27
Aug 2022

Streaming-Kritik: SCHICKERIA – ALS MÜNCHEN NOCH SEXY WAR

Themen: Film, TV & Presse |

Ich habe in meinen 16 Jahren auf diesem Blog schon mehrfach moniert, dass es zu wenig gut produzierte Dokumentationen über die deutsche Kulturgeschichte gibt. Als gäben der deutsche Pop, der deutsche Humor, der deutsche Sex nicht genügend Stoff her. Stattdessen: “Hitler’s Zahnpasta” und “Die 10 lustigsten Missernten in Schleswig-Holstein” in tausend Variationen.

Aber es wird besser. KULENKAMPFFS SCHUHE war vor ein paar Jahren ein exzellentes Beispiel, wie man die Geschichte einer ganzen Ära an vier prägenden, aber sehr unterschiedlichen und ambivalenten Persönlichkeiten festmachen kann. Kein Wunder, dass die Doku mit Lob und Preisen überhäuft wurde.

Die LvA und ich sind große Fans von Dokumentationen – und von München. Immer wieder schauen wir nicht nur im Retro-Bereich des BR vorbei, sondern auch auf YouTube, wo immer mal alte Clips der “Großstadt mit Herz” hochgeladen werden. Es macht uns einen Heidenspaß. das München der 50er, 60er und 70er mit dem München von heute zu vergleichen, das wir beide erst ab dem Beginn der 90er erlebt haben. Aber das ist meistens nur Ausschnitt, Flickwerk. Dabei haben ARD und ZDF wahrlich genug Archivmaterial und beweisen mit ihren Mediatheken jeden Tag, dass es an Themen nicht mangelt.

Ich hatte schon erwartet, dass die Streaming-Anbieter – wie bei Film und Serie – früher oder später die schändliche Untätigkeit der Öffentlichen-Rechtlichen ausgleichen würde. Weil sie sich das Geld der Zuschauer verdienen müssen, das der ÖRR geschenkt bekommt.

Tatsächlich sind es nun Constantin und Amazon, die alle diese disparaten Fäden (Doku, München, Zeitgeist) zusammen bringen und zu einer vierteiligen Retrospektive von ungefähr zwei Stunden Laufzeit knüpfen:

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Wobei der Titel etwas unscharf ist – “Schickeria” wird hier nicht als das definiert, was die meisten Zuschauer damit verbinden: die stinkreichen, hedonistischen, protzigen 80er. Stattdessen meint der Begriff im Sinne der Macher die kreative Szene und Nachtkultur Münchens, die in den 60ern ihren Anfang nahm und damit Hippies ebenso umschließt wie Disco-Komponisten und die Münchner Filmkultur. Die sprichwörtliche “Schickeria” war nur Ende und Abgesang dieser Ära.

Abgesehen von dieser Niggeligkeit: toll, toll, toll. Constantin hat unfassbar interessante und seltene Aufnahmen der bayerischen Hauptstadt aus drei Jahrzehnten ausgegraben und von zwei Prominenten kontextualisieren lassen, die wirklich mittendrin und nicht nur dabei waren: Iris Berben und Thomas Gottschalk. Daneben kommen Münchner Größen wie der Klatschkolumnist Michael Graeter und Star-Gastronom Michael Käfer ausgiebig zu Wort.

Herausgekommen ist ein Sittenbild der Reichen und Schönen in einer Zeit des Umbruchs, weg aus dem Nachrkiegsmief in die Moderne, mit nachvollziehbarer, aber nie aufdringlicher Melancholie und sichtlich vergoldeten Erinnerungen. Als jemand, der 1990 nach München gezogen ist, begegnete ich dem Untertitel “als München noch sexy war” skeptisch mit der Frage “echt jetzt – München soll mal sexy gewesen sein?”. Nach dem Ende von SCHICKERIA weiß ich: ja, München war 30 Jahre lang sexy – und ich bin neidisch, zu spät dran gewesen zu sein.

Generell kann man SCHICKERIA vorwerfen, nur aus der Sicht der Gewinner erzählt zu werden, nur die Sonnenseite der Stadt sehen zu wollen. Der ganze Sex, die ganzen Drogen, AIDS – sie werden angesprochen, aber seltsam folgenlos stehen gelassen, als wären das bestenfalls die Probleme der Verlierer gewesen, die nicht mithalten konnten. Ein wenig mehr Balance hätte die Doku ein wenig ehrlicher wirken lassen – aber waren Balance und Ehrlichkeit Merkmale der Schickeria?!

Es gibt auch durchaus legitime technische Kritikpunkte: klar kann man einschneidende Momente im Leben der Promis (Berbens Ankunft in München, Gottschalk erstmals im Radio) mit Schauspielern nachstellen. Aber das wird extrem inkonsequent eingestreut, summiert sich auf vielleicht ein oder zwei Minuten. Dadurch wird es wieder störend und unnötig.

Ich hätte mir auch gewünscht, dass man einige verwendete Spielfilm-Szenen aus der Zeit etwas klarer als Fiktion gekennzeichnet und mit Titeln versehen hätte.

Dass Gottschalk sich in den Nahaufnahmen von einem deutlich sichtbareren “beauty filter” glätten lässt als Iris Berben und extrem offensichtlich von einem Teleprompter oder Textkarten abliest? Ist fast schon wieder witzig.

Natürlich ist SCHICKERIA primär eine Schachtel voller Pralinen für Münchner oder Menschen, die München lieben. Herzensberliner oder “kölsche Jungs” werden sich mit Grausen wenden, denn SCHICKERIA feiert genau das, was viel Menschen an der Isar-Metropole so hassen: die Mischung aus Provinz und Prominenz, aus krachledern und kreativ. Das ist auch gut so.

Wie gesagt: Das sind bestenfalls Auffälligkeiten, keine Defizite. Sie mindern nicht den Unterhaltungswert von SCHICKERIA. In einer perfekten Welt wird das hier nur der Beginn einer “neuen Welle” von modernen, straffen und unterhaltsamen Kulturdokumentationen sein.



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Marcus
Marcus
27. August, 2022 12:43

Apropos “Niggeligkeiten”: “Weil sie sich das Geld der Zuschauer verdienen müssen, das die ÖRR geschenkt bekommt.” Ich möchte gerne ein “die” gegen ein “der” eintauschen. :p

Thomas Bunzenthal
Thomas Bunzenthal
27. August, 2022 15:50

Bei “Gottschalk” bin ich raus.
Ich war übrigens noch nie in München.

Maximilian Frömter
Maximilian Frömter
29. August, 2022 10:35

Danke für den coolen Tip, sehr interessant. Ich bin erst 1992 als Student nach München gezogen und kenne dieses “Schickeria München” hauptsächlich durch Serien wie “Monaco Franze” und “Kir Royal”. Das ist für mich ein schöner Nostalgieflash aus einer hoffnungsvolleren Zeit. Doch obwohl ich in der Nähe Münchens aufgewachsen bin, habe ich mich dort nie so richtig heimisch gefühlt, wie später in Wien. Mir wurde in München immer unterschwellig das Gefühl vermittelt, viel zu arm zu sein, um richtig “dazuzugehören”, auch als ich später dort Vollzeit gearbeitet habe – vielleicht eine unterbewusste Spätfolge dieses “Schickeria-Nimbus”. Ich mag die Stadt zwar, aber verspüre doch eine gewisse Distanziertheit.