wurden. Das waren auf zwei, drei Seiten komprimierte Zusammenfassungen von Büchern. Fand ich als Idee nicht verkehrt, bin da thematisch nur nie mit zufrieden gewesen.

Martzell
27. Februar, 2023 15:00

Bei einem inhaltlich schmalen Sachbuch dass nur durch ständige Wiederholungen auf über hundert Seiten kommt vielleicht sinnvoll. „Die Wahrheit beginnt zu zweit“ soll inhaltlich wirr ausufernd und im Fachjargon gehalten sein der das Thema bzw. die Methode sehr unsympathisch erscheinen lässt. Auch bei folgenden Ratgebern war ich froh über eine Zusammenfassung:

– Gewaltfreie Kommunikation mit Kindern

– Gordon-Modell (Parent Effectiveness Training) Effektive Elternschaft „Familienkonferenz“

– Die Wahrheit beginnt zu zweit