Streaming Kritik: RED NOTICE
Themen: Film, TV & Presse |USA 2021. Regie: Rawson Marshall Thurber. Darsteller: Dwayne Johnson, Ryan Reynolds, Gal Gadot, Ritu Arya, Chris Diamantopoulos, Daniel Bernhardt u.a.
Story: Nolan Booth ist ein Profi-Einbrecher auf der Suche nach den drei Juwelen-Eiern der Cleopatra. Dabei gerät er immer wieder mit dem FBI-Agenten John Hartley aneinander. Doch beide müssen sich zusammen raufen, denn es gilt einen noch raffinierteren Gegner zu überlisten: die schöne Meisterdiebin "Bishop". Die Hetzjagd führt um die ganze Welt – mit wechselnden Allianzen…
Kritik: Netflix hat den Markt für anspruchsvolle internationale Serien so ziemlich im Alleingang auf den Kopf gestellt – und seit ein paar Jahren möchte man auch Hollywood etwas Feuer unterm Hintern machen. Die Corona-geschädigte Traumfabrik kann aktuell kaum mithalten und so ist es kein Wunder, dass selbst Blockbuster-Garanten wie Michael Bay, Ryan Reynolds und Dwayne Johnson sich für Streaming-Ware wie SIX UNDERGROUND, ARMY OF THE DEAD und jetzt eben RED NOTICE hergeben. Whatever pays the bills…
Netflix stellt dabei nicht nur Budgets zur Verfügung, die durchaus dem gängigen Standard entsprechen, sondern lässt sich auch beim Marketing nicht lumpen – selbst hier in Haar ist eine Baustelle doppelseitig behängt worden:
Der Erfolg lässt sich kaum bestreiten, auch wenn er für Außenstehende schwer überprüfbar ist: RED NOTICE ist angeblich der erfolgreichste Filmstart aller Zeiten auf Netflix. Was das in Dollars und Cents bedeutet? Weiß kein Mensch.
Ich kann also durchaus annehmen, dass viele von euch den Film auch schon gesehen haben. Und wer ihn nicht gesehen hat, hat vermutlich wenigstens ein paar Kritiken gelesen, die einen erstaunlich einhelligen Tenor haben: Solide Buddy Action, die von ihren gut aufgelegten Stars lebt, aber letztlich aus leeren Kalorien besteht, die kaum nachwirken. Genau die Sorte Film, für die besonders Dwayne Johnson bekannt ist (RAMPAGE, SKYSCRAPER, SAN ANDREAS).
Ich kann dem wenig hinzufügen – einfach weil es stimmt. RED NOTICE ist so albern wie unterhaltsam, im Hirn so tot wie in der Action lebendig. Prima für genau die zwei Stunden, die er dauert. Da ist nichts neu, aber es ist dennoch halbwegs frisch – wie die Pizza Salami vom Lieferdienst.
Und genau deshalb verkneife ich mir weitere Analysen und erwähne nur noch ein paar Sachen, die mir aufgefallen sind.
RED NOTICE ist ein unfassbar konstruierter Film, in dem die Story immer genau das bereit stellt, was die Protagonisten brauchen. Dafür, dass es hier um Superdiebe geht, sind die Raubzüge albern geprägt von bequemen Gadgets, Geheimgängen und Zufällen. Das erinnert weniger an NATIONAL TREASURE oder INDIANA JONES, sondern eher an die ARMOR OF THE GODS-Filme von Jackie Chan (was beabsichtigt gewesen sein mag):
Dazu passt, dass der Film unfassbar episodisch aufgebaut ist und ca. alle 10 Minuten zu einer neuen Location mit einem neuen Look und einer neuen Herausforderung springt. Statt des Globetrottings von James Bond fühlen wir uns wie in Leveln von Videospielen. Ständig neue Establishing Shots mit fett eingeblendeten Ortsnamen in Werbespot-Optik versuchen dabei zu übertünchen, dass die Figuren diese Sprünge nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich gar nicht schaffen könnten. Atemlos durch die Nacht…
Ich habe RED NOTICE in der englischen Originalfassung angeschaut. Abgesehen davon, dass ich O-Ton immer bevorzuge, hat das was mit meiner Skepsis zu tun. Internationale Produktionen werden immer schneller in die regionalen Märkte gepumpt, darunter leidet die Synchro zwangsweise. Es wird auch immer weniger investiert, um die Filme halbwegs ordentlich einzudeutschen. Bei RED NOTICE sieht man das schon am Plakat: Im Original ist "pros and cons" ein schönes Wortspiel, die einfalls- und eierlose Übernahme als "Profis und Betrüger" (alternativ "Professionell und Betrügerisch") geht für mich indes gar nicht. Ich nenne so etwas immer Langenscheidt-Übersetzung. Da fehlt jedes Sprachgefühl – und vermutlich ist das von Netflix so vorgegeben (wie bei den Bond-Titeln, die auch keinerlei regionale Eigenständigkeit haben dürfen).
Wo wir gerade bei eierlos sind: RED NOTICE treibt das Prinzip "Gewalt ja, Konsequenzen nein" auf die Spitze. Der Bodycount müsste locker dreistellig sein, wenn man bedenkt, wie sich die Beteiligten mit Maschinengewehren, Raketenwerfern und Granaten bekriegen. Aber es wird niemand ernsthaft verletzt – selbst Schergen, die mit 200 Sachen gegen eine Felswand knallen, stöhnen noch vernehmlich nach der Maßgabe "ist nur ein Kratzer". Ich bin nicht sicher, ob die Verharmlosung von physischer Gewalt dem Schutz der Jugend dienlicher ist als die Darstellung ihrer tatsächlichen Folgen.
Überhaupt nimmt sich der Film so wenig ernst, dass er immer wieder gefährlich in die Selbstparodie abzurutschen droht, wenn Booth z.B. auf der Suche nach dem dritten Ei vorschlägt "schau nach einer Kiste mit der Aufschrift 'McGuffin'". Figuren, denen alles in den Schoß gelegt wird und die derart wenig in echte Gefahr geraten, sind halt wie Superhelden: praktisch unantastbar und damit als Menschen kaum noch wahrnehmbar. Im Vergleich zu RED NOTICE waren die MUMMY-Filme mit Brendan Fraser düsteres Drama. Ich frage mich, ob der dauernde Sarkasmus und die penetrante Ironie sich nicht langsam überlebt haben.
Und schließlich: Bis fast zum Ende gelingt es RED NOTICE, die sehr offensichtlichen Greenscreen-Locations durch schiere manische Energie und dynamische Kameraführung zu verkaufen. Die Fake-Figuren passen zum Fake-Plot und damit zu den Fake-Orten. Es ist ja auch eine Folge von Corona, dass primär im Studio gedreht werden muss. Aber ausgerechnet im dritten Akt ist dann die Luft raus, wenn der Tropendschungel nach SESAMSTRASSE aussieht und die Lichtsetzung so daneben geht, dass man es nicht mal mehr lachhaft finden kann. Das muss besser gehen. Wir schreiben schließlich das Jahr 2021.
Egal, zwei Stunden lang Spaß gehabt, sogar die Gattin, und da Netflix offensichtlich auf eine neue Franchise hofft, kann ich nur sagen: her damit. Andererseits: wenn das der neue Standard für generische Sommer-Blockbuster ist, dann können das zukünftig auch AI-Programme schreiben. Ryan Reynolds bringt seine Sprüche ja sowieso ad hoc ein.
Artifiziell. Schreien manche Filme bereits nur anhand der Beschreibung. Einfache plausible Geschichten erzählen wünsche ich mir auch für Abenteuerfilme. Den Zuschauer nicht für blöd halten.
"Über den Dächern von Nixda" trifft "Dumb Raider". Film gewordene Karlsbergkrone – schnell schal, rasch verklappt. Aber meine Netflix-Aktien stehen gut. Also: was soll’s.
"Der Erfolg lässt sich kaum bestreiten, auch wenn er für Außenstehende schwer überprüfbar ist:"
Die "Überprüfung" findet hauptsächlich über Anbieter wie Samba TV statt, d.h. Smart TV Apps, die Inhalte tracken. Lt. deren Angaben (keine Ahnung ob das hochgerechnete Zahlen sind oder basiert auf deren Benutzern) sahen etwa 4.2 Mio US Haushalte Red Notice, Shang Chi (das auf D+ gratis verfügbar wurde) 1.7 Mio Haushalte. Zum Vergleich: Dune auf HBO Max hatte 1.9 Mio Haushalte.
In Zukunft werden Streamingservices ihre Zahlen vermutlich zumndest teilweise offenlegen müssen. Entweder für Werbekunden oder hinsichtlich royalties.
"Was das in Dollars und Cents bedeutet? Weiß kein Mensch."
Alles was auf Streaming Services läuft, dient mMn – in unterschiedlichem Maß – zwei Zielen: neue Kunden anwerben und alte Kunden halten. Anhand der Zahlen, wieviele Benutzer gewisse Inhalte schauen, und wann viele Neukunden zu verzeichnen sind, wird man zumindest eine ungefähre Ahnung davon bekommen, was sich finanziell lohnt.
Das weiß ich natürlich alles – aber das gibt immer noch keine belastbaren Zahlen. Und nein, die Anzahl an Neukunden sagt nichts darüber aus, ob es sich "lohnt". Diese Diskussion hatte ich mit der Chefin von HBO vor 20 Jahren schon. Abo-Modelle haben keine festen Größen und viele der Produktionen sind nicht für den Profit, sondern das Renommee gedacht, mit dem längerfristig der Markt erschlossen werden soll.
Vielleicht ist es ja naive Technikgläubigkeit, aber im Zeitalter von Big Data (und Netflix hat tonnenweise Daten über das Verhalten ihrer Benutzer) und genug Geld, um die besten Data Scientists dieses Planeten zu beschäftigen, sollte Netflix zumindest eine ungefähre Ahnung (natürlich keine genaue) haben, zumindest mal Größenordnungen halbwegs einordnen können, wie sich Inhalte finanziell niederschlagen.
Gefühlt – ein Film, der wie Red Notice angeblich 200 Mio kostet (wobei da offensichtlich ein guter Teil in die Gagen der drei Stars investiert wurde), müßte – um profitbael zu sein – von sich aus 20-30 Mio Abomonate zusätzlich generieren. Bei der Marktsättigung und den schon hohen Nutzerzahlen von Netflix bezweifle ich das aber stark.
Das ist alles Kaffeesatzleserei. Wie gesagt: in meiner beruflichen Karriere bin ich oft genug mit dem Pay-TV-Geschäftsmodell konfrontiert worden. Das funktioniert nicht nach "Ausgaben vs. Neu-Abos". Filme wie RED NOTICE dienen eher dazu, das Prestige des Senders zu erhöhen, mediale Aufmerksamkeit zu generieren und damit langfristig die Position des Anbieters zu verbessern. Niemand sagt am Jahresende "was haben wir denn mit RED NOTICE verdient?".
Oh, Netflix wird davon in der Tat viel Ahnung haben. Die haben Data-Scientist-Schwadrone daran sitzen, die Reports zu so ziemlich allem ziehen können: wieviele Kunden hat das neu angelockt, wieviele gehalten, sind das Kunden, die bleiben oder direkt wieder kündigen, was sind die Wert, was hat das an Prestige gebracht und was brachte das Prestige usw.
Das heißt bloß nicht a) dass wir das auch wissen und b) dass sich das auf ein simples "200 Mio ausgegeben, 300 Mio eingenommen" runterbrechen lässt.
Es ging ja auch kürzlich die Meldung rum, Squid Game habe Netflix 900 Mio. Dollar eingespielt. Das war aber erstens im deutschen Raum meist falsch übersetzt, da Netflix original von "generated impact Value" spricht. Und zweitens ist dieser Impact Value wiederum eine Netflix-interne Metrik, die alles mögliche bedeuten kann, aber eben kein simples Einspielergebnis.
"Data-Scientist-Schwadrone" – die Zahlen interpretieren. Hellsehen kann die Software eben nicht. "eine Netflix-interne Metrik, die alles mögliche bedeuten kann, aber eben kein simples Einspielergebnis" – exakt.
Interpretieren ist mir ein etwas zu schwaches Wort dafür. Das klingt nach "auf die Abozahlen schauen und sich überlegen, was davon wohl Red Notice war". Ein bisschen mehr als das passiert ja schon. Und interpretieren ist eher der Folgeschritt wenn die Zahlen (und zwar allerhand verschiedene Arten) vorliegen und z. B. die Fragen "war’s denn nun ein Erfolg und sollen wir es fortsetzen?" im Raum steht.
Aber so lange du mit interpretieren meinst "Zahlen extrahieren, die nicht direkt messbar sind", ja, dann stimmt das wohl.
Ändert nix daran, dass die Antwort auf jimmys Frage lautet: ja, haben sie.
Du redest aber nur von "hard data". Der Markt funktioniert schon lange nicht mehr so – in die Frage, ob RN ein Erfolg ist, wird eben auch die Analyse aufgenommen, wie das Medienecho war, wie es den Eindruck des Zuschauers vom Netflix-Image beeinflusst, etc. Das sind hochkomplexe Variablen, die letztlich dazu führen, dass die Entscheider nicht wie traditionelle Anbieter primär nach Kinobesuchern oder TV-Quoten schielen.
Das ist alles definitiv wahr, bei Netflix kommt mMn auch dazu, daß v.a. in heutigen Zeiten der Aktienkurs gewichtig mitspielt (man denke nur an Disney, deren Aktienkurs jüngst ziemlich abgesackt ist). Da muß das Unternehmen irgendwelche Zahlen veröffentlichen, um den Investoren Rechenschaft abzulegen – auch wenn die vielleicht kompletter Unsinn sind.
Apropos: Bei Netflix ändert man seine Top 10 Metriken und will anscheinend – oder doch nur scheinbar? – transparenter sein:
https://www.hollywoodreporter.com/tv/tv-news/netflixs-top-10-data-change-1235048213/
150 Mio h für Red Notice – d.h. das Ding ist zumindest 70 Mio mal über einen Bildschirm gelaufen. Wenn man den Zahlen trauen darf.
Netflix hat das Problem, dass man nicht wirklich testen kann. Man kann eigentlich immer ein Produkt irgendwo platzieren und dann in einem Vergleichsmarkt erstmal nicht und gucken was passiert. Das geht bei einem weltweit veröffentlichten Film nicht. Deshalb eher schwer zu sagen, was in einer Welt ohne RN passiert wäre.
Ich pack es mal hier hin, die SZ zum Thema Netflix und Zahlen:
https://www.sueddeutsche.de/medien/netflix-und-zuschauerzahlen-klick-mich-1.5466615
Ist das nicht von Schauspielpersonal und Produktion her Hollywood?
Hollywood ist Kino. Das ist die übliche Lesart.
Naja. Durchgeguckt und ein paar Stunden später schon wieder vergessen. Irgendwie hatte ich mir doch etwas mehr erwartet.
Ich frage mich auch wirklich, wie lange es noch gut geht, dass Dwayne Johnson und Ryan Reynolds immer dieselbe Nummer abziehen. Kommt es nur mir so vor, oder wirkt Reynolds mittlerweile schon direkt lustlos?
Lustlos vielleicht nicht – aber zu sehr in der Routine.
Wo es hier schon über Netflix Zahlen geht. Heute bei Heise gelesen, dass Netflix auf einer neuen Website mehr Infos rausgeben will. https://top10.netflix.com/tv.html
Ja. Eine gute Sache, auch wenn sie natürlich nur begrenzt aussagekräftig ist.
Die Popularität von der Denver Clan Neuauflage im deutschsprachigen Raum finde ich ehrlich gesagt sehr überraschend…
Ich halte das auch für einen eventuellen "glitch".
Dem Vernehmen nach hat Netflix bei allem, was mit Lokalisierung und Synchro zu tun hat, tatsächlich sehr den Daumen drauf. War zumindest vor ein paar Jahren so.
Ich hab mich seinerzeit mal mit einem Synchron-Regisseur unterhalten, der für die deutsche Fassung einer der größeren Netflix-Serien verantwortlich war. Da gab es z.B. eine Szene, in der die Stimme einer Figur durch eine Tür zu hören sein sollte. Im Original hatte die Produktion das anscheinend schlicht off-screen einsprechen lassen, d.h. es klang so, als ob jemand im Raum wäre, man sah nur niemanden. Das hatte keinen erkennbaren dramaturgischen Sinn (alle Figuren in der Szene wussten immer, dass die Stimme von hinter der Tür kam, und auch sonst erzeugte es keine Komik oder Spannung), sondern war wahrscheinlich entweder ein Fehler oder der Kostenersparnis geschuldet.
Die deutsche Synchronregie sorgte dann in der Abnahmefassung dafür (mit einem FIlter, nehme ich an), dass auch klanglich erkennbar war, dass der Sprecher nicht mit im Raum war. Netflix erhob Einspruch, der Filter musste raus. Begründung: Alles musste eins-zu-eins mit dem Original übereinstimmen, eigene Ideen der Synchronleute waren nicht erwünscht.
Kann mir gut vorstellen, dass das beim Marketing ähnlich läuft. Verhindert natürlich einerseits die absurden Auswüchse bei Synchro und lokaler Filmwerbung, die es etwa in den 1970ern und 80ern gab, ignoriert aber eben auch, dass die Leute vor Ort u.U. nützliche Erfahrungen und Kenntnisse mitbringen, und degradiert sie zu bloßen Erfüllungsgehilfen.
Genau. Es gab aber auch immer mal grandiose Alleingänge wie die erste Synchro von CHEERS oder die (nie veröffentlichte) deutsche POKEMON-Version, in der Pikachu spricht, weil die Redakteure das interessanter fanden…
Nagel auf den Kopf getroffen.
Familie war unterwegs, ich hatte mein Pensum erledigt: schwarzer Tee, etwas Knabberzeugs und dieser Film -> leere Entertainment-Kalorien. Ich musste ein paar mal auflachen, alle drei Akteure mag ich gerne sehen. Und, mein Gott, Gal Gadot ist so entzückend!
Filme mit Tiefe gibt es ja nun doch auch noch, also ist so etwas gelegentlich auch nett.
Im Double Feature mit Jungle Cruise gesichtet, der aber nochmal eine Spur generischer war. Für einen Netflix-Film aber unterhaltsam, die hatten schon groberen Käse im Angebot, aber der richtig große Wurf ist bislang ausgeblieben…