21
Jul 2021

Mindestlohn: Eine Frage von Gerechtigkeit – oder Sozialneid?

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Ich habe gerade auf Facebook eine eher unangenehme Diskussion laufen, die ich nur führe, weil ich die Beteiligten eigentlich sehr gerne mag und mich nicht freue, wenn sie argumentativ in die falsche Richtung laufen. Vielleicht laufe aber auch ICH in die falsche Richtung, weshalb ich das hier mal zur Diskussion stelle.

Es geht um den Mindestlohn, um Hartz IV und dieses Sharepic:

Dass dieses Bild vom Stammtisch kommt, sieht man schon daran, dass es Hartz IV und nicht Harz 4 heißt. Oder dass man für so einen Vergleich keine "durchschnittliche Wohnung" ansetzen kann, denn jeder Fall (ob Mindestlohn oder Hartz IV) ist anders. Wir reden von Rentnern und Studenten, von Familien und alleinerziehenden Vätern, von Witwen und Waisen. Und nach meiner Nutzung eines Mindestlohn-Rechners bleiben auch nicht 1044 Euro, sondern 1240 Euro – und damit ein Drittel mehr für die "anderen Lebenshaltungskosten" als bei Hartz IV. Aber das nur am Rande.

Ich verstehe, dass die meisten empörten Teiler dieses Sharepics es gut meinen. Ich glaube aber auch, dass sie keine Ahnung haben, wovon sie reden. Und dass es dabei nicht um Gerechtigkeit, sondern um eine hässliche Form von Sozialneid geht nach dem Motto: "Warum soll ich mich abrackern, wenn der faule Hartzer genau so viel Kohle bekommt?"

Kein Wunder, dass es Kommentare hagelt wie:

"Wer arbeitet ist dumm. So ist das in Deutschland!"

Ich arbeite. Ich fühle mich nicht dumm.

Nehmen wir das aber doch mal nicht mit Wut im Bauch, sondern mit Mut im Kopf auseinander. Was wird hier gesagt – und was bedeutet das?

Es ist demnach ungerecht, dass ein Mindestlöhner kaum mehr (vielleicht sogar weniger) verdient als ein Hartz IV-Bezieher. Klingt instinktiv richtig. Leistung muss sich wieder lohnen, hatte Kohl in den 80ern schon gepredigt. Wer arbeitet, muss mehr auf dem Zettel haben als der, der nicht arbeitet.

Aber so instinktiv richtig das ist, so faktisch falsch ist es auch. Weil Hartz IV und Mindestlohn die gleiche Aufgabe erfüllen und sich damit zwangsläufig sehr ähnlich sein müssen. Sie sichern einen Mindeststandard.

Wie viel Geld bekommt jemand auf Hartz IV? So viel, wie er zum Leben braucht.

Was ist die Definition von Mindestlohn? So viel, wie man zum Leben braucht.

Die Frage, wie viel Geld man zum Leben braucht, ist eben unabhängig von der Frage, ob man arbeitet (wenn man Variablen wie die Fahrt zu Arbeit ausblendet). Der Hartzer muss ebenso essen, einen Kühlschrank haben und drei Unterhosen, wie der Mindestlöhner. Hartz IV ist genau gekommen eine "Mindesthilfe" analog zum Mindestlohn. Damit ist erklärt, warum beide Summen sich so ähnlich sind.

Ist es nicht trotzdem unfair, dass jemand, der die ganze Woche arbeitet, nicht mehr auf dem Konto hat als der Hartzer? Die einfache Antwort: Willkommen im Kapitalismus. Was aber auch schon wieder nicht stimmt, denn im "echten" Kapitalismus wäre das Verhältnis "fairer": der Arbeiter bekäme einen Lohn, der Hartzer würde vor die Hunde gehen. Ist es DAS, was wir wollen?!

Die Politik hat diesen Mindestlohn unter Angela Merkel vor ein paar Jahren explizit eingeführt, um die Ausbeutung durch Arbeitgeber zu verhindern – oft genug sind z.B. Friseusen in Ostdeutschland mit 3 Euro die Stunde nach Hause gegangen. Der Empörung, der Mindestlohn sei zu gering, sollte zuerst einmal die Begeisterung vorausgehen, dass es überhaupt einen Mindestlohn gibt, der die schwächsten Arbeitnehmer schützt. Aber nein, die Aussage des Sharepics ist ja ein vages

"Schämt EUCH!"

… wobei weder klar ist, wer genau gemeint ist, noch warum das EUCH groß geschrieben werden muss. Hakt man nach, ist es immer "die Politik" oder "die Regierung" – die ja mit dem Mindestlohn das genaue Gegenteil dessen versucht, was hier behauptet wird. Merkel und Konsorten müssen sich vielleicht für vieles schämen, ganz sicher aber nicht für die Einführung eines Mindestlohns.

An dieser Stelle wird der argumentativen Bequemlichkeit zuliebe auch gerne unterschlagen, dass sich Hartz IV und Mindestlohn aus gänzlich verschiedenen Quellen speisen: Hartz IV zahlt der Staat, Löhne und Gehälter zahlen die Arbeitgeber. Wer angesichts des Sharepics also "genau!" knurrend auf die Tischplatte klopft, der sollte sich mal fragen, wer für die (sicher teilweise immer noch skandalös niedrige) Bezahlung der Mindestlöhner verantwortlich ist. Tipp: es ist nicht "die Regierung".

Es wird auch gerne argumentiert "Die Leute, die arbeiten gehen, sollten nicht am Minimum leben müssen" – das ist richtig. Darum beziehen die allermeisten Menschen einen Lohn, der deutlich ÜBER dem Mindestlohn liegt. Lohn und Mindestlohn sind zwei völlig verschiedene Dinge. Es gibt einen Haufen Jobs, die aus verschiedenen Gründen schlecht bezahlt werden – früher so schlecht, dass Menschen davon nicht leben konnten, obwohl sie den ganzen Tag gearbeitet haben. Darum hat der Staat eingegriffen und einen Mindestlohn definiert, der dafür sorgt, dass auch Menschen mit den niedrigsten Einkommen davon (mehr schlecht als recht) leben können. Das ist gut und richtig so. Sollte überhaupt jemand für Mindestlohn arbeiten müssen? In einer idealen Welt nicht. Aber wir leben nicht in einer idealen Welt.

Was genau wollen die empörten Stimmen eigentlich? Weniger Geld für Hartzer? Kann kaum sein, denn Hartz IV ist das definierte Minimum. Mehr Geld für die Mindestlöhner? Schwierig, denn auch deren Bedarf ist ja keine beliebige Stellschraube, sondern orientiert sich genauso am definierten Minimum.

Kern des Problems scheint mir die empfundene symptomatische "Faulheit" des Hartzers zu sein, dieses von den populistischen Massenmedien kolportierte parasitäre Lebensmodell, das den "braven Arbeiter" verhöhnt, der sich fürs gleiche Geld abrackert. Wäre das korrekt, könnte die Forderung aber nicht "mehr Mindestlohn!" oder "weniger Hartz IV!" lauten – logisch wäre dann nur eine härtere Kontrolle und Bestrafung der Hartzer, die "nicht arbeiten wollen".

So schürt man den Klassenkampf im Prekariat – so lange mein Nachbar sich auf Hartz IV eine Playstation leisten kann, braucht mich ja nicht zu scheren, dass Amazon Milliarden von Steuern umgeht. Und darum an dieser Stelle: Der Kapitalismus dankt Ihnen fürs Mitspielen.

Diejenigen, die sich empören, sind das Problem. Wer meint, kein Mensch müsse "für die paar Euro mehr" arbeiten gehen, hat das Sozialsystem nicht verstanden und sollte sich eine Runde schämen. Weil es nicht um die Frage geht, wie viel "mehr" man bekommt – sondern dass arbeiten sollte, wer arbeiten kann, solange vertretbare Arbeit verfügbar ist. Jeder, der mit verächtlichem Blick auf die Hartzer meint, dass er "für die paar Euro mehr" beim Mindestlohn keinen Finger krumm macht, legt genau die parasitäre Einstellung an den Tag, die er gerade anprangern will.

Alles gut und schön – lassen wir dem Hartzer, was des Hartzers ist. Aber warum nicht einfach den Mindestlohn deutlich erhöhen, um bei den Hartzern Anreize zu schaffen und bei den Mindestlöhnern die Zufriedenheit zu erhöhen? Das ist relativ einfach zu erklären: Die Regierung ist nicht für die Lohnpolitik zuständig, sie hat nur eine absolute "untere Grenze" definiert. Wäre der Mindestlohn deutlich höher, wäre er kein Mindestlohn mehr, sondern ein regulärer Lohn – und jeder Arbeitgeber hat jederzeit die Möglichkeit, mehr zu zahlen. Und genau DA liegt der Denkfehler: man will keinen Mindestlohn – man will einen Lohn, der Menschen besser stellt als Hartz IV-Bezieher. Das ist aber nicht Sinn und Zweck der Sache, denn beide Zahlen stehen eben nicht in Konkurrenz zueinander.

Natürlich kann man diskutieren, ob der Mindestlohn angemessen ist. Die einen sagen so, die anderen so. Wird ja auch immer wieder erhöht. Wer die Diskussion führen will, muss dann aber auch zugestehen, dass ein Lohn, der einen Minimal-Lebensstandard ermöglicht, auch einen höheren Hartz IV-Satz bedingt, der das gleiche Ziel hat. Man kann Hartz IV und Mindestlohn schlicht nicht entkoppeln.

Hartzer und Mindestlöhner sind keine Gegner. Glaubt nicht, dass ihr eine gute Sache unterstützt, wenn ihr das Gegenteil behauptet.

Es gibt ein Zitat von Louis C.K., der das Dilemma perfekt zusammen fasst:

"The only time you should look in your neighbor’s bowl is to make sure that they have enough. You don’t look in your neighbor’s bowl to see if you have as much as them."

Auf diese Situation übertragen etwa: Du wirst nie glücklich, wenn immer auf den anderen Teller schaust, ob dein Gegenüber mehr hat. Du wirst nur glücklich, wenn du auf deinen Teller schaust, ob du genug hast.

Oder liege ich daneben?

P.S.: Bevor nun einer auf falsche Ideen kommt – ich bin immer noch ein leidenschaftlicher Gegner des bedingungslosen Grundeinkommens.



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Christian Siegel
21. Juli, 2021 13:19

Bis aufs P.S. gibt’s von mir für diesen Artikel ein lautes "Bravo!". Die Gründe für deine vehemente Ablehnung eines bedingungslosen Grundeinkommens würden mich aber interessieren.

Andreas
Andreas
21. Juli, 2021 19:42
Reply to  Torsten Dewi

Schließe mich Christian an und bin auch auf deine Ansichten über das bedingungslose Grundeinkommen gespannt. Ich habe bei dem Thema noch keine endgültige Meinung, tendiere aber eher zu pro bedingungslose Grundeinkommen.

Christian Siegel
24. Juli, 2021 10:57
Reply to  Andreas

"Ich habe bei dem Thema noch keine endgültige Meinung, tendiere aber eher zu pro bedingungslose Grundeinkommen." Ganz genau so ist es bei mir auch 🙂

DJ Doena
21. Juli, 2021 22:10

Das Problem mit dem BGE ist ein ganz banales: Früher ™ hat die Tafel Schokolade 99 Pfennig gekostet, heute sind es 99 Cent (oftmals sind es inzwischen 1,15€).

Genauso gut könnte ich aber auch sagen: Früher hat die Schokolade 15 Bronze Knuts gekostet, jetzt ist es 1 Silber Sickel.

Der Unterschied zwischen ersterem und letzterem ist lediglich, dass wir ersteres in Relation setzen können. In Relation zu unserem Einkommen von damals und heute, in Relation dazu, was 500g Brot damals und heute gekostet haben.

Ansonsten sind es aber nur Zahlen.

Alle Experimente, wo man für eine Testgruppe das BGE eingeführt hat, finden aber nicht in Hogwarts statt sondern in der realen Welt. In dieser Welt leben aber 99,99999% immer noch ohne BGE und damit bleibt das Preisniveau stabil.

Wenn aber heute Leute im Median 2500€ (Zahl frei geraten) pro Monat im Portemonnaie haben, dann entspricht diese Zahl 2500 einer gewissen Kaufkraft. Hätten sie bei der Einführung des Euro auf den Cent komplett verzichtet, dann bekämen die Leute stattdessen 250000€ und die Tafel Schokolade würde 99-115€ kosten. Weil es eben nur Zahlen sind, die in einem Verhältnis zur Kaufkraft aller Bürger stehen muss.

Deshalb kostet der Big Mac ja auch weltweit unterschiedlich Geld, selbst wenn man die Währungsumrechnungskurse korrekt anlegt.

Wenn jetzt aber das BGE kommt und die Leute haben nicht nominell 2500 sondern 3500€ weil der Staat für jeden Menschen einfach jeden Monat einen 1000€ Schein druckt, dann werden langsam aber sicher die Preise für alles mögliche ansteigen. Nicht symmetrisch, nicht für alles in gleicher Relation. Aber die Leute haben ja 1000€ mehr und jeder Händler hätte gerne einen Teil davon.

Dann kostet die Schokolade eben plötzlich 1,50€, das Kilo Äpfel geht um 1€/kg nach oben, Dosensuppen nur um 30 Cent usw.

Und in ein paar Jahren ist der Warenkorb den man sich dieses Jahr für 2500€ leisten konnte genau so groß oder klein wie der, den man mit 3500€ bezahlt hat. Und damit ist der ganze BGE Effekt weg außer dass wir über LOS gegangen sind und 1000€ eingezogen haben.

Alexander Freickmann
Alexander Freickmann
23. Juli, 2021 07:20
Reply to  DJ Doena

Manch einer würde das auch einfach Inflation nennen. Deswegen wird ja auch von der Regierung auf eben die Inflationsrate geguckt. Die berechnet sich zB auch durch den Laib Brot, nicht sicher, ob ne Tafel Schokolade auch dabei ist, aber anderes. Wenn nun das BGE eingeführt wird und wir auf einmal ne Inflationsrate von über 5% haben, würde der Staat was dagegen machen.
Preise erhöhen sich nicht automatisch nur weil mehr Kaufkraft da ist. Natürlich würden die Waren teurer werden, vermutlich mehr als ohne BGE, aber nicht dermaßen außer Kontrolle wie du in deinem Alptraumszenario beschreibst.

stormking
stormking
26. Juli, 2021 23:37

Es fängt schon damit an, daß all jene, die derzeit miese Jobs zum Mindestlohn verrichten, z.B. Müllabfuhr, kaum weiterarbeiten werden, wenn sie es nicht müssen. Damit werden dann grundlegende Dienstleistungen sehr viel teurer.

Würde mich nicht wundern wenn man am Ende, wenn sich das erstmal eingeschaukelt hat, wieder bei einem ähnlichen Lebensstandard wie mit ALG2 herauskommt. Womit das "Grundeinkommen" genau gar nichts gebracht hat.

hilti
hilti
27. Juli, 2021 00:51
Reply to  stormking

Müllabfuhr ist ein schlechtes Beispiel. Die haben gute Tarife erstritten.

Alexander Freickmann
Alexander Freickmann
29. Juli, 2021 05:18
Reply to  stormking

Ist ja nicht so, dass viele Jobs in Zukunft immer noch von Menschen verrichtet werden müssen. In einigen Jahren (ob nun schon in 10 oder 20 Jahren) wird vieles zumindest teil automatisiert sein, sprich die Niedriglöhner sitzen eh arbeitslos zu Hause. Das BGE ist imo eine Möglichkeit, diese Zukunft für jeden human erträglich zu machen.
Die ultimative Form des BGE gibt es zB in Star Trek. Der Mensch muss nicht mehr arbeiten fürs Überleben, sondern findet andere Erfüllungsformen. Das wird (neben der Umwelt) eines der großen Themen für unsere Kinder und Kindeskinder werden (hoffentlich).

dermax
dermax
29. Juli, 2021 14:06

"Die ultimative Form des BGE gibt es zB in Star Trek."
Weil durch Beamen, Replikatoren und Holodeck jegliches menschliches Bedürfnis für lau befriedigt werden kann. Diese 3 Dinge werden wir aber auf Sicht nicht haben.

S-Man
S-Man
23. Juli, 2021 07:51

Beim BGE stellt sich mir erstmal die Frage der Finanzierung. Wenn wir jedem Bürger mal eben 1000€ pro Monat überweisen würden macht das 80Mrd € pro Monat oder 960 Mrd € pro Jahr, was fast ziemlich genau dem Doppelten (!) des kompletten Jahreshaushalts unseres Staates ausmacht (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/449433/umfrage/bundeshaushalt-ausgaben-nach-ressorts/).

Wo also kommt das Geld her? Steuereinnahmen? Von einem Durchschnittsgehalt von ca. 4000€ brutto (was mir irgendwie subjektiv zu viel vorkommt, https://amp2.handelsblatt.com/unternehmen/gehalt-so-hoch-ist-das-durchschnittseinkommen-in-deutschland/26628226.html) bleiben abzüglich der Versicherungen noch 600-700€ Lohnsteuer. Das BGE übersteigt also die Abgaben eines Arbeiters signifikant.

Nun ist 1000€ sehr viel, aber damit wurde im Kommentar gerechnet und damit wird auch experimentiert (https://www.spiegel.de/spiegelwissen/verlosung-bedingungsloses-grundeinkommen-fuer-ein-jahr-a-1060866-amp.html)

Einsamer Schütze
Einsamer Schütze
21. Juli, 2021 16:17

Das Bildchen krankt ja schon an falschen Rechnungen und künstlich hoch angesetzten Lebenserhaltungskosten. 483,55 – 17,50 sind 466,05 und nicht wie behauptet 421,05 Euro. Damit wären wir also schon mehr als 40 Euro über dem Hart-IV-Regelsatz.

Der Netto-Lohn scheint (absichtlich?) zu niedrig angesetzt zu sein. Mit diesem Rechner https://www.handelsblatt.com/brutto-netto-rechner/ komme ich bei dem zugrunde gelegten Mindestlohn von 9,19 Euro und 160 Stunden im Monat auf 1176 Euro Netto im Monat und nicht auf die angegebenen 1088,55 Euro.

Außerdem halte ich Warmmiete + Strom von 650 Euro für eine Einzelperson für viel zu hoch angesetzt. Aus eigener Erfahrung kenne ich nur die Mietpreise aus drei ostdeutschen Großstädten. Hier gibt es Einraumwohnungen bereits ab 250-300 Euro warm, für 600 bekommt man schon eine Dreiraumwohnung. Im Westen sind die Mieten natürlich höher, aber außer vielleicht in München werden sie kaum doppelt so hoch sein.

Setzen wir also Warmmiete + Strom für eine Einzelperson mal mit 300 Euro (Ost) bzw. 400 Euro (West) an und ziehen dann noch die Rundfunkgebühren ab, bleiben 858,50 Euro (Ost) bzw. 757,50 Euro (West) übrig. Wer vollzeit arbeitet, hat mit dem Mindestlohn netto also fast doppelt so viel übrig wie mit dem Hartz-IV-Regelsatz.

Ich weiß nicht, wer diese Grafik erstellt hat, ich halte sie aber für hochgradig tendenziös, denn es ist nur schwer zu glauben, dass hier nur "versehentlich" so dermaßen falsch gerechnet wurde.

Gottloser
Gottloser
21. Juli, 2021 17:41

I know, nicht Deutschland, aber vom Preis sicher mit einigen Städten in D vergleichbar: in Wien zahlte ich 700€ für Miete + Strom + Wasser im Monat für 1 Zimmer mit 42 qm. In Meidling, also nicht in nem Szenebezirk.

Heino
Heino
21. Juli, 2021 20:06

Was die Mieten angeht, liegst du eindeutig daneben. Hier in Köln zahlt man für eine 30qm-Wohnung, wohlgemerkt nicht im Zentrum, schon bis zu €500 Kaltmiete. In Frankfurt oder Hamburg soll das noch deutlich schlimmer sein. Ansonsten aber volle Zustimmung

sven
sven
21. Juli, 2021 16:26

Eine Kerneigenschaft solcher Sharepics scheint auch zu sein, dass sie immer inhaltlich falsch (oder veraltet) sind. Wer das teilt ohne nachzuschauen wie hoch der Mindestlohn aktuell ist (9,60 Euro) will sich nur faktenfrei empören. Ich hoffe deine Darstellung kommt bei den Teilern an.

Dietmar
21. Juli, 2021 19:17

Nein, Du liegst nicht daneben, sondern goldrichtig! Vor meiner (hüstel) "Karriere" als Musiker hatte ich einen richtigen Beruf: Ich war Verwaltungsfachangestellter in der Fachrichtung Kommunalverwaltung und habe als solcher auch gearbeitet. Unter anderem als Hauptsachbearbeiter im Sozialamt vor Hartz IV (ja, ja, ich bin alt, schon gut, ruhe da hinten). Du hast die Konkurrenz, die eben keine ist (Sozialleistung und geringes Einkommen/jetzt Mindesteinkommen,) perfekt beschrieben. Das ist ein herbeigeredeter Klassenkampf, bei dem es zwei Stoßrichtungen gibt: "die Politik", gerne undifferenziert als Ganzes oder personifiziert als Hassobjekt, und widerwärtiger Weise die Leistungsempfänger.

Die Leistungen waren immer Unterstützung, eigener Lohnerwerb ging vor und wurde auf die Leistungen angerechnet, Verweigerung wurde sanktioniert. Das war im Sozialhilfegesetz schon eingeschrieben, als ich noch in der Lehre war. Trotzdem wurde plötzlich eine politische Debatte vom Zaun gebrochen, dass man Leistungsverweigerung sanktionieren müsse. Damit wurden dann Wahlkämpfe geführt. Etwas ähnliches passiert hier. Es wird ein Skandal hochgekocht, der in der Realität nicht existiert, auf dem dann Politiker dubioser Gesinnung hochsurfen.

Ein prima Text! Ich unterrichte im nächsten Jahr neben Musik Deutsch, Erdkunde, Geschichte und Politik in meiner 8. Klasse. Dürfte ich in der Klasse Deinen Text mit entsprechendem Autorennachweis zur Analyse verwenden?

Last edited 3 Jahre zuvor by Dietmar
Martzell
21. Juli, 2021 19:26

Hartz IV zahlt gar nicht die Wohnung. Strom, Telefon und weitere Nebenkosten muss man selber zahlen. Heizkosten auch nur als Pauschale. Umziehen unmöglich, weil die von der Kommune vorgegebene Mietpreise die übernommen werden, völlig unrealistisch angesetzt sind; mittlerweile sind die Marktpreise viel höher und es gibt zu den Preisen gar keine Wohnung zu mieten.

Dass es einen Niedriglohnsektor gibt in dem Menschen dauerhaft arbeiten und zusätzlich noch mit Hartz IV aufstocken müssen oder auf Hartz IV Niveau entlohnt werden gehört angegangen.

Bedingungsloses Grundeinkommen ist als Kampfbegriff verbrannt. In SPD und FDP gibt es breit Befürworter für unbürokratische Pauschalen. Anstatt über 153 verschiedene soziale Leistungen für Familien, die diese kennen, beantragen, geprüft und genehmigt bekommen müssen (Milliarden Euro kostet die Verwaltung der Sozialleistungen) wollte die FDP eine Grundpauschale für Kinder und Auszubildende. SPD auch. SPD hat sogar eine Grundrente durchbekommen. Leider hat die Union dafür gesorgt dass es nicht bedingungslos ist sondern bürokratisch.

Hartz IV Empfänger sind alleinerziehend, alt oder krank. Nicht faul, dumm und unverschämt wie von manchen Medien gerne als Vorurteil gepflegt. Sie stecken also im falschen System das sanktioniert („fördern und fordern“).

Am einfachsten und besten ist eine Negative Einkommenssteuer. Damit kann man am wirksamsten und unbürokratischsten Armut bekämpfen. Außerdem ermöglicht es eine Einheitssteuer, also Steuervereinfachung. Umso höher der Grundfreibetrag, den man als negative Einkommenssteuer sogar ausbezahlt bekommt, wenn man nicht genügend Einkommen hat, umso sozialer unterstützen die Reichen die Armen.

Last edited 3 Jahre zuvor by Martzell
Christian Birkner
Christian Birkner
24. Juli, 2021 11:58
Reply to  Martzell

Nein, nicht alle sind allein, krank, alt…

Das ist Sozialromantik.

Man kann über vieles diskutieren, über höhere Regelsätze, selbst über ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Aber Verklärung hilft da ebensowenig wie Verdammung.

flippah
flippah
21. Juli, 2021 20:49

Ich persönlich finde, dass der Mindestlohn tatsächlich etwas über dem Existenzminimum liegen sollte.
Hartz 4, Flüchtlingsversorgung und dergleichen sollten sich am Existenzminimum orientieren. Der Mindestlohn sollte sich an dem orientieren, was ich "bescheidener Wohlstand" nennen möchte. Also eine Kategorie drüber.

Das ganz große Problem am Mindestlohn (genauso wie an Hartz 4) ist, dass sie bundeseinheitlich gleich hoch sind.
Das ist angesichts der deutlich unterschiedlichen Lebenshaltungskosten an den verschiedenen Orten letztlich ungerecht.
Ich wäre daher für eine bundeseinheitliche Berechnungsgrundlage – die dann eben je nach regionalen Situationen einen unterschiedlichen Betrag ergibt.
Und dieser sollte bei einer Vollzeitstelle mit Mindeslohn ein kleines, aber doch spürbares Stück über Hartz 4 liegen.

Martzell
21. Juli, 2021 23:08
Reply to  flippah

Dafür gibt es Wohngeld. Mindestlohn würde ich nicht "bescheidener Wohlstand" nennen, weil kein "hoher Lebensstandard" (Definition laut Duden) und völlig unzureichend wenn man Kinder hat. Ohne Familie, wenn man das Studentenleben gewohnt ist und in einer WG wohnt und evtl. noch Unterstützung von den Eltern erhält, kann man seinen Lebensstandard noch am ehesten einschränken.

Selle
Selle
21. Juli, 2021 22:10

Ich weiß nicht, welche Taschenspielertricks andernorts schon aufgezeigt wurden, aber es sind ein paar dabei. Der offensichtlichste Klopper ist aber, dass um genau das Szenario zu vermeiden vor Jahren die Aufstockung eingeführt wurde, wodurch ein Mindestlohnempfänger mit diesen Daten zusätzlich 300 Euro ALG II kriegen würde und somit klar besser gestellt ist.

Andi Kyrsch
Andi Kyrsch
22. Juli, 2021 12:29

Die Machart dieses Sharepics zeigt mehrere Problem auf. Hier wurden Zahlen willkürlich genommen.
Zum Beispiel, welche Wochenarbeitszeit nehme ich als Durchschnitt?
Die der Vollzeitstellen (41h im Jahr2018) oder die Teilzeitstellen (19h) oder alle zusammen (35h) ? (https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2019/PD19_18_p002.html)
Warum also gerade 37 Stunden?
So könnte man mit allen genannten Zahlen weiter machen. Hinzu kommt noch das offensichtliche Unvermögen richtig zu subtrahieren.
Gut gemeint ist halt nicht gleich gut gemacht.
Bei diesem wichtigen Thema gibt es genug zu kritisieren und solch ein Bild ist da eher kontraproduktiv.
Bei der Niedriglohnquote liegen wir europaweit auf Platz 6 und das ist keine Tabelle bei der man auf den vorderen Plätze liegen möchte.
Außerdem sind für ein Land mit unserer Produktivität alle unsere Löhne zu niedrig, auch der Mindestlohn und die Hartz IV-Sätze.
Die Schere zwischen Unternehmenseinkommen und Arbeitsentgelt also zwischen Konzerngewinnen und Löhnen geht seit der Einführung von HartzIV immer weiter auseinander (https://www.destatis.de/DE/Methoden/WISTA-Wirtschaft-und-Statistik/2008/03/einkommensentwicklung-vgr-032008.pdf?__blob=publicationFile).
Das ist doch das Kernproblem, welches man angehen sollte.