26
Jul 2020

Retro-Fotostory: DER FLUCH

Themen: Film, TV & Presse, Fotostory |

Deutschland 1988. Regie: Ralf Huettner. Darsteller: Dominic Raacke, Barbara May, Romina Nowack, Ortrud Beginnen, Gerd Lohmeyer, Eva Ordonez, Barbara Valentin u.a.

Ich bin weiter auf der Suche nach dem Phantom, das sich “der wertige deutsche Gruselfilm” nennt. Nach RAPUNZELS FLUCH brauchte ich etwas, das mir den Glauben an das Genre zurück gibt. Natürlich hätte ich es mir einfach machen und LAURIN von Robert Sigl besprechen können, aber der ist ja mittlerweile anerkannter Kult, Kunst und Kultur zugleich. Dass der gut ist, ist bekannt. Also weiter suchen. Und plötzlich fällt mir ein, dass ich irgendwo noch eine Kopie von DER FLUCH liegen habe, der in Horrorfankreisen Ende der 80er immer mal wieder in einem Atemzug mit LAURIN genannt wurde. Zwar gibt es den Streifen mittlerweile auch von PIDAX als DVD, aber ich liebe das authentisch Schrabbelige, also habe ich mich in den Stapeln von VHS-Rips auf DVD-R mal umgetan. Und da war er dann auch.

Ich muss gestehen, dass ich mich aus zwei Gründen besonders auf DER FLUCH gefreut habe. Da ist zunächst einmal Regisseur Ralf Huettner, der in den letzten 30 Jahren eine extrem vielseitige, aber auch wertige Karriere gemacht hat, die ich SO in Deutschland nicht für möglich gehalten hätte. Seine Filmographie enthält Delikatessen im Dutzend:

  • Die MUSTERKNABEN-Trilogie
  • Die Polit-Satire DER PAPAGEI
  • Der erste Tom Gerhardt-Film VOLL NORMAAAL
  • Der Helge Schneider-Klassiker TEXAS DOC SNYDER
  • Der Actionthriller DIE JAGD NACH DEM SCHATZ DER NIBELUNGEN
  • Die Kinderbuch-Adaption BURG SCHRECKENSTEIN
  • Der Erotik-Horror BABYLON – IM BETT MIT DEM TEUFEL
  • Der Techno-Krimi DER KALTE FINGER
  • Die Kultserie DR. PSYCHO

Muss man nicht alles gut finden, ist aber alles außerhalb der Beamtennorm des deutschen Fernsehens und Kinos. Es müsste mehr wie Huettner geben.

Und dann ist da noch die Hauptdarstellerin – Barbara May! Jawoll, das süße Blondchen aus den LISA-Filmen von Otto W. Retzer ist dabei, und damit haben wir eine Querverbindung geschafft, die eine Rezension rechtfertigt.

Wo ich gerade bei Barbara “Babsi” May bin: angesichts des sehr deutlichen österreichischen Akzents in DER FLUCH war ich plötzlich unsicher, ob sie in anderen Filmen synchronisiert worden war. Also warf ich den KAKTUS noch einmal ein. Entwarnung: auch da rollt sie das R schon ganz bezaubernd. Aber wie ich mir ihre erste Szene in dem depperten Streifen so anschaue, nehme ich plötzlich im Hintergrund etwas wahr, das mir bei meiner ersten Kritik entgangen war:

Es ist der Retzer-Käfer! Am Stachus in München! Immer dabei, und sei es nur, um den Drehort für den Kameramann zu blocken! Easter Eggs are in the house!

Wer sich übrigens immer mal gefragt hat, was eigentlich aus Barbara May wurde – sie hat 1993 die Schauspielerei an den Nagel gehängt und 1999 in Wien eine Schauspielschule gegründet. Auf der Webseite findet man ein nettes aktuelles Bild – und im Lebenslauf keinerlei Erwähnung von den Retzer-Filmen oder der Hostessen-Serie “Liebe ist Privatsache” für ProSieben…

Aber zurück zu DER FLUCH. Es ist eine Low Budget-Produktion, die den größten Teil der Laufzeit mit den drei Hauptdarstellern und den Bergen verbringt und von der Presse gerne als Mischung aus Mystery-Thriller und Heimatfilm bezeichnet wurde – was nicht so banane ist, wie es im ersten Augenblick klingt.

Ich gehe das jetzt mal gestrafft, aber chronologisch durch, auch wenn es sich hier explizit NICHT um eine Filmverbrechen-Fotostory handelt, bei der es mir darum geht, die Geschehnisse auf dem Bildschirm durch den Kakao zu ziehen.

SPOILER — SPOILER — SPOILER — SPOILER — SPOILER — SPOILER

Wir steigen mit den liberalen 80ern ein – eine Gruppe Knirpse schaut sich zur Schlafenszeit bei einer Schüssel Spaghetti einen Gruselfilm an. Dabei fällt besonders Melanie auf, die ziemlich genau weiß, wie solche Streifen funktionieren.

Auf dem Heimweg fährt Melanie mit dem Fahrrad eine alte Dame an, die verwirrt wirkt – ihr erscheint Melanie als Bergmädchen in traditioneller Tracht und Flechtfrisur. Überfordert macht sich Melanie davon, die Frau wird in ein Krankenhaus gebracht.

Am nächsten Tag haben Melanies Eltern einen Ausflug zum Silberhorn geplant, einer Bergkette, deren Bewohner in 100 Jahren durch den Abbau von Silber reich geworden sind. Hier hofft Rolf, den genauen Ort zu finden, an dem er und seine Rita sich das erste Mal geküsst haben.

Doch schnell wird klar, dass in der Zeit vor Navi und GPS die Orientierung oft Glückssache ist – zumal jemand den Aufstieg bewusst zu sabotieren scheint. Der Weg zieht sich, Risse im Familienglück werden sichtbar.

Schließlich findet man aber doch die verfallene kleine Kirche auf der Alm, die offensichtlich mit der TARDIS verwandt ist: innen größer als außen. Nicht unbedingt ein romantischer Ort…

… aber allemal ausreichend, um Babsi May zu begrabbeln. Da sage einer, das Brot des Schauspielers (in diesem Fall Dominick Raacke, mit dessen Schwester Catarina ich mal zusammen gearbeitet habe) sei ein hartes:

Bei Melanie häufen sich derweil die seltsamen Vorkommnisse – so hört sie in der Kirche ein Kinderlied und erkennt in einer Pfütze die Reflektion des Mädchens, das auch schon die ältere Frau am Vorabend gesehen hatte.

Es stellt sich heraus, dass Melanie selbst den Aufstieg sabotiert hat und nun auch daran geht, den Abstieg so weit wie möglich heraus zu zögern, in dem sie z.B. die Wanderkarte verschwinden lässt. Nach einer Weile ziellosen Umherirrens sehen Rolf und Rita bei Einbruch der Dunkelheit keine andere Möglichkeit, als in einem winzigen Verschlag zu übernachten.

Melanie nutzt die Gelegenheit, sich in der Nähe des Gletschers umzusehen – und stolpert über die Leiche eines Mädchens, das ihre Doppelgängerin sein könnte:

In Panik flüchtet die Familie zu einem großen Hotelbetrieb im Tal und kontaktiert von dort die Bergwacht, die eine Eisleiche erstaunlich nonchalant registriert.

An dieser Stelle musste ich vor Vergnügen kieksen, denn einer der Bergwächter ist niemand anders als der damals noch völlig unbekannte Tobias Moretti, kongenial gecastet als Markus Söder:

Während Rita mit Melanie zurück nach München fährt, bleibt Rolf vor Ort, um herauszufinden, was es mit der Kinderleiche auf sich hat.

Ein Heimatpfleger kann anhand alter Unterlagen tatsächlich Licht in die Sache bringen: anscheinend wurde die ganze Gegend vor mehr als 100 Jahren von einer Hexe verflucht, die man unvorsichtigerweise auf einem Scheiterhaufen verbrannte. Der positive Effekt: bald darauf entdeckte man das Silber, das die Gegend reich machen sollte. Der negative Effekt: seither fürchtet man, dass die dunklen Mächte vier Mädchen als Opfer holen werden.

Derweil ist die alte Dame aus dem Krankenhaus ausgebüxt und sucht nach Melanie, was uns einen großartigen Blick in den gerade abgerissenen Münchner Hauptbahnhof erlaubt:

Diese “IC-Lokomotive” war ein Süßwarenstand und ich war genau dort mit meinem Kumpel Frank verabredet, als ich das erste Mal nach München reiste. Das muss in der Tat zu der Zeit gewesen sein, als Huettner DER FLUCH drehte.

Rita bekommt nicht mit, dass sich Melanie aus dem Staub macht, um zum Silberhorn zu fahren. Und weil Barbara May Barbara May ist, gibt es zwei Otto W. Retzer Gedenknippel zu sehen:

Es mag an der ständigen Konfrontation mit unnötigen Nacktszenen zu liegen, aber auch hier fand ich es so albern wie unnötig, Barbara May oben ohne zu zeigen. Klar kann man argumentieren “so sitzen Frauen nun mal in der Wanne”, aber es gibt genug Möglichkeiten, das dezenter zu filmen. Als sie kurz darauf aus der Wanne steigt, klappt das ja auch ohne intimere Einsichten.

Versteht mich nicht falsch: ich bin wahrlich kein Gegner von erotischen Darbietungen, besonders bei so hübschen jungen Damen wie Barbara May. Aber es sollte halt entweder Kontext haben oder klar dem Anspruch des Films geschuldet sein – ein Retzer-Film ohne Nackedei wäre wie ein Vampir ohne spitze Zähne. Aber hier? Völlig unnötig, und darum ob der Selbstverständlichkeit, mit der man das damals trotzdem machte, fragwürdig. Siehe dazu auch die Damen Elsner und Rudnik in TIME TROOPERS.

Rolf hat sich mittlerweile zusammen gereimt, dass Melanie zu den vier Mädchen gehört, die der Fluch als Opfer fordert. Darum wird sie auch magisch von der kleinen, ungeweihten Kirche angezogen, der die Bewohner der Gegend einst ein silberne Glocke spendeten, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.

Wieder und wieder versucht Rolf, Melanie vom Weg in die Kirche abzuhalten, wieder und wieder scheitert er – auch, weil die drei anderen erwählten Mädchen sich ihm in den Weg stellen:

In der Kirche gelingt es Rolf, Melanie zu überlisten. Er packt sich die schreiende Tochter und flüchtet, bevor der Fluch erfüllt werden kann. Rita kommt dazu und hilft nach besten Kräften mit.

Das passt dem Fluch überhaupt nicht. Der Boden beginnt ungut zu vibrieren und die silberne Glocke beginnt zu schmelzen:

Bei der Durchfahrt durch den Silberhorn-Tunnel muss Rolf auf die Bremse treten: da sind die drei Mädchen wieder, die Melanie als Gefährtin einklagen.

Immer noch skeptisch, bringt Rolf es nicht über sich, die Mädchen zu überfahren. Er versucht den Wagen rückwärts aus dem Tunnel zu fahren, aber in dem Augenblick stürzt alles über ihnen ein.

Die Mädchen bekommen, was sie wollten: Melanie schließt sich ihnen an und gemeinsam verschwinden sie in der Kapelle.

Der Epilog berichtet von einem gigantischen Erdrutsch, der fast 500 Menschenleben gekostet und das Tal verwüstet hat. Die Leichen des “Münchner Paares” hat man gefunden, der Verbleib der achtjährigen Tochter ist ungewiss…

Kritik: SO! So und nicht anders muss man das machen. Bei allen Defiziten, die dem Budget und dem Entstehungszeitraum geschuldet sind, ist DER FLUCH ein Musterbeispiel dafür, dass es “deutschen Grusel” geben kann, der nicht permanent auf internationale Vorbilder schielt oder versucht, mit Geisterbahn-Rummel das Publikum zu erschrecken. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein “slow burner”, der von der ersten Minute an ein vages Unheil impliziert, eine unausweichliche Schicksalskraft. Je mehr Rolf über den Fluch erfährt, desto weniger rüstet es ihn für das, was ihn erwartet – letztlich findet er nur heraus, dass er eigentlich nichts tun kann. Aber nichts tun ist für ihn keine Option, denn es geht um seine Tochter.

Das hat alles, was RAPUNZELS FLUCH nicht hat – Figuren, die mit einem simplen, aber gut durchdachten Mythos verwoben sind, Beziehungen der Figuren untereinander, zu lösende Konflikte, Wendungen und Überraschungen bis hin zum schockierend düsteren Finale. Eben das, was man einen zweiten Akt nennt. Die 90 Minuten von DER FLUCH fühlen sich nur halb so lang an wie die knapp 70 von RAPUNZELS FLUCH – und das, obwohl auch Huettner nicht gerade rasant inszeniert. Denn selbst das ist ein Plus: DER FLUCH nimmt sich Zeit, seine Figuren durch die eigentümlich bedrohliche Bergwelt wandern zu lassen, bis sie sich verloren und ausgeliefert fühlen. Die Emotionen, Konflikte und Hoffnungen werden nicht in steifen Dialogen thematisiert, sondern in Gesten, Entscheidungen und Blicken. Die Geschichte wird uns nicht aufgedrängt, sondern angeboten. Damit ist Huettner ein “deutscher” Regisseur im besten Sinne, dessen Inszenierung sich an deutschen Vorbildern orientiert, am Bergfilm und am sperrigen Fernsehspiel der 70er Jahre.

Filme wie dieser, LAURIN und SUKKUBUS zeigen, wie ein genuin deutsches Genrekino hätte aussehen können, wenn sich irgend jemand dafür interessiert hätte. Zwischen 1988 und 1990 gab es die Filme, und mit ihnen die Chance, darauf aufzubauen. Zu schade, dass sie ungenutzt blieb.

Natürlich ist DER FLUCH nicht fehlerfrei und wenn man sich auf sein gemächliches, fast meditatives Erzähltempo nicht einlassen mag, dann wird man ihn vermutlich langweilig finden. Ein paar der Nebenrollen sind schauspielerisch wackelig, der Nebenplot mit der älteren Frau dient mehr dem “foreshadowing” als der tatsächlichen Story, und ein oder zwei getürkte Nachtaufnahmen sind nach heutigem Maßstab eher störend. Wett macht DER FLUCH das durch exzellente Darstellungen von Raack und May, ein paar beeindruckende Bilder nicht nur der Bergwelt, und eben durch die gänzlich eigene Geschichte, die früh ihren Rhythmus findet und den Zuschauer dann nicht mehr los lässt.

Es ist sehr erfreulich, dass die CINEMA seinerzeit erheblich gnädiger war als bei SUKKUBUS und DER FLUCH als Kleinod durchaus erkannte:

Das Lexikon des Internationalen Films urteilte ähnlich:

“Mystischer Bergfilm, der das Genre des Heimatfilms mit Grusel-Motiven mischt.”

Fazit: Ein stimmig erzählter Gruselfilm, gänzlich deutsch in seiner aus dem Bergdrama und dem Melodram entwickelten Sprache und Geschwindigkeit. Kein Knaller, aber für Kenner.

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DMJ
DMJ
26. Juli, 2020 17:32

Ist ewig her, dass ich ihn gesehen habe, aber da ist er mir auch sehr positiv aufgefallen.

Bzw. … er hat mir nicht sonderlich gut gefallen, sondern ich habe mich danach beklommen gefühlt. Das war jetzt natürlich erstmal nicht toll, aber wenn man einen Horrorfilm sieht, kann man sich da nicht beschweren. Und ich habe verdammt viele Horrorfilme aus allenmöglichen Jahren und Subgenres gesehen und habe das wirklich sehr selten so gefühlt – da muss man wirklich den Hut vor dem Film ziehen.
Aber ulkig, dass auch der von Huettner ist. Das wusste ich tatsächlich gar nicht, obwohl der Mann vorher schon ziemlich in meiner Achtung stand.

Die Nacktszene war mir damals auch aufgefallen, ich glaube, es gibt noch eine zweite Komponente, die zum damaligen Nacktheitsoverkill im deutschen Film beigetragen hat: Der hohe (und unverdiente) Stand des Theaters hierzulande. Das verwünschte Regietheater hat es sich ja zur Angewohnheit gemacht, den Darstellern bei jeder Gelegenheit die Klamotten runter zu reißen, dadurch war es unter Schauspielern vielleicht einfach üblich und auch als “künstlerisch legitim” etabliert, so dass es sich leicht mitnehmen ließ.

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[…] MOLOCH überzeugt über seine sehr raffiniert erzählte Mythologie hinaus als Konzept. Er ist zutiefst holländisch, präsentiert seine Locations, seine Figuren und seine Geschichte eben nicht als generisch und austauschbar. Was hier passiert, kann nur hier passieren. Er wirkt absolut authentisch und gehört damit in eine Reihe mit Sebastian Niemanns BIIKENBRENNEN und Ralf Huettners DER FLUCH. […]