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Mai 2022

Kino-Kritik: DOCTOR STRANGE IN THE MULTIVERSE OF MADNESS (spoilerfrei)

Themen: Film, TV & Presse, Neues |

USA 2020. Regie: Sam Raimi. Darsteller: Benedict Cumberbatch, Elizabeth Olsen, Chiwetel Ejiofor, Benedict Wong, Xochitl Gomez, Rachel McAdams u.a.

Offizielle Synopsis: Der mächtige Magier Dr. Strange öffnet die Portale zu verschiedenen Universen, die die Gegenwart aus dem Gleichgewicht bringen. Der entstandene Schaden weitet sich mit jeder verstreichenden Minute mehr aus und stürzt die Welt in ein unheilvolles Chaos. Zusammen mit seinen Freunden Wong und der Hexe Wanda Maximoff muss er versuchen, die geöffneten Portale so schnell wie möglich zu schließen. Doch die Gottheit Shuma-Gorath hat sich bereits ein Schlupfloch gesucht und dringt in die Gegenwart ein. Zudem muss Strange in den alternativen Realitäten nach einem Ausweg suchen, seine eigenen Dämonen in Zaum zu halten. Es scheint unmöglich, die verwobenen Universen wieder zu trennen. Dr. Strange hat keine andere Chance, als sich dem Unbekannten zu stellen und die Welt vor der bösen Magie Shuma-Goraths zu beschützen…

Kritik: Ich lebe wirklich den Traum und heute ist er wie ein Flashback: Ich fahre zur Mittagszeit ins Kino, bekomme Coke Zero auf Kosten des Verleihers, sitze wie vor 20 Jahren mit Flocki Breitsameter im Saal. Keine Werbung, keine Nerverei. Hinterher “Sommer in der Stadt” am Stachus. Ich entscheide mich, nicht heimzufahren – die Kritik kann auch beim Starbucks schreiben, rechts einen Cappuccino und links einen Strawberry Cheesecake. Die Sperrfrist ist schließlich gerade rum. Der Hipster-Wortvogel macht sich an die Arbeit…

Und damit kommen wir zu DOCTOR STRANGE IN THE MULTIVERSE OF MADNESS, den ich fürderhin DS2 nennen werden, um mir nicht die Finger zu brechen. Die Inhaltsangabe da oben? Gleich in die Tonne treten. Wie üblich macht Marvel sich den Spaß, seine Fans kackfrech zu belügen – wie auch der Trailer sind das alles Täuschungen, die dafür sorgen sollen, dass die “true believers” keinen Feldvorteil haben und genau wie Gelegenheitszuschauer zum Nachspann ihren Kinnladen vom Boden heben können.

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Ich bin beeindruckt, wie gut das funktioniert. Bei Filmen, die mehrere tausende Beteiligte vor und hinter der Kamera auffahren, derart stur bis zum Kinostart den Deckel draufhalten, das ist für sich genommen schon eine Großleistung.

Der Fairness halber werde ich hier auch nur eine “gesäuberte” Inhaltsangabe anreißen: Doctor Strange versucht verzweifelt, das Multiversums-Chaos wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Sein Abenteuer katapultiert ihn dabei ruckartig durch immer neue Versionen und Varianten des MCU. Dabei stehen ihm neue Helfer, aber auch alte Feinde gegenüber. Vor allem aber hat Strange mit sich selbst zu kämpfen – im sprichwörtlichen wie im wortwörtlichen Sinne…

Nachdem Marvel das Multiversum bisher als Vehikel genutzt hat, um den Einbruch fremder Welten in das uns bekannte MCU zu illustrieren, geht es bei DS2 mit voller Wucht in das Multiversum hinein. Ein Dutzend, vielleicht einhundert Parallel-Universen flitzen an uns vorbei, manche tragisch, manche paradiesisch, manche nur im Augenwinkel. Gastauftritte, Anspielungen, Insider-Gags, visuelle und akustische Referenzen füllen eine eh schon pralle Geschichte. Ein Film, den die Nerds mit dem Finger auf der Pause-Taste der Fernbedienung tagelang (erfolgreich) sezieren werden. Es gilt wie immer beim MCU: Gelegenheitszuschauer werden ihren Spaß haben, Fans werden sich vor Begeisterung bepieseln. Keine Übertreibung: eine Garantie.

Dreh- und Angelpunkt ist diesmal wieder Doctor Strange, der ja genau genommen an der ganzen Misere Multiversum Schuld ist. Wie üblich macht er alles schlimmer beim Versuch, die Risse zwischen den Welten zu kitten – und das ist kein Zufall, denn Strange ist Strange ist Strange ist Strange. Seine ungesunde Mischung aus Arroganz und Größenwahn gehört zu den wenigen Konstanten im MCU.

Dabei kann man sich nur wundern, wie perfekt Cumberbatch in die Rolle reingewachsen ist – wenn man mal von dem sehr offensichtlichen und mitunter störenden Haarteil absieht, das ihm auf den Kopf geklebt wurde. Er sieht damit der Comic-Vorlage zwar noch mal deutlich ähnlicher, aber meine “suspension of disbelief” hat ein wenig gelitten. Ehrlich – wir können Welten und Monster und Schlachten erschaffen, aber beim Toupet haperts? Tsk, tsk, tsk…

Obwohl Cumberbatch und der “big bad” sehr starke zentrale Performances liefern, sind auch die Nebenrollen mal wieder auf den Punkt besetzt, von den alten Favorites bis zu den Neuzugängen. Allen Darstellern gelingt es, inmitten des Chaos und “on the go” immer noch mal eine starke Dialogzeile oder einen bedeutungsschwangeren Blick von der Leinwand zu werfen, der die Zuschauer emotionaler packt, als bei solchen Kintopp-Achterbahnfahrten möglich sein sollte.

Und eine Kintopp-Achterbahnfahrt ist DS2 auf jeden Fall. Man muss Aussagen wie die, dass Marvel dem Regisseur Sam Raimi freie Hand gelassen hat, immer mit der gebührenden Vorsicht nehmen, aber das hier ist genau so offensichtlich ein Raimi-Film, wie es ein Marvel-Film ist. Die Handschrift des Regisseurs ist blind zu erkennen, nicht nur in der atemlosen Dynamik der Action, sondern auch in den unzähligen inszenatorischen Gimmicks, die weit in Raimis Frühwerk zurück weisen.

Beim Screening von DS2 habe ich mich immer wieder NICHT gefragt: “Wie haben die das gemacht?”. Wir wissen alle, wie so etwas gemacht wird. Aber ich habe mich gefragt: “Wie haben die das geplant?”. Die Menge an Welten, Figuren, Referenzen und Twists muss als organisatorisches Meisterstück gewertet werden, bei dem vermutlich mehr Excel-Tabellen als Emails verschickt wurden. Und Raimi entpuppt sich als der richtige Regisseur, dabei die Zügel in der Hand zu halten und das Monster zu zähmen.

Es gelingt hier auch erstmals im Superhelden-Kontext der letzten Jahre der Spagat, den “misguided villain” (siehe WONDER WOMAN 1984, THE FALCON AND THE WINTER SOLDIER) nicht nur glaubwürdig fehlgeleitet, sondern auch glaubwürdig böse und allmächtig zu zeichnen. Wir können zu jeder Zeit glauben, dass eine Umkehr möglich ist, egal wie hoch der schon bezahlte Preis ist.

Ähnlich wie CAPTAIN AMERICA: WINTER SOLDIER (oder besser noch: THE EMPIRE STRIKES BACK) ist DS2 ein Verbindungsstück, Teil einer größeren Saga, die vorher schon begann und irgendwann in der Zukunft enden wird. Das Multiversum hat sich schnell als der bessere Infinity War herausgestellt, denn er gibt Marvel die Gelegenheit, beliebige neue Varianten seiner Helden aus dem Hut zu ziehen, alte Scharten auszuwetzen und neue Charaktere einzuführen. Vor allem aber ist DS2 Teil der Mission, ALLE Marvel-Figuren endgültig in ein “unified universe” zu überführen. Das sorgt zwar für spontanen Jubel im Saal, ist aber auch etwas gröber gehandhabt als in SPIDER-MAN: NO WAY HOME. Es werden Helden in das Narrativ gedengelt, die keine andere Funktion haben, als ein Schild um den Hals zu tragen: “Property of Marvel Studios”.

Aber es ist alles so egal. Es ist egal, ob man findet, dass die In-Jokes mittlerweile zu viel Platz eingeräumt bekommen. Es ist egal, ob man Dr. Strange für deutlich weniger “relatable” hält als Peter Parker. Es ist egal, ob manche der großen Szenarien gar nicht mehr den Versuch machen, anders als ein PS5-Spiel auszusehen.

Es ist egal, weil der Film so unfassbar viel Spaß macht. Weil er alle zehn Minuten Twists raushaut, die den Flow rumreißen wie die Kurve den Wagen in der Geisterbahn. Weil er ein weiteres Highlight der vielleicht monumentalsten Franchise ist, die das Kino je hervorgebracht hat. Weil Filme wie DOCTOR STRANGE IN THE MULTIVERSE OF MADNESS zu den letzten Rechtfertigungen gehören, 10 Euro für eine Kinokarte zu bezahlen, statt daheim Netflix anzuwerfen.

Schenkt mir einer einen Thesaurus? Mir gehen die Superlative aus…

Fazit: Ein absoluter Comic-Overkill, der den klassischen Dr. Strange-Hokuspokus perfekt mit dem manischen Moviemaking von Sam Raimi verbindet und inmitten des Bildersturms Zeit findet, Protagonist und Antagonist glaubwürdig zu verankern. Mehr Entertainment, als wir verdienen.

Noch mal: Dieser Trailer ist eine Lüge.

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P.S.: Zwei Nachspannsequenzen. Nummer 1 ist wichtig (und überraschend), Nummer 2 ist lustig, aber letztlich wurscht.

P.P.S.: Vorher lief noch der neue AVATAR-Trailer. Habe ich verpasst. Nach Aussage von Flocki Breitsameter habe ich damit nichts verpasst. Ich glaube ihm.



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19 Kommentare
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Heino
Heino
3. Mai, 2022 19:30

Cool. Ick freu mir:-)

Jake
Jake
4. Mai, 2022 09:17

Gastauftritte, Anspielungen, Insider-Gags, visuelle und akustische Referenzen füllen eine eh schon pralle Geschichte. Ein Film, den die Nerds mit dem Finger auf der Pause-Taste der Fernbedienung tagelang (erfolgreich) sezieren werden. Es gilt wie immer beim MCU: Gelegenheitszuschauer werden ihren Spaß haben, Fans werden sich vor Begeisterung bepieseln. Keine Übertreibung: eine Garantie.

Bietet es sich an, im Vorfeld WANDAVISION und/oder WHAT IF…? zu gucken, wenn man zumindest den ein oder anderen “Insider” raffen möchte?

Rudi Ratlos
Rudi Ratlos
6. Mai, 2022 14:01
Reply to  Torsten Dewi

Ist der letzte Spider-Man Pflicht oder optional?

Oibert
Oibert
8. Mai, 2022 22:37
Reply to  Torsten Dewi

Von What If wird auch schon ziemlich viel aufgegriffen – trägt für mich zum Gesamterlebnis bei aber würde auch ohne gehen.

Matts
Matts
11. Mai, 2022 21:28
Reply to  Torsten Dewi

Da ich im Moment einfach nicht ins Kino komme, werd ich´s dann wohl in der Reihenfolge machen. Endlich Disney+ anschaffen, dann WANDAVISION schauen, und dann DOCTOR STRANGE 2

Vineyard
Vineyard
4. Mai, 2022 18:46

Gesehen.

Yep, der Trailer hat sowas von gelogen.

Zorc
Zorc
5. Mai, 2022 14:01
Reply to  Vineyard

Ein ‘lügender’ Trailer ist doch um Multiversen besser als einer der quasi als Kurzfilm durchgehen könnte (“Ambulance” anyone?).

S-Man
S-Man
8. Mai, 2022 18:40

Wichtige Frage: Wann kommt hier die Spoiler Area? 😀 Ich muss da mal was fragen…

Oibert
Oibert
8. Mai, 2022 22:35

Komme gerade aus dem Kino und kann voll und ganz zustimmen. Mich hat als Hardcore Marvelnerd eigentlich nur eine Sache gestört – aber dazu dann mehr in der Spoilervariante

S-Man
S-Man
9. Mai, 2022 12:28
Reply to  Torsten Dewi

Wunsch! 🙂

Thomas G. Liesner
Thomas G. Liesner
9. Mai, 2022 01:30

Hat mir auch wunderbar gefallen, wobei es mich weder gestört hat, dass man sich auf relativ wenige Alternativwelten konzentriert hat, noch dass die Cameos eher weniger waren als erwartet (und sich eigentlich weitgehend auf eine bestimmte Versammlung beschränkt haben).

Deine alternative Inhaltsangabe ist aber auch eher irreführend: “Dreh- und Angelpunkt ist diesmal wieder Doctor Strange, der ja genau genommen an der ganzen Misere Multiversum Schuld ist.” – meiner Lesart nach ist er eher reaktiv, das Ziel ist schon vorher ins Visier genommen worden und es geht ihm weniger um die Multiversenreparatur als um Hilfe für einige ganz bestimmte Personen.

Dass einige Alternativvarianten – etwas freundlich formuliert – nicht ganz so glücklich operiert haben, hat mit der eigentlichen Handlung ja wenig zu tun…

Thomas G. Liesner
Thomas G. Liesner
9. Mai, 2022 10:45
Reply to  Torsten Dewi

Das war meine Erwartung – dass die “Madness of the Universe” eine Konsequenz von “No Way Home” sein würde, aber bis auf eine kurze Erwähnung, dass Strange wegen Spider-Man mit dem Multiversum schon in Berührung gekommen ist, ist die Handlung bei Madness davon komplett unabhängig, stattdessen treibt der lebende McGuffin die Kernhandlung direkt und indirekt an…

Jake
Jake
18. Mai, 2022 11:26

Hat Spaß gemacht! Raimis Handschrift ist unübersehbar, der leichte Horror-Einschlag hat mir sehr zugesagt. Leider hatte ich keinen Antrieb, mir vorher noch WANDAVISION einzuverleiben, weshalb da schon einiges an Kontext fehlte. Meine Begleitung war aber besser informiert und konnte mir so den ein oder anderen Hinweis ins Ohr raunen.

Ich habe dich oben eh schon zitiert und zitiere dich nochmal:

Gastauftritte, Anspielungen, Insider-Gags, visuelle und akustische Referenzen füllen eine eh schon pralle Geschichte. Ein Film, den die Nerds mit dem Finger auf der Pause-Taste der Fernbedienung tagelang (erfolgreich) sezieren werden. Es gilt wie immer beim MCU: Gelegenheitszuschauer werden ihren Spaß haben, Fans werden sich vor Begeisterung bepieseln. Keine Übertreibung: eine Garantie.

Das kann man wirklich unterschreiben. Mein Gefühl mag mich trügen, aber ich hatte den Eindruck, dass bei keinem anderen Marvel-Streifen so viel Vorwissen gefragt ist wie bei DS2 (sofern man alle Referenzen/Anspielungen verstehen will). Den letzten Spiderman fand ich in dieser Hinsicht deutlich “zugänglicher”.

heino
heino
27. Mai, 2022 19:53

Guter Streifen, aber “No was home” hat mich emotional mehr gepackt. Da griff der Nostalgiebonus noch zusätzlich. Dass Raimi hier am Steuer sass, konnte man schon am ersten Kampf in New York sehen, der sehr an den Spidey/Ock-Fight aus SM2 erinnerte. Und das Haarteil sah schon sehr seltsam aus