22
Jul 2020

Preview-Kritik: RAPUNZELS FLUCH

Themen: Film, TV & Presse |

Deutschland 2020. Regie: David Brückner. Darsteller: Tabea Georgiamo, Michael von der Brelie, Davis Schulz, Olivia Dean, Sophie Swan, Hartmut Engel, Urs Remond

Story: Alina Grimm möchte als Abschlussfilm an der Hochschule einen Horrorstreifen drehen – die ausgesuchte Location ist ein altes Schloss, in dem vor Jahrhunderten unsanktionierter Exorzismus florierte. Zusammen mit ihrem Freund, den Darstellern Leo und Emily sowie dem Kameramann David will Alina eine Nacht lang die filmischen Möglichkeiten vor Ort checken. Die Tatsache, dass eine dämonische Kreatur von damals immer noch das Gemäuer unsicher macht und Alina die Nachfahrin eines der Exorzisten ist, verkompliziert die Suche nach geeigneten Drehorten allerdings erheblich…

SPOILER — SPOILER — SPOILER — SPOILER — SPOILER — SPOILER

Kritik: Ich bin nicht doof, ich bin nur zu nett. Darum lasse ich mich immer wieder hinreißen, Genre-Beiträge des deutschen Nachwuchses zu besprechen, auch wenn alle Zeichen auf Schrott stehen. Weil ich die Jungs sympathisch finde, weil ich ihren Enthusiasmus bewundere, weil ich ihnen das Beste wünsche. Beispiele hier, hier, hier und hier. Ich bin mit meinen Kritiken dabei sehr wohlwollend, so schwer es manchmal fällt – aber auch brutal ehrlich, weil nur ehrliche Kritik die Möglichkeit zur Weiterentwicklung birgt.

Nur leider liege ich mit der “Weiterentwicklung” meistens daneben. Das deutsche Horror-Fandom ist komplett zufrieden damit, sich im etablierten Suhl zu wälzen, allenfalls die Budgets ein bisschen hoch zu schrauben, um mit technischem Brimborium zu trommeln, obwohl der cineastische Kaiser wieder und wieder keine Kleider trägt.

Weil ich nicht doof, aber zu nett bin, habe ich auch brav die Hand gehoben, als David Brückner auf Facebook fragte, ob jemand einen Screener zu seinem neuen Film RAPUNZELS FLUCH besprechen wolle. Ich mag David. Der ist … auch nett. Und erfrischend normal. Erstmals wirklich Kontakt hatten wir vor sechs Jahren, als ich in einem HMV auf den Kanalinseln eins seiner Frühwerke auf DVD stehen sah und ihm ein Foto schickte, damit er stolz sein konnte. War er auch. Seither hat man sich gegenseitig “im stream”.

Ich will nicht verheimlichen, dass ich auch schon nervige Diskussionen über seine Arbeit mit ihn hatte, genauer gesagt über den Plan, einen Film mit dem Titel PARANORMAL DEMONS zu drehen. Eher beiläufig wies ich darauf hin, dass der Titel redundant ist, denn ein Dämon ist ja per Definition paranormal. Leider reagierte David, wie die meisten deutschen Nachwuchsfilmer reagieren, wenn man sie kritisiert: erst verteidigte er sich, es sei ja kein endgültiger Titel (und er wurde es doch), dann verstieg er sich in die Behauptung, Horrorfilmtitel würden ja generell meistens keinen Sinn ergeben. Ein Beispiel für diese steile These konnte er allerdings nicht nennen.

Es hätte mir eine Warnung sein sollen. Diese Schützengraben-Mentalität, die hier an den Tag gelegt wurde, zeugt nicht nur von Renitenz – sie ist im größeren Rahmen üblicherweise ein Zeichen dafür, dass jemand auch lernresistent ist. Wer glaubt, trotz Gegenbeweises alles richtig zu machen, der wird sich nicht entwickeln. Der wird nur immer weiter wurschteln. Es zeigt außerdem, dass die Logik des Kinos generell und speziell des Genres ihm letztlich wurscht sind. So kann das nix werden.

Hatte ich schon erwähnt, dass ich nicht doof, aber zu nett bin? Also ließ ich mir von David einen Link zu seinem Screener schicken, weil ich wider aller Erwartung die Hoffnung pflegte, er würde – und sei es nur aus Ehrgeiz und Reife – diesmal mehr Augenmerk auf die Story, die Charaktere und die Spannungskurve legen.

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Oh, guck mal – da fliegen mir Affen aus dem Hintern!

Seufz… vielleicht bin ich doch doof.

Damit es nicht heißt, der Dewi sei wieder nur ein knatschiger alter Kauz, dem jedes Gespür für den modernen Horrorfilm abhanden gekommen ist, fange ich mit den positiven Seiten von RAPUNZELS FLUCH an.

Die Kameraarbeit von Costel Argesanu ist hervorragend, ich möchte fast sagen herausragend. Nicht nur kristallklar und farbstark, sondern auch in der Bildkomposition immer wieder überzeugend. In Sachen Lichtchoreographie und Atmosphäre spielt RAPUNZELS FLUCH auf einem ganz anderen Level als z.B. ATOMIC EDEN (was aber natürlich auch dem Genre geschuldet ist):

Der punktuelle Einsatz von Primärfarben lässt Szenen aufblühen, die ansonsten nur düster und blass gewesen wären:

Die etwas exzessive, aber durchaus elegante Verwendung von Drohnen-Aufnahmen kommt dem Panorama des Films durchaus zugute.

Da verzeiht man auch, dass teilweise der Bildausschnitt etwas unglücklich gewählt ist – sollte man im Jahr des Herrn 1697 wirklich den Asphalt auf der Straße sehen?

Und wenn mal ein Briefkasten oder ein Klingelschild im Weg ist, dann würde ich empfehlen, diese digital zu retuschieren, statt einfach Bretter und Kaffeesäcke davor zu stellen, was auch wieder störend wirkt:

Es ist zudem angebracht, einen Take entweder zu wiederholen oder im Schnitt zu kürzen, wenn einer der Nebendarsteller arg offensichtlich in die Kamera glotzt:

Aber das sind Niggeligkeiten, die man gerade bei einem Low Budget-Horrorfilm nich zu gewichtig in die Waagschale legen sollte. Ich habe das nicht nur schon viel schlimmer gesehen, sondern selten besser. Hut ab vor Costel Argesanu.

Ebenfalls auf der Haben-Seite: Die Musik, die zwar keine erinnerungswürdigen Themes bietet und in den dramatischen Szenen etwas zu wenig anzieht, aber aus Klavier und ein paar Streichern einen effektiven Score zimmert.

Schließlich die Darsteller. Die sind ja immer ein “mixed bag” in solchen Produktionen, weil sich der heimische Horror nun mal nicht Ben Becker und Heike Makatsch leisten kann. RAPUNZELS FLUCH – dafür muss man schon dankbar sein – bietet keinen darstellerischen Totalausfall, schlimmer als “geht so” wird es nicht. Ich tue mich auch schwer, einzelne Performances zu kritisieren, weil Schauspieler mit dem arbeiten, was man ihnen bietet. Und dazu kommen wir noch.

Positiv ist auf jeden Fall Urs Remond zu sehen, den wir noch aus der grottigen JOHN SINCLAIR-Serie kennen und der vor ein paar Jahren in einem drolligen Grusel-Musikvideo von Luci van Org die Hauptrolle spielte:

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Remond ist – wie Gedeon Burkhard in SCHNEEFLÖCKCHEN – sehr gut gealtert und gibt RAPUNZELS FLUCH in den wenigen Szenen, die er hat, eine gewisse Ernstigkeit und Gravitas mit. Der Mann verdient mehr Hauptrollen.

Aus dem Jungcast, der bei solchen Filmen aus der Not geboren ist, sticht primär Sophie Swan heraus, von der ich glauben möchte, dass sie eigentlich Sophie Schwan heißt, aber in einem billigen Horrorfilm nicht mit ihrem echten Namen genannt werden will (weil ihre Figur Emily Hirsch heißt, aber Emily Deer genannt werden möchte). Das ist sicher Wunschdenken. Auf jeden Fall zeigt Sophie mehr Talent, Charisma und Einsatz, als der Film verdient hat:

Wo die Kollegen sich dem deutschen Amateurhorror-Niveau anpassen, spielt Sophie Swan, als wäre sie in einem knackigen amerikanischen B-Movie dabei. Was RAPUNZELS FLUCH an Leben mitbringt – es kommt von ihr.

Damit sind wir bei den positiven Eigenschaften des Films auch schon am Ende der Fahnenstange, obwohl – das bisschen Splatter und Effekte, die wir zu sehen bekommen, sind kompetent umgesetzt, auch wenn große Showpieces fehlen.

Weil wir gerade bei Sophie Swan als Talent-Leuchtturm des Films waren, bleibe ich auch für die Defizite von RAPUNZELS FLUCH erstmal bei ihr. Denn sie ist Dreh- und Angelpunkt der vielleicht falschesten Sexszene, die ich seit langem gesehen habe. Wie eine Sexszene “falsch” sein kann? Lasst es mich erklären.

Hier wäre jetzt üblicherweise die Stelle, an der ich die “Talente” der jungen Darstellerin im Screenshot dokumentiere, aber genau das will ich nicht. Darum steigen wir ein, bevor der BH fällt.

Kurz das Setup: Leo ist “der Ficker”, der bei Dreharbeiten jede Darstellerin und jede Regisseurin ohne Rücksicht auf Verluste flach legt. Natürlich will er auch bei der scharfen Emily ran, diese ist aber vorgewarnt, weil Leo einer ihrer Freundinnen die Beziehung kaputt gevögelt hat.

Im Gegensatz zu jeder anderen Figurenkonstellation – das sei vorweg genommen – ist hier ein tatsächliches Konfliktpotenzial vorhanden. Wird sich Leo an Emily die Zähne ausbeißen? Ändert er für sie gar sein Leben? Wird Emily Rache nehmen und Leo voll auflaufen lassen? Wird sie seinem Charme ebenfalls verfallen?

Dann die Wende: Emily wird von einem Dämon besessen und tötet Leo beim Sex.

Null Emotion. Null Effekt. Der ganze Aufbau der Beziehung zwischen beiden geht flöten, die Möglichkeit, den Sex selber zu einem Kampf zwischen Love Machine und Sukkubus zu stilisieren, bleibt ungenützt. Es ist der Moment, in dem David Brückner ein echtes Highlight vor die Füße gelegt wurde – und er tritt drauf wie auf einen Hundehaufen.

Schlimmer noch: der Sex wird unfassbar bieder und lahm inszeniert und entspricht damit WEDER dem Ruf Leos als Sexbolzen NOCH der Rolle Emilys als Sukkubus. Stattdessen liegt er steif wie ein Brett und voll angezogen auf dem Boden und wimmert nach 20 Sekunden schon, er würde nicht mehr lange durchhalten, während Sophie Swan sich auf ihm ein wenig windet und sich die Brüste kneten lassen muss.

Das ist so… freudlos. So frauenfeindlich überholt. So völlig unpassend. Was hätte man mit dieser Szene Spaß haben UND die Story voran bringen können!

Stattdessen hat man das Gefühl, hier wurde nur pflichtschuldig topless gedreht, um ein Szenenfoto für die DVD-Box zu haben und weil Nebenfiguren in solchen Filmen beim Sex ja fast zwangsläufig gekillt werden.

Um es zusammen zu fassen: es ist RICHTIG, an dieser Stelle und zwischen diesen Figuren eine Sexszene zu zeigen. Die Art, WIE sie geschrieben, inszeniert und gespielt wird, widerspricht aber allem, was eigentlich zu erzählen gewesen wäre.

Damit haben wir zumindest die eine Szene hinter uns, die mich tatsächlich geärgert hat – der Rest von RAPUNZELS FLUCH bringt leider nicht die Energie auf, mich auch nur genervt “pffft!” machen zu lassen. Das hier ist kein sättender B-Movie-Burger, sondern ein Stück trockenes Knäckebrot mit einem halben Glas Kranwasser – Zimmertemperatur.

Das liegt natürlich primär am – und ich wähle das Adjektiv nicht leichtfertig – beschämend schlechten Skript, aber auch an der tranigen Inszenierung, die selbst in den dramatischen Szenen kein Tempo aufnimmt und die alle Figuren auf den Horror mit einer beiläufigen Wurstigkeit reagieren lässt, als wären Dämonenattacken nur eine unangemessene Störung bei der Location-Suche.

Aber fangen wir mit dem Drehbuch an, denn es ist der Kern aller Probleme, die RAPUNZELS FLUCH hat. Wie ein “best of” wird hier wirklich alles ignoriert, was man schon in “Drehbuchschreiben für Dummys” lernt:

  • Die Figuren haben keine eigene Geschichte, kein Ziel, keinen Konflikt, weder mit sich selbst noch untereinander
  • Der Mythos von Rapunzel wird nicht mal grob angerissen, wir haben keine Ahnung, ob es hier um eine Hexe, einen Dämon, eine physische oder nur  ätherische Macht geht
  • Die wenigen Regeln des eh schon mangelnden “myth building” werden permanent gebrochen, wenn Rapunzel primär als physisch präsente Figur gezeigt wird, dann aber doch Menschen übernehmen kann (?)
  • Zwischen Protagonistin und Antagonistin wird ständig eine Beziehung behauptet, die an keiner Stelle ausgespielt wird
  • Weder die Heldin noch Rapunzel haben ein Schicksal, eine größeres Ziel oder eine Bestimmung
  • Logiklöcher noch und nöcher, angefangen mit der Frage, wie ein katholischer Priester / Exorzist / Mönch eine Familie gehabt haben kann, aus der Alina hervor gegangen ist?
  • Dialoge, die den Film permanent strecken, ohne ihn inhaltlich voran zu bringen
  • Keine der Figuren spricht authentisch, jeder Satz wirkt vom Blatt abgelesen
  • Es gibt keinen Lernprozess der Figuren, keine überraschenden Entdeckungen, die zu irgendeiner Form von Gegenwehr gegenüber Rapunzel führen

All das ist einem einzigen grundlegenden Fehler geschuldet (und mit dem ist RAPUNZELS FLUCH wahrlich nicht allein): Der Film hat keinen zweiten Akt.

Zur Erläuterung, falls ihr hier neu seid: ganz grob gesagt unterteilt sich ein Film traditionell in drei Akte. Ebenso grob besteht der erste Akt aus 20 Minuten, der zweite aus 40-50 Minuten, der dritte wieder aus 20 Minuten. So kommt ein Film mit 80 bis 90 Minuten zustande. Die Länge der Akte können auch mal variieren, aber hält man sich an die Vorgabe, macht man wenigstens nichts falsch.

Im ersten Akt werden die Personen und das Setting vorgestellt, die Beziehungen erklärt, der Grundkonflikt gesetzt. Akt 1 endet üblicherweise mit der unumkehrbaren ersten Eskalation des Konflikts. Die Hauptfiguren können nicht mehr anders, sie müssen handeln. In Akt 2 kommt es zu ersten Konfrontationen, Protagonist und Antagonist lernen sich kennen, erste Opfer sind zu beklagen, erste Strategien gehen schief, Geheimnisse kommen ans Tageslicht und überraschende Wendungen stellen in Frage, was wir am Ende von Akt 1 als mögliche Auflösung gesehen haben. Akt 3 ist dann der Einstieg ins Finale, wenn sich die restlichen Beteiligten zum Showdown rüsten und die Spannungskurve richtig angezogen wird.

Nochmal: RAPUNZELS FLUCH hat keinen zweiten Akt. Der Film dauert, wenn man den Prolog und den Nachspann abzieht, gerade mal 67 Minuten. Von diesen 67 Minuten vertrödelt er über 40, bis die Helden erstmals ernstlich mit dem Bösen konfrontiert werden. Die restlichen 25 Minuten bis zum Nachspann bestehen aus “durch Gänge schleichen”, “latent genervt miteinander reden”, “sterben”. Es passiert was, aber es geschieht nichts. Und darum sind selbst die 67 Minuten zäher als verkochter Haferbrei.

Was immer der Film in Sachen Mythologie andeutet, bleibt folgenlos: wieso ist der Dämon die Figur aus dem Märchen “Rapunzel”? Warum spuckt Emily plötzlich lange Haare? Was hat das alles mit Alinas Katholizismus zu tun? Hatte der Exorzist Rapunzel seinerzeit besiegt – und wenn nicht, was wurde dann aus ihm? Warum kann Rapunzel nicht aus dem Schloss, wenn es sich dabei doch gar nicht um den Turm aus dem Märchen handelt? Hat Rapunzel in den letzten 320 Jahren geschlafen oder gemordet?

Nichts, aber auch gar nichts davon hat irgendeine Bedeutung. Es ist nur – wie bei ATOMIC EDEN – der Versuch, Elemente aus bekannten Vorbildern zu übernehmen ohne das geringste Verständnis dafür, dass sie in die Story eingeflochten werden müssen.

Um wieder mal ein schräges Bild zu bemühen: Wenn ich einen Kuchen backe und die Butter vergesse, wird der scheiße. Und ich kann nicht hinterher einen halbes Pfund Butter auf die armselige Backware legen und sagen “wieso? Butter ist doch da!”. Butter ist nicht Dekoration, sie ist Zutat. Und die Mythologie von Rapunzel müsste Zutat sein und nicht Dekoration.

Das sind alles keine Probleme, für die man ein brillanter Analytiker sein muss, um sie zu erkennen. Das sind “basics”. Jeder, der sich schon mal mit Drehbüchern beschäftigt hat, hätte sie sofort erkennen müssen. Es gibt keine Entschuldigung, ein derart unausgegorenes Skript, bei dem weder die Figuren noch der Plot stimmen, auch nur über die erste Fassung hinaus kommen zu lassen. Und damit sind wir wieder beim mangelnden Anspruch der deutschen Genrefilmer: ich glaube nicht, dass David Brückner die Defizite des Drehbuchs nicht gekannt hat. Ich glaube, dass sie ihm schlicht egal waren. Und DAS werfe ich ihm vor.

Das Ende des Films verdient angesichts seiner doppelten Dreistigkeit ein paar eigene Absätze. Zuerst einmal schafft es RAPUNZELS FLUCH, sich komplett um den Showdown zwischen der Heldin Alina und der Dämonin zu drücken. Im Endeffekt gelingt es Alina, an Rapunzel vorbei ins Freie zu laufen – und da Rapunzel das Schloss (nun plötzlich ein Turm – what?!) nicht verlassen kann, hat Alina “gewonnen” und geht heim. Nein, Rapunzel wird nicht vernichtet, der Tod mehrerer Freunde wird vermutlich unter Kollateralschaden abgehakt.

Das wäre für sich genommen schon RICHTIG scheiße und antiklimaktisch. Auf was läuft denn der Film hinaus, wenn nicht auf die große Konfrontation zwischen Heldin und Dämonin? Hätte Laurie Strode in HALLOWEEN einfach in ein Taxi steigen sollen, um sich vor Michael Myers in Sicherheit zu bringen? Ende Gelände, Schicht im Schacht?

Aber RAPUNZELS FLUCH setzt noch einen drauf. Eine Epilog-Szene impliziert nämlich entweder, dass Alina die Geschehnisse zu einem Drehbuch verarbeitet oder der Film nur Phantasie von Alina war, während sie das Drehbuch schrieb.

Das ist ein so unfassbarer “dick move”, der in keiner der beiden Interpretationen irgendeinen Sinn ergibt, dass man fast darauf wartet, dass die “Heldin” sich noch mal zum Publikum dreht, um ihm den Stinkefinger zu zeigen.

Und weil das Skript so schlecht ist, mag ich mich auch gar nicht mehr an der Regieleistung von David Brückner abarbeiten, der sowohl in der Inszenierung als auch im Schnitt erheblich zu viel Füllmaterial durchgehen lässt, der seinen Darstellern zu wenig echte Emotionen abfordert und bei Szenen, die gruselig sein sollen, mit einem “milde beunruhigend” zufrieden ist. Da fehlen die Eier, das Publikum wirklich mal zu schockieren oder wenigstens anständig zu erschrecken.

Es ist legitim, an dieser Stelle zu fragen, warum ich mich anscheinend mehr über RAPUNZELS FLUCH aufrege als z.B. über SKIN CREEPERS oder STUNG, die objektiv betrachtet deutlich schlechter, zynischer und inkompetenter sind. Da liegt aber auch der Schlüssel: David Brückner ist oft SOOOO nahe dran, einen wirklich brauchbaren Film abzuliefern und schießt sich dabei dennoch immer wieder in den Fuß. Mit DIESER Kamera, mit DIESEN Darsteller, mit DIESER Musik wäre der letzte Schritt zum “kleinen, feinen Gruselfilm” doch so einfach gewesen. Es ist alles vorhanden – hier nur mal ein paar Anregungen, die mir bei der Sichtung des Films in den Kopf flatterten:

  • Alina ist bestimmt, Rapunzel zu zerstören, weil damit die Blutschande ihres Vorfahren, der sich von der Dämonin hat verführen lassen, getilgt werden kann
  • Alinas Freund Thomas ist auf ihr Filmprojekt eifersüchtig, weil sein Konzept von der Hochschule abgelehnt wurde – was ihn anfällig für die dunkle Macht macht
  • Leo ist der Aufreißer vor dem Herrn, aber am Sukkubus Emily (die Rapunzel dient) beißt er sich die Zähne aus und triumphiert im Gegenteil dadurch, dass er ihr widersteht
  • Alina entdeckt durch die Schriften im Museum, dass die Dämonin die ursprüngliche Vorlage für das Märchen “Rapunzel” war
  • Im Finale erkennt Alina, dass Rapunzel nicht “besiegt” werden kann, sondern erneut in einem Turm eingesperrt werden muss – und dass in ihren Haaren der Schlüssel zur Macht liegt
  • Die Waffen ihres Exorzisten-Vorfahren helfen Alina, Rapunzel zu bannen
  • Im Epilog erkennt Alina, dass sie wohl doch lieber keine Horrorfilme drehen möchte

Es. Ist. Nicht. So. Schwer. Man muss nur wollen. Klar ist das nicht ganz so einfach zu schreiben wie “dann ficken die und die Frau reißt dem Mann die Kehle raus”. Aber big surprise: Drehbücher schreiben ist auch nicht einfach. Wie man sieht.

Ich gebe mich keiner Illusion hin: Meine wiederholte Aufforderung an den deutschen Horror-Nachwuchs, weniger in Splatter, Bildern und DVD-Vermarktungen und mehr in Figuren und Geschichten zu denken, wird natürlich ungehört verhallen.

Wie immer: Ich bin nicht doof, ich bin nur zu nett. Auch wenn David Brückner das ab heute vermutlich anders sieht… sorry not sorry.

Fazit: Ein technisch kompetent gemachter, aber inszenatorisch dünner und inhaltlich völlig entkernter Gruselfilm ohne Eier und Story.

P.S.: Wegen der Ähnlichkeiten scheint mir eine erneute Lektüre der Kritik zum Film OSTZONE angebracht.



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Dietmar
22. Juli, 2020 23:49

Ich kenne David Brückner nicht, und ich und meine Meinung werden ihm auch egal sein (kein Vorwurf). Aber diese Kritik ist ausgewogen, kompetent und fair, so wie ich das sehe. Wie gut der Film im Trailer aussieht sticht wirklich heraus. Alle Argumente leuchten ein und sind gut belegt.

Wäre ich David Brückner: Ich würde das ernst nehmen. Denn jemanden zu finden, der einem den Hintern küsst, ist weniger schwer, als man denken sollte. Jemanden zu finden, der kompetent kritisieren kann und dies fair und offen tut, ist wertvoll. Das sollte man erkennen.

Kastanie
Kastanie
23. Juli, 2020 07:20

Ähnlichkeiten mit OSTZONE? Ach meno 🙁

Maxiplus
Maxiplus
24. Juli, 2020 10:16

Leo ist “der Ficker”. Ich liebe Deinen furztrockenen Stil einfach. 😉
In punkto “pflichtschuldig topless gedreht” habe ich aber eine Frage an den Experten auf dem Gebiet: Mir ist schon in den 80er und 90er Jahren aufgefallen, dass eigentlich bei so ziemlich allen deutschen Filmen, völlig egal welchen Genres, immer irgendwo eine Pflicht-Tittenszene, oft sogar mit derjeweiligen Hauptdarstellerin, eingebaut war, ob nun grad passend oder nicht – und ich rede nicht von Sexkomödien. Nicht, dass mich das je gestört hätte, aber: Warum wurde das akzeptiert? Lüsterne Regisseure? Exhibitionismus? Gesetzlich vorgeschriebene Nippelquote? Oder schlicht auf Spanner abgezieltes Marketing (Hey, da kann man die Möpse von dieser Viva-Moderatorin sehen!)?
Ich möchte mich nicht beklagen, aber ich fand es jedenfalls immer super-offensichtlich, dass die Nacktszenen so gut wie nie durch künstlerischen Anspruch gerechtfertigt waren. Ich schaue aktuell kaum noch deutsche Filme, kommt man mit sowas bis heute tatsächlich noch durch?

Dietmar
24. Juli, 2020 22:29
Reply to  Torsten Dewi

Ich bin mir nicht so ganz sicher, dass Zuschauerinnen weibliche Nacktszenen schlicht egal sind. Es gibt Frauen, die das schön finden, ohne homosexuell zu sein. Und ich, nicht homosexuell seiend, finde es eher schade, wenn man Männer, die sich durchaus zeigen könnten, so, wie sie sich zeigen könnten, nicht zu sehen bekommt.

Aber all das, ohne grundsätzlich widersprechen zu wollen.

Dietmar
24. Juli, 2020 23:24
Reply to  Torsten Dewi

Ist mir klar. Aber I´m a nitpicking asshole. 🙂

Immerhin habe ich mir verkniffen, darauf hinzuweisen, dass es männliche Zuschauerinnen nicht gibt, sodass “weibliche Zuschauerinnen” … äh … ich hau´ mal lieber jetzt ab … 😉