14
Apr 2020

Filmverbrechen-Fotostory: DREHT EUCH NICHT UM – DER GOLEM GEHT RUM oder DAS ZEITALTER DER MUSSE oder: Der Titel ist zu lang

Themen: Film, TV & Presse, Fotostory, Neues |

Oh Mann, auf der Suche nach geeigneten Obskuritäten folge ich dem Weißen Kaninchen immer tiefer ins moderige Loch der Filmgeschichte. Es ist tatsächlich nicht so einfach, geeignete Kandidaten auszumachen. Man möchte meinen, die 70er-Werke von Siggi Götz (aka Rothemund) wären perfekt, aber selbst COLA, CANDY, CHOCOLATE ist handwerklich okay, schauspielerisch in Ordnung und frustrierend wenig sexistisch.

Der hier sieht angemessen deppert aus, aber bei Michael Pfleghar muss man immer damit rechnen, dass womöglich ein richtig guter Film dahinter steckt:

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Der hier steht schon länger auf meiner Liste, aber der betriebene Aufwand und die Besetzung lassen eher einen missratenen Langeweiler erwarten:

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Reife Ernte verspricht auch die “Komödie” DREI UND EINE HALBE PORTION mit zwei deutschen Spitzensportlern der 80er, Karl Dall und einer 16jährigen (!) Playmate, der wir diesen Ralph Siegel-Kracher verdanken:

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Oder gleich ganz hardcore zurück in die deutsche Nachkriegskomödie?

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Das Schlimmste ist: Um die Eignung zu prüfen, müsste ich mir diesen Kram erstmal tutti kompletti anschauen. Und dafür sind mir Zeit, gute Laune und Hirnzellen zu schade.

Weil ich aber gestern was zur sozialdemokratischen SF der liberalen Siebziger geschrieben habe, eröffnet sich mir die Möglichkeit, mein Fotostory-Format auch mal an einer moralinsauren Klassenkampf-Utopie zu testen.

Vorher wie immer etwas Kontext: Ich habe es sicher mehrfach schon erwähnt – in den 80ern war dieses Buch sowas wie die Bibel für uns Filmfreaks:

Hier konnten wir alles nachschlagen, von den Ray Harryhausen-Filmen über japanische Kaiju-Kracher bin hin zu obskuren deutschen TV-Stücken,. Dass die Autoren Hahn und Jensen dabei unheimlich viel Quatsch verzapften und neben Fehlern auch skandalöse Fehlurteile im Dauerfeuer raushauten, konnten wir mangels Vergleich nicht wissen. Wir hatten ja nix anderes. Wer mehr darüber wissen will, findet bei Astroalpha einen ziemlich guten Verrriss zum Buch und seinen späteren Neuauflagen – meinen kritischen Fragen wollte sich Autor Hahn vor ein paar Jahren ja nicht stellen.

Mittlerweile hat das Lexikon des Science Fiction-Films nicht mehr den Ruf einer Bibel, sondern eines spießigen Kompendiums verkopfter Spielverderber, deren Begeisterung für die Phantastik von erschreckenden Scheuklappen geprägt ist. Und dennoch: weil viele der Einträge bis heute anderswo kaum zu finden sind, hat sich eine Art Erbe des Buches gebildet und mit Leuten wie Doc Acula und mir kann man prima Zitate dreschen und so manchen Film wollen wir auch heute noch sehen, gerade weil er im Lexikon gnadenlos verrissen wurde. Das ist sowas wie ein Orden.

Und damit sind wir endlich bei DREHT EUCH NICHT UM – DER GOLEM GEHT RUM ODER DAS ZEITALTER DER MUSSE von Peter Beauvais aus dem Jahr 1971. Die Chance, etwas über diesen Zweiteiler in internationaler SF-Sekundärliteratur zu lesen, ist angemessen gering, nicht mal das sonst wahllose Lexikon des Internationalen Film verzeichnet einen Eintrag. Und weil dieses utopische Gedankenspiel SEHR selten wiederholt wurde, konnten wir nur hoffen, dass ihn jemand auf YouTube hochladen oder Pidax sich eines Tages erbarmen würde, diese Obskurität auf Scheibe zu bannen. Eh voilà! DER GOLEM ist dem Mahlstrom des Vergessens entrissen!

Wer keine Spoiler will, sollten diesen Trailer allerdings NICHT schauen:

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Okay gehen wir frisch an die Sache ran – Aufblende! Ein Schriftzug, den man in den 70ern sicher für futuristisch gehalten hat, vor einer Art Bildschirmschoner:

Weil sich Beauvais und der SWF vermutlich nicht einigen konnte, wie das Kind heißen soll und FUTURE MIND WAR damals keine Option war, gibt es gleich eine weitere Einblendung. Ich gestehe – mit DAS ZEITALTER DER MUSSE kann ich im Kontext der folgenden Handlung wenigstens etwas anfangen:

Hier rächt sich, dass der Schriftzug kein ß kennt – als kleiner Steppke hätte ich das “musse” sicher nicht wie Muße, sondern wie Russe gelesen. Verwirrung!

Wir beginnen sehr trendy mit einer Rahmengeschichte. Bürger Sig Prun muss sich vor dem kybernetischen Computersystem verantworten, das die Welt regiert. Insgesamt der überzeugendste Shot des gesamten Films und fast schon kubrick-esk:

In einer Art drehbarem Verhörstuhl soll Prun (oder auch”Weltbürger D-A-R-K 70 35 72 01″) erklären, wie es zu einer Revolution im Komplex Antwerpen/Ruhr kommen konnte.

Wir springen sogleich ein paar Jahre zurück und bekommen erstmals einen Einblick in die Welt des Jahres Zweitsausendeinhundertschlachmichtot. Ein friedlicher Weltstaat ohne Armut, aber genau deswegen auch ohne Arbeit. Das Volk wird, damit es keinen Unfug anstellt, mit zugeteilten Freizeitvergnügen beschäftigt, die weder Sinn noch Ergebnis bringen. Die Zeit totschlagen ist das oberste Prinzip dieses pastellfarbenen Utopias, in dem Einheitskleidung endlos recycelt wird und Getränke aus allgegenwärtigen Schläuchen genuckelt werden. Man räkelt sich in kunstoffenen Wohneinheiten, die mit Flokati und Frottee ganz im Stil der 70er eingerichtet sind – ihr erinnert euch vermutlich, was ich gestern über die Fähigkeit geschrieben habe, sich vom ästhetischen Empfinden der Gegenwart zu emanzipieren?

Der erste Anblick ist kein unangenehmer – die sehr knackige Hannelore Elsner pinselt sich ein Deko-Element auf den nackten Bauch. Als Teil des Harems von Sig Prun hat sie den lieben langen Tag ja auch sonst nichts zu tun:

Wir lernen durchaus schnell und effizient, wie diese Welt funktioniert – überall hängen riesige Monitore an der Decke, die neben abstrakten Motiven auch die Nachrichten der kybernetischen Weltregierung übertragen:

Sig Prun kommt heim, seine drei Damen stürzen sich lüstern auf ihn – doch hach, der Libido mag er nach SO EINEM Tag keinen Platz einräumen:

“Kosmos, bin ich fertig. Ich habe die IC nicht erwischt. Musste eine von diesen langsamen Dingern nehmen – Zwischenlandung in Paris! 14 Minuten von Bilbao bis hierher!”

Es ist zugegeben ein bizarrer Anblick, wie der “Mann der Zukunft” über das letzte bisschen Arbeit jammert, die Avancen dreier Schönheiten zurückweist und an einem Gumminippel nuckelt. Zumal Sig Prun Glück hat: mangels Arbeit wird die Arbeitszeit für die letzten verbliebenen Werktätigen auf eine Stunde reduziert – pro Woche. Da bietet es sich an, stattdessen über den Kinderwunsch nachzudenken, der in dieser Welt natürlich auch stark reglementiert ist. Prun und seine Mädels besteigen ein hyperschnelles Transportgefährt, das ebenfalls so aussieht, als hätte es Hugh Hefner Ende der 60er eingerichtet – “shag carpeting” nannte man das in den USA:

Leider sind die Nachrichten vor Ort schlecht – eine Fortpflanzungsgenehmigung wird nicht erteilt, weil Prun nicht die gewünschten überlegenen Gene besitzt. Ein tiefer Schlag in die Magengrube seines Egos – und nichts, was sich angesichts der Gespielinnen nicht auch ohne behördliches Einverständnis unterlaufen ließe:

Tatsächlich zeugt Prun mit Ehmi ein Kind, das – wie üblich – mit Hilfe einen affenartigen HI (Halbintelligenzlers) aufgezogen und vor der Obrigkeit versteckt wird.

An dieser Stelle lässt die Geschichte trotz der Laufzeit von fast 2 Stunden und 15 Minuten einige Lücken. Der Junge Botho (ausgesprochen “Boso”) wächst von einer Szene zur nächsten auf, anscheinend immer in einem versteckten Zimmer gehalten und von HI Willi mehr schlecht als recht erzogen, weil er keinen Zugriff auf die Bildungscomputer hat. Seine Mutter Ehmi zeigt kein nennenswertes Interesse an dem Jungen und mit der Geheimhaltung ist das wohl auch eher so eine theoretische Sache, denn man zeigt Botho sogar vergleichsweise flüchtigen Bekannten.

Während Sig von einem Freizeittermin zum nächsten hetzt, bekommen wir auch ein wenig vom Future-Tech von DER GOLEM zu sehen – ein Armreif, der als Handy und ständiger Zugriff auf die kybernetische Weltregierung dient:

Man könnte an dieser Stelle einwerfen, das die Kostümierung und das ewig gleiche Styling der Figuren langweilig und einfallslos aussieht, aber da gestehe ich Beauvais zu, dass DER GOLEM ja eben eine ent-individualisierte Welt zeigt, in der sich alle unter das Diktat des generischen Massenprodukts begeben haben. Individueller Stil würde individuelles Denken verlangen – und das ist verpönt.

Auch das übrigens keine schlechte Idee: ihren Überschuss an Emotionen bauen die Menschen in der Zukunft im Simulationen ab, die ihnen über eine Art transparente Kopfhörer direkt ins Gehirn eingespeist werden. “Strange Days”, indeed:


Vom Erfinder dieser Technik bekommt Prun Zugriff auf einen experimentellen Lerncomputer – wir erfahren hier, dass Botho seit satten 21 Jahren in seinem Zimmer unentdeckt geblieben ist.

Leider lernt Botho schneller und mehr, als geplant war – seine Fragen kann der überforderte Sig Prun bald nicht mehr beantworten, vor allem, wenn es um die Autonomie der Halbintelligenzler geht.

Mittlerweile sollte evident sein, dass DER GOLEM sich nicht als Effekt- oder Ausstattungsfilm begreift – der Blick aus dem Fenster erinnert weniger an BLADE RUNNER als an die SESAMSTRASSE:

Ja, das soll der Kölner Dom sein, der da als schwarzweiße Fotokopie auf Pappe zwischen ein paar “Hochhäusern” aus Plastikwürfeln steht. Für ein Matte Painting oder einen Greenscreen wollte man hier augenscheinlich kein Geld ausgeben. Das paart sich mit dem totale Mangel an Außenaufnahmen zu einer klaustrophoben, artifiziellen Atmosphäre, die so gewollt wie desorientierend ist.

Botho wird zunehmend wütend, weil der Computer ihm entweder keine Auskunft geben kann oder will – historische Daten sind nicht gespeichert:

Es stellt sich heraus, dass auch Halbintelligenzler Willi von der Maschine profitiert. Er stellt Fragen weit über seine reduzierte Existenz hinaus.

Damit endet der ziemlich exakt eine Stunde dauernde erste Teil. Teil 2 ist mit einer Viertelstunde mehr Laufzeit ausgestattet. Das hängt leider primär damit zusammen, dass wir Bodo satte 20 Minuten dabei zusehen, wie er – aus dem Zimmer ausgebrochen – seine Welt erkundet. Was bedeutet: er latscht passiv durch die Gegend und schaut überall mal rein.

Wir beginnen mit einer überlangen Sequenz, die einen weiteren Teil dieser Gesellschaft illustrieren soll – alte Menschen, die sich noch an Arbeit erinnern können, werden mit einem bingo-artigen Glücksspiel ruhig gestellt, bei dem man auf das Ableben anderer Zeitgenossen wetten kann. Dafür bekommt man dann auch “Punkte” (wobei der Zweiteiler nie genau erklärt, wofür diese Punkte gebraucht werden). Es stellt sich heraus, dass manche Spieler schummeln und dem Ableben ihrer Mitmenschen Vorschub leisten, um ihren Punktestand zu erhöhen.

Botho erlebt nun auch, wie körperliche Ertüchtigung aussieht – banale Low Impact-Gymnastic, die vor allem darauf ausgelegt ist, Zeit zu schinden und keinen nennenswerten Trainingseffekt zu haben, der die Menschen zu aktiv macht.

Wissen im Sinne von Formeln und Fakten wird nur noch für triviale Spiele verwendet, die keinerlei Fortschritt oder Lerneffekt anstreben:

Und schließlich schaut Botho auch noch in einem Kindergarten vorbei, in dem erneut alle Spiele nur dem tumben Zeitvertreib dienen und keine motorischen und intellektuellen Fähigkeiten fördern sollen. Spontan baut Botho aus Schaumstoffteilen eine Brücke, die von den Kindern begeistert angenommen wird, was die Erzieher schwer verunsichert.

Die Erzieher sind übrigens Dietrich Mattausch, der später satte 31 Jahre lang den Chef vom FAHNDER spielen sollte – und Helga Feddersen, die deutsche Ulknudel, die 1990 an Krebs verstarb.

Ich weiß, es ist an dieser – und vielleicht an jeder – Stelle unangebracht, aber angesichts des Screenshots oben wurde ich an einen Witz erinnert, der in den 80ern über sie kursierte: “Ich sollte Helga Feddersen neulich das Bundesverdienstkreuz an die Brust heften – Mann, da musste ich vielleicht lange suchen!”

Tatäää! Tatäää! TaTÄÄÄ!!!

Fakt ist aber, dass Helga Feddersen hier in einer vergleichsweise kleinen Rolle eine ziemlich hochkarätige Performance abliefert als Frau, die nur gelernt hat, Anweisungen zu gehorchen und die auf eine Abweichung vom System mit Panik und Verstörung reagiert.

Zwischen Botho und Willi ist es mittlerweile zu einer Machtverschiebung gekommen – der Halbintelligenzler nötigt die Schwarzgeburt, sein Wissen mit ihm zu teilen:

Botho gibt sich alle Mühe, aber Willi hat Fragen, die das System erneut nicht beantworten kann oder will. Es ist weder auf Kritik noch auf Skepsis vorbereitet.

Derweil kommt es wegen der Aktion von Botho im Kindergarten zu ersten Aufständen. “Was machen” wird auf einmal wieder ein erstrebenswertes Ziel, und auch unter den Alten formiert sich Widerstand gegen das programmierte Hinleben bis zum Tode.

Botho, immer stärker nach Antworten suchend, macht sich mit Willi auf den Weg in die Katakomben des einzigen Gebäudes, das nicht aus der “schönen neuen Welt” stammt – den Kölner Dom:

Hier trifft er auf einen Abtrünnigen, der Holz mit einem Hobel bearbeitet – er verspürt einen Sinn in der Aufgabe, der den Menschen seiner Zeit abhanden gekommen ist.

Es zeigt sich allerdings, dass auch er nur blind wütet – ohne eine Ahnung, was die Bearbeitung von Holz für ein Ziel hat, hobelt er die Bretter, bis nur noch Späne bleiben.

Botho und Willi finden ein altes Buch und Pläne, die einen ungeheuren Schluss zulassen – der Dom ist einst von den Menschen in Handarbeit errichtet worden!

In der Stadt hat sich derweil ein weiterer Kult gebildet, der auf seine Weise gegen das lebens- und lustfeindliche System protestiert: Im Masozynismus züchtigt man sich selbst mit der Peitsche, um etwas – irgendetwas – zu spüren:

Das System gerät ins Wanken. Die Jungen wollen etwas erschaffen, die Alten wollen nicht ewig leben, und die Masozynisten sehen ihr “Vergnügen” ganz anders als das kybernetische Superhirn. Erstmals bricht so etwas wie “Chaos” aus:

Das System versucht, gegenzusteuern, wiegelt ab, macht Versprechungen und zeigt anhand alter Aufnahmen, wie mühsam die Lohnarbeit vorheriger Jahrhunderte war:

Der Versuch geht nach hinten los: Die Menschen hungern nun noch mehr nach einem Sinn im Leben und die Masozyniker sehen gar keinen – sie planen, sich en masse mit langen Nadeln in die Schläfen umzubringen.

Das System gibt scheinbar nach, reduziert die Lebenszeit auf 120 Jahre, was zumindest die Alten wieder beruhigt. Außerdem soll eine durch Chemikalien ausgelöste Reduzierung der allgemeinen Intelligenz den Drang zum Aufruhr dämpfen. Tatsächlich lassen sich fast alle begeistert darauf ein.

Fast alle. Die Halbintelligenzler sind gegen die Chemikalien immun, schließen sich erstmals zusammen und bilden unter der Anleitung von Botho so etwas wie ein organisiertes Proletariat mit politischer Ausrichtung.

Zu dieser “von unten”-Bewegung stößt auch Sig Prun, der nach seinem Geständnis vom System zur Strafe ebenfalls in einen Halbintelligenzler verwandelt wurde.

The End

Vielleicht kann ich es so sagen: DER GOLEM ist trocken Brot, aber erstaunlicherweise kein hartes. Klar ist das hier Konzept-Science Fiction ohne Interesse an Action oder Effekten, aber in ihrem begrenzten Rahmen bleibt die Inszenierung immer in Bewegung, es werden viele Darsteller bedient und am Ende steht tatsächlich eine diskussionswürdige Botschaft – so überholt sie auch sein mag. Die meisten TV-Produktionen der 70er wurden ungleich lethargischer und richtungsloser dargeboten.

Der SPIEGEL widmete dem Zweiteiler seinerzeit einen ausführlichen, sehr wohlwollenden Artikel, in dem die Beteiligten versichern durften, dass das alles nicht nur eitle Spekulation sei, sondern  – doch, doch – auf genauen Vorhersagen beruhe. So äußerte sich Architekt Günther Naumann:

“Unser Film ist kein Produkt der Phantasie, sondern das Ergebnis von Recherchen”.

Mit jedem Jahr, das wir uns von der Herstellung des Films entfernen und der Zeit seiner filmischen Wirklichkeit nähern, wird diese Aussage alberner. DER GOLEM ist dem Zeitgeist seiner Entstehung so sehr unterworfen, dass er als Utopie schon in den frühen 80ern überholt gewesen sein muss. So wie die Schlaghosen, Schwarzweiß-Monitore und Frisuren von MONDBASIS ALPHA eben kein Produkte des neuen Jahrtausends, sondern der polyester-affinen 70er waren.

Selbst wenn wir die Ästhetik und die behäbige Inszenierung im Telekolleg-Stil subtrahieren, kann DER GOLEM seine Herkunft in keiner Sekunde verleugnen: der manierierte Stil des Schauspiels, die gewichtig deklamierten Dialoge, die politische Oberlehrer-Attitüde – das atmet den Geist von ABBA und Dalli-Dalli.

Und darum sind die Vergleiche, die man ziehen kann, ebenfalls Filme der 70er: FLUCHT INS 23. JAHRHUNDERT natürlich, aber auch ZPG – GEBURTEN VERBOTEN. Wobei DER GOLEM gegen diese natürlich abstinkt, weil er eben doch stoffeliges sozialdemokratisches Fernsehen ist und nicht krachendes Action-Kino nach amerikanischem Muster. In seiner Utopie und seiner technischen Reduktion werden außerdem Erinnerungen an die Fernsehverfilmung von Samjatins “Wir” wach. Literarisch sehe ich auch eine Verwandtschaft zu Kurt Vonneguts “Harrison Bergeron”.

Man möchte es sich in der Rückschau leicht machen und den Zweiteiler für seine politische Naivität und Durchschaubarkeit schelten, für den Halbaffen als das Proletariat, für das Bürgertum als dekadentes Leergut. Aber das entsprach dem politischen Selbstverständnis von Machern und Sender, das entsprach auch dem vielfach beschworenen Zeitgeist. Es war die Ära Willy Brandt, der späten Studenten-Proteste, der neuen Lebensmodelle. DER GOLEM kann nur – wie ich bereits ausgeführt habe – als Produkt seiner Zeit gesehen und verstanden werden.

Was die Plausibilität seiner Utopie angeht, da ist der Zweiteiler völlig betriebsblind – und ich setze mich gerne in die Nesseln, ihn dafür in eine Reihe mit Orwells “1984” zu stellen. Im letzten Jahrhundert war man eben überzeugt, die Zukunft bedeute Diktatur und Unterdrückung von oben, die Gleichschaltung der Menschen, den Verlust von Identität und Freiheit. Utopie war eigentlich immer Dystopie.

Dass die Menschen verspielt sind, dass sie sich gerne unterwerfen, dass man sie nicht unterdrücken, sondern nur ablenken muss, dass die Macht vom Markt, nicht vom Staat ausgeht – all das sind primär Erkenntnisse unseres, des neuen Jahrtausends. Und darum würde ich es für unredlich halten, DER GOLEM den Mangel dieser Einsichten vorzuhalten. Er bedient sich der zukünftigen Modelle, die man 1971 für plausibel hielt. Was hätte er auch anders tun sollen?

So bleibt DER GOLEM ein vielleicht hüftsteif inszeniertes und in seiner Vision augenblicklich veraltetes Stück Anspruchs-Fernsehen mit erhobenem Zeigefinger, ds man prima überheblich verhöhnen kann. Aber er ist eben auch ein faszinierendes Kind einer Zeit, in der man den Zuschauer zum Nachdenken und zur politischen Auseinandersetzung provozieren wollte und dabei nicht nach Schauwerten oder dem kleinsten gemeinsamen Nenner schielte.

P.S.: Weil wir oben schon über das Lexikon des Science Fiction-Films gesprochen haben, schauen wir uns doch zum Abschluss mal deren Eintrag zu DER GOLEM an:

Das ist nicht in allen Details richtig, aber ich gestehe, dass ich die Kritik von Helmut Magnana vorbehaltlos unterschreiben würde – nach etwas Recherche würde ich von dem Mann auch noch sehr gerne seine Essay-Reihe “Die Science Fiction und das Sex-Problem” lesen, die in der Romanheft-Serie TERRA ASTRA 1974 erschienen ist.



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Dsfargeg
Dsfargeg
14. April, 2020 17:21

“Die Tote von Beverly Hills” habe ich vor (sehr) vielen Jahren mal auf 35mm gesehen. Meine einzige konkrete Erinnerung ist die an Zwillingsschwestern (?) im Showbiz, die als die “Titty Sisters” auftreten. Der Film ist (aber man nagle mich nicht darauf fest, die Sichtung ist bald zwanzig Jahre her) kompetent gemacht und ziemlich kurzweilig, definitiv keine peinliche Trashrakete.

sergej
sergej
14. April, 2020 18:33
Reply to  Dsfargeg

Tiddy Sister sagt die imdb
Titty Sisters kamen erst in den Lederhosen-Bums-Filmen

takeshi
takeshi
14. April, 2020 17:56

Danke für den Link zu Astroalpha. Ich wusste, dass ich diese Kritik, der ich voll und ganz zustimme, vor langer Zeit einmal irgendwo gelesen hatte, fand sie aber nicht mehr wieder, als ich sie suchte.

Bis ich mich vor einigen Monaten von ca. 12 Regalmetern an Filmbüchern getrennt habe, hatte ich das Lexikon des Science Fiction Films neben diversen anderen Filmlexika, neben der fast vollständigen Heyne Filmbibliothek und neben dem ursprünglich 10-bändigen und dann mehrere Jahre mit Ergänzungsbänden aktualisierten Lexikon des Internationalen Films ebenfalls hier im Regal stehen.
Letzteres war zu Beginn der 90er quasi mein Kronjuwel und – wenn ich mich recht erinnere – im Februar 1990 in Berlin für satte 100 Mark gekauft worden.
Es gab damals kein vergleichbares umfangreiches Werk, in dem man, nachdem man die TV-Zeitschrift seiner Wahl nach interessanten Filmen durchgeackert hatte, vorab soviel Informationen betreffend Stabangaben, einen sehr kurzen Storyabriss und eine kurze Einschätzung fand. Letztere allerdings immer gern geprägt vom Geist des Katholischen Filmdienstes. Und hier galt für mich auch oft die Devise, die du oben angesprochen hast:
Wird der Film im Lexikon verrissen, ist er oft erst recht interessant.
Und wenn gar in den Stabangaben, die für mich meist der wichtigste Indikator waren, Namen wie Michael Ballhaus als Kameramann, oder Wolfgang Menge beim Drehbuch auftauchten, dann konnte der Verriss noch so schlimm sein; der Film wurde um so freudiger erwartet.

Dietmar
14. April, 2020 19:53

16jährigen (!) Playmate

Das gab´s?! Ich habe dunkel in Erinnerung, dass sich da mal ein Mädchen altersmäßig hingemogelt hat. Ist die gemeint?

Dietmar
14. April, 2020 22:09
Reply to  Torsten Dewi

Buchfellner! Ja, da klingelt etwas. Danke!

Dietmar
14. April, 2020 22:15
Reply to  Torsten Dewi

Die kommt ausgesprochen sympathisch rüber: https://www.vol.at/vor-30-jahren-musste-man-erotische-fotos-anstoessig-finden/5260049

Was wünscht du dir für die Zukunft?

Natalie Moosmann: Bildung! Das ist das Allerwichtigste. Wir hoffen, dass die Kinder und Jugendlichen, welche eine Ausbildung genießen, die Kraft und den Mut bekommen, die Zukunft ihres Landes zu verändern!

Klasse.

Squirrelius
14. April, 2020 22:46

Hahn und Jansen brrrrrrr fürchterlich die 2. Habe mir vor Jahren mal deren Lexikon der Horrorfilms auf nem Flohmarkt gekauft und war negativ überrascht. Da merkt man beim Lesen durchgehend, das die Autoren Horrorfilme nicht mögen. Alles außer Universal, Hitchkock und den deutschen Expressionisten- Filmen ist alles Müll, minderwertig, faschistoid etc. pp.
Da bin ich irgendwie froh, das ich mich damals eher durch Magazine über Filme (Horror und Splatter war damals mein Ding) informiert habe. Wobei die da auch viel Lobhuddelei betrieben haben (gerade bei Fulci und Argento).

takeshi
takeshi
15. April, 2020 08:04
Reply to  Squirrelius

“Wobei die da auch viel Lobhuddelei betrieben haben…”
Das lief ja im Bereich Mainstream mit der CINEMA nicht anders.
Die waren für mich immer das Negativbeispiel des Filmjournalismus.
Oft unerträgliche Lobreden, verbunden mit dem Verrat von Plottwists, ein paar eingestreuten Oben-Ohne-Bildern und Null-Analysen.
Deren Themenhefte fand ich auch nur graduell besser.

Dirk
15. April, 2020 08:46

Ich habe gerade in den Blu-Ray New Releases das Schätzchen “Captain Kronos: Vampire Hunter” gefunden, von 1974. Mit Caroline Munro (aus Der Spion der mich liebte). Ist von Hammer FIlms, also zu erwartende B-Ware. Ich fand nur den Namen so lustig, ob er was taugt, da hab ich keine Ahnung.

Mencken
Mencken
15. April, 2020 09:12
Reply to  Dirk

Der ist richtig gut, auch eines der Projekte von Brian Clemens, wenn ich mich richtig erinnere. Auf jeden Fall kein Trash oder B-Ware.

trackback
10. Juli, 2022 17:17

[…] wissen mehr. Der Zweiteiler spielt natürlich nicht im Jahr 2000. Und es heißt "einem Ausblick" und […]