09
Jul 2021

Sehr geehrte Frau Christine Westermann…

Themen: Film, TV & Presse |

… ich habe seit sieben Jahren an dieser Stelle keinen offenen Brief mehr geschrieben. Ich habe sogar das Tag für diese Sorte Beitrag gelöscht. Weil ich mich nicht mehr in das Tagesgeschehen einmischen mag. Das ist zwar immer schön krawallig, aber nie langfristig befriedigend. Der Aufreger von heute ist der Wikipedia-Eintrag von morgen. Man muss nicht zu allem eine Meinung haben.

Aber Sie haben es geschafft, Christine Westermann. Wegen Ihnen sitze ich jetzt hier und schreibe doch noch mal was “ins Gewissen”, auch wenn ich ziemlich sicher bin, dass es nicht ankommt. Was schert Sie, was ich ich denke?

Worum es geht: Ich habe als Journalist in den letzten 30 Jahren das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit Leidenschaft verteidigt und erkenne seine Vorzüge als Anstalt wie als Anbieter durchaus an. Aber ich habe auch bei unzähligen Terminen miterlebt, wie sich die Kollegen und Kolleginnen von Ihnen kuschelig eingerichtet haben. Wie man sich Pöstchen und Projekte zugeschoben hat und die simple Zughehörigkeit zum Sender als bequeme Dauerkarte vor und hinter den Kameras angesehen wurde. Man ist dran, weil man dabei ist – und ist dabei, weil man dran ist. Bis dass der Tod uns scheidet.

Ich habe erlebt, wie zum Kotzen sich manche durchaus geschätzte Kollegen und Kolleginnen aufführen, wenn es mal nicht nach Ihren Wünschen läuft – und sei es nur, dass bei der Gala der Champagner schon vor Mitternacht alle ist. Es war peinlich anzusehen und ich habe mich geschämt. Der Branche wird ja aktuell vorgeworfen, tendenziell zu links /grün / liberal zu sein – und dann wird’s auch gleich wieder bestritten. Nach meiner Erfahrung mag das mal in den 70ern so gewesen sein – mittlerweile herrscht primär bräsiges Beamtentum, das genau so stockkonservativ wie irgendwelche CSU-Hinterbänkler auf die Wahrung der eigenen Pfründe aus ist. Der Osten hat sich – MDR voran – da prima eingegliedert.

Was das mit Ihnen zu tun hat, Frau Westermann? Zuerst mal nix. Ich habe Sie nie persönlich kennengelernt und kann deshalb zu Ihrem Leumund nichts sagen. Ich kann nur sagen, dass ich Sie als Moderatorin immer prima fand. Und das schon mit gerade mal fünf Jahren, als Sie erstmals DIE DREHSCHEIBE moderierten. Unsere Zuschauer/Ansager-Beziehung hält nun schon mehr als 45 Jahre.

Im Gegensatz zu vielen Kollegen und Kolleginnen schafften Sie in den 90ern mit dem Sprung zu ZIMMER FREI eine image-mäßige Verjüngung für die neue Zuschauergeneration. Good for you, wie man so sagt. 20 Jahren durften Sie an der Seite von Götz Alsmann mit Prominenten plaudern. Man hat ihnen den Job ja auch nicht wirklich schwer gemacht: als Sie in San Francisco lebten, erlaubte man Ihnen sogar die transkontinentale Pendelei zur Arbeit.

Gerade weil wir uns so lange über die Mattscheibe kennen, habe ich mir alle negativen Anmerkungen verkniffen, als sie 2016 gegen den eigenen Sender feuerten und die fade Mär vom “Jugendwahn” auftischten, weil ZIMMER FREI eingestellt wurde. Fand ich zwar albern, aber sei’s drum. Sie waren mit 66 im idealen Alter, um in Rente zu gehen – und es gibt keinen Grund, warum die ARD so alt sein muss wie ihre Zuschauer.

Sie gingen aber nicht in Rente. Und man hat Sie wahrlich auch nicht für die Kritik am/im eigenen Haus abgestraft – von 2015 bis 2019 waren Sie beim neuen LITERARISCHEN QUARTETT dabei und im Radio sind Sie auch zu hören. Außerdem haben Sie in der Sendung FRAU TV einmal im Monat zwei Buchtipps platziert.

Zumindest mit Letzterem ist nun Schluss – und Sie müssen sich Luft machen:

Man hat Ihnen ihre fünf Minuten genommen. Das macht Sie nicht arbeitslos, Sie sind immer noch im Radio bei WDR2 und WDR3 zu hören. Dennoch:

“Die Skala meiner Gefühle, nachdem ich es erfahren habe: erst Fassungslosigkeit, Zorn, Traurigkeit, Resignation.”

Und ich so: echt jetzt?

Frau Westermann, Sie sind 72 Jahre alt und damit weit über der Pensionsgrenze im deutschen Fernsehen aktiv. Sie haben das deutsche Fernsehen mitgeprägt, es hat Ihnen immer eine wohlige Heimat mit lang laufenden Formaten geboten. DREHSCHEIBE, AKTUELLE STUNDE, ZIMMER FREI, LITERARISCHES QUARTETT.

Als jemand, der kritisch zu fragen gewohnt ist, erlauben Sie mir sicher eine kritische Frage: Ab wann haben Sie Ihren Job eigentlich als dermaßen selbstverständlich und nur ihren eigenen Bedürfnissen unterworfen wahrgenommen, dass sie nach über 45 erfolgreichen Jahren in der Branche und weit im Rentenalter immer noch nicht der Meinung sind, es wäre mal Zeit für ein stilles “Danke” an Sender und Publikum und einen Abschied in Ehren?

Ist es so undenkbar, dass die “Ära Westermann” sich ihrem Ende zuneigt und dass nicht Sie ultimativ entscheiden, wann Ihnen das Mikro abgedreht wird? Ist die Vorstellung, mit 72 die Berufslaufbahn zu beenden, allen Ernstes ein Grund, sich wieder mal benachteiligt und gedemütigt und hintergangen zu fühlen? Nach 45 Jahren, in denen man Ihnen Präsenz und Prominenz und Plattform geboten hat?

Nachtreten statt zurücktreten. Mir tut leid, was Sie sich damit selber nehmen: einen Abschied in Stolz, einen letzten Handschlag in Freundschaft.

Wie gesagt; ich kenne Sie nicht, Frau Westermann. Aber das kommt mir alles sehr bekannt vor. Sie passen augenscheinlich sehr gut in das Bild, das ich von vielen Ihrer Kolleginnen und Kollegen in den letzten 30 Jahren bekommen habe.

Schade.



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Andy Simon
9. Juli, 2021 17:25

Gut beobachtet … diesen Fall hier hatte ich zwar noch nicht mitbekommen, aber das Pöstchen-Wohlfühlgefühl inkl. Anspruchsdenken bei WDR & Co. ist mir auch schon öfter über den Weg gelaufen. Vermutlich spielt eine Rolle dabei, dass die Qualitäten, die man bei ö/r-Sendern beim Aussuchen der Mitarbeiter sucht, als Nebenwirkung auch diese Haltung mit sich bringen.

Dietmar
9. Juli, 2021 22:05

Wieder einmal: Sehr gut beobachtet und fair besprochen.

Kein Widerspruch, nur ein Gedanke: Es kann schlichtweg sein, dass sie ihr Alter nicht wahrnimmt oder in seiner Konsequenz nicht wahrnehmen will. Sie will tun, was sie immer tat und sich deshalb auch nicht von diesen fünf Minuten trennen, weil das die Erosion ihres Schaffens zeigt.

Als ich Kind war, waren 77-Jährige alt. Richtig alt. Rente und auf dem Krückstock gestützt vor dem Haus sitzend die Straße beobachten. Sie kann nicht loslassen, und man hat dadurch den Eindruck, dass es ihr an Größe fehlt. Ja: Schade.

Last edited 2 Jahre zuvor by Dietmar
Gottloser
Gottloser
11. Juli, 2021 15:02

Der an die Lewitscharoff ist aber erst 7 Jahre her 😉