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Sep 2020

Fantasy Filmfest 2020 (15): FANNY LYE DELIVER’D

Themen: Fantasy Filmf. 20, Film, TV & Presse, Neues |

GB/D 2019. Regie: Thomas Clay. Darsteller: Maxine Peake, Charles Dance, Freddie Fox, Tanya Reynolds, Peter McDonald, Zak Adams

Offizielle Synopsis: Die Geschichte einer puritanischen Familie im Jahr 1657, deren schlichte Existenz auf einer abgeschiedenen Farm auf eine blutige Probe gestellt wird.

Kritik: Der hier hatte mich von Anfang an gegen sich. Ungute Erinnerungen an A FIELD IN ENGLAND. Ein obskurer Regisseur, der nur alle paar Jahre mal obskure Filme dreht, die meist keine Zielgruppe außerhalb der Festival-Rotation finden. Eine Verzögerung von drei Jahren nach der Fertigstellung, weil der Filmemacher sich spontan entschied, den Soundtrack nun doch selber zu schreiben und dafür etwas länger brauchte.

Vor allem aber: Der Veranstalter konnte bei der Einführung vor dem Filmstart in seiner Begeisterung kaum an sich halten. Und man WEISS mittlerweile, dass Rainer Stefans Geschmack mit “eklektisch” noch freundlich umschrieben ist, dass man das, was er anpreist, oft genug weiträumig umfahren sollte. Den hier kündigte er als Rachedrama im Stile der Italo-Western von Leone und Corbucci an – mit musikalischen Anleihen an (natürlich!) Morricone.

Und so sollen wir glauben, dass eine kleine, verdreckte Farm im Shropshire des 17. Jahrhunderts, bevölkert von frömmelnden, lustfeindlichen Puritanern, als Kulisse mit den endlosen Weiten und dem Mythos des Frontier-Western mithalten kann. Für einen “feministischen Horrorfilm”, der (so viel sei verraten) weder etwas mit Feminismus noch mit Horror zu tun hat. Schnaaaarch…

112 Minuten. Ich stellte mich auf einen langen Abend ein und eine Packung Pizzabrötchen bereit.

Tatsächlich ist FANNY LYE alles, was angekündigt wurde – und alles, was ich befürchtet hatte. Eine sehr triste halbe, dreiviertel Stunde macht den Einstieg mühsam, die verstockten Figuren laden nicht gerade zur Identifikation ein, und die Kulisse sieht nach genau dem aus, was sie vermutlich ist – ein Bauernhaus in einem Freilichtmuseum. Mühsam ist das Tagwerk, freudlos das Gebet im Hause Lye.

Aber mit den Flüchtlingen Thomas und Rebecca kommt im wahrsten Sinne Leben in die Bude – und Lust. Ein Geruch von Freiheit weht durch den Schweinestall, blanke Brüste reizen Knabenlenden, unterm Mieder wird gejodelt. Das weiche Fleisch gegen den harten Glauben, es wird schmerzhaft. Und als dann die puritanischen Hexenjäger nach sündhaftem Treiben schnüffeln, droht ein Showdown, wie ihn Shropshire noch nie gesehen hat.

Ich übertreibe, aber in der Tat zieht FANNY LYE nach einem (sicher gewollt) zähen Einstieg erstaunliche Kraft aus dem Konflikt zwischen Freikirche und religiöser Frömmelei, zwischen weiblicher Unterwerfung und emanzipierter Selbstbestimmung. Das ist nicht nur extrem präzise beobachtet, sondern auch in seiner Zeichnung der Figuren absolut folgerichtig.

Es brauchte eine ganze Weile, um meinen mitgebrachten Widerwillen zu überwinden, aber in der Tat – thematisch und in den Details der Inszenierung (vom Soundtrack ganz zu schweigen) ist FANNY LYE eine Variante des Italo-Western, die viele Elemente z.B. von SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD in die die englische Provinz der Cromwell-Ära überträgt. Die abgelegene Farm, die Eindringlinge, die Abwesenheit einer Staatsmacht, das Faustrecht, die Emanzipation der verlassenen Frau in der “neuen Welt”.

Klar wird das nicht jedermanns Sache sein. Ich glaube, FANNY LYE ist einer der Filme, bei denen ich mit meiner Begeisterung relativ allein bleibe. Weshalb ich ihn auch loben, aber nicht explizit empfehlen möchte. Es sei zudem in den Raum gestellt, dass der Film nur deshalb nicht schnarchend langweilig ist, weil ein erklärender Voiceover von Rebecca den Zuschauer an die Hand nimmt. Den hätte man weglassen können, weil der Film alles Notwendige auch zeigt – aber wie bei BLADE RUNNER ist dieser Kunstgriff vielleicht nicht immer nötig, aber oft hilfreich. Ich unterstelle sogar, dass er – wieder wie bei BLADE RUNNER – eine Entscheidung in der (langen) Postproduktionsphase war.

Auf bizarre Weise repräsentiert FANNY LYE alles, was auf dem FFF richtig UND falsch läuft: es ist ein reiner Festival-Film für ein vorgeblich anspruchsvolles Publikum, der sich dem profanen Massen-Entertainment verweigert. Gleichzeitig ist er aber auch ein hypnotisches, erzählerisch starkes Werk, das ein Biotop verdient in einer Welt, die nur noch Marvel und Netflix zu kennen scheint. Mag ich mich z.B, bei PALM SPRINGS mehr amüsiert haben – FANNY LYE ist die Sorte von Film, wegen der ich meine Dauerkarte kaufe.

Fazit: Ein anfänglich sperriges und sprödes Kostümstück, das trotz der begrenzten Möglichkeiten eine erstaunliche Sogwirkung entwickelt und sich zum potenten Religions-Drama wandelt. Once upon a time in Shropshire, indeed. 8 von 10 Punkten.

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1 Kommentar
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Martzell
20. September, 2020 18:39

Blade Runner hat kein Voiceover, in der Version die Sinn macht. Über die ursprüngliche Fassung deckt man besser den Mantel des Schweigens.