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Jan 2018

Fantasy Filmfest White Nights 2018: Let the corpses tan

Themen: FF White Nights 2018, Neues |

Frankreich/Belgien 2017. Regie: Hélène Cattet, Bruno Forzani. Darsteller: Elina Löwensohn, Stéphane Ferrara, Bernie Bonvoisin, Hervé Sogne, Marc Barbé u.a.

Offizielle Synopsis: In einem verfallenen Gemäuer mit Meerblick treffen aufeinander: eine Künstlerin und ihre beiden Lover auf der Suche nach Inspiration, drei scheinbar arglose Touristen, ein brutales Gangstertrio und zwei Motorradcops. Ohne Rücksicht auf Verluste gehen sie aufeinander los im Kampf um Leben und Tod – und um 250 Kilo reinstes Gold.

 

Kritik: Ich bin mit dem Regie-Duo Cattet/Forzani am Scheideweg – nach dem großartig konsequenten “Amer” und dem ebenso konsequent vergeigten “The strange colour of your body’s tears” müssen die beiden nun beweisen, ob sie als One Hit Wonder abgehakt oder als europäische Kino-Hoffnung bejubelt werden dürfen. Eins ist mal sicher: Opake Titel und grandiose Poster können sie immer noch.

“Corpses” erzählt eine kleine, hässliche Trash-Geschichte auf Pulp-Niveau – kein Wunder, denn das Drehbuch basiert auf einem Roman des Exzentrikers Jean-Pierre Bastid. Es geht um einen Überfall auf einen Goldtransport, um einen zu heißen Tag auf einem kargen Fels am Meer, um unbezahlte Rechnungen und die Erkenntnis, dass Verbrechen sich nur für den lohnt, der am Ende übrig bleibt. Keiner kommt hier lebend raus…

Es ist durchaus schön, dass Forzani/Cattet sich diesmal an so etwas wie einer stringenten Geschichte versuchen, dass sie Schießereien inszenieren und eine schmierige Art von Action, die an den italienischen Trash-Thriller der 70er erinnert, besonders an Bavas “Rabid Dogs”. Die Männer sind allesamt verschwitzte Knittergesichter, die Frauen nackt unter Sommerkleidern. Leben ist hier so hässlich wie Sterben, Sex mit einer Frau ist wie Sex mit einer Schweinehälfte.

Das würde reichen. Die drückende, schwüle Atmosphäre, die wechselnden Loyalitäten, das Gold als die lockende Göttin, die sich begrapschen lässt, nur um dann lachend auf die armseligen Räuber zu pissen – das wäre genug Material für einen mediterranen, blutigen Reißer ohne Gefangene.

Aber Cattet und Forzani können es nicht lassen. Der ganze Film ist ein hektischer Wirbel aus Schnitten, Zeitsprüngen, Nahaufnahmen, Filtern, Dopplungen, Symbolen. Filmische Stilmittel sind für die beiden keine Werk- sondern Spielzeuge. Und an einem langen Tag im Schnitt muss irgendwie ALLES reingepackt werden. Sie belichten und bearbeiten Zelluloid nicht, sie zerstückeln und reanimieren es wie ein frankensteinsch’es Monster.

Immer noch ist das bevorzugte Geräusch, der absolute Fetisch des Regie-Duos das knarzende Leder. Es überlagert alles, von den Dialogen bis zum Soundtrack.

Die meisten minderbegabten Regisseure wie Mickey Keating verstecken die Leere ihrer Geschichten hinter Budenzauber. Forzani und Cattet verstecken ihre durchaus potente Erzählung. Hier wird versteckt, was gar nicht schamvoll versteckt werden müsste. Statt den straffen Plot zu stützen, wird er mit Effekten erwürgt.

Fazit: Eine potenziell interessante Hommage an den Italo-Reißer der 70er wird zu Tode inzeniert. Forzani und Cattet beweisen erneut, dass sie keine starken Erzähler sind, sondern sich in Kunststudenten-Kino flüchten, das den Erstling “Amer” wie einen glücklichen Unfall wirken lässt. Den Darstellern zuliebe noch 4 von 10 Punkten.

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Das Grummeln der Kinosaurier

Markus Nowak: “Grober Unfug, dem ich immerhin attestiere, dass er versucht, eine Geschichte zu erzählen, aber es ertrinkt dann doch wieder alles in ödem Kunstgewichse…”

Philipp Seeger: “Immer dann gut, wenn er sich mit seinen Kameraspielereien zurückhält und wirklich seine Geschichte zu erzählen versucht. Leider passiert das zu selten.”



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Marcus
Marcus
22. Januar, 2018 15:25

Hier werden wir uns nicht einig – ich fand den super. Er hat eine packende Story, er liefert einen düsteren, zynischen Italo-Ballerfilm-Reißer, und der Giallo-Kunst-Fetisch, den die Macher haben – ja mei, es kommt halt darauf an, ob einem sowas gefällt oder nicht. Ich fand es toll und keine Sekunde langweilig, aber ich kann durchaus verstehen, wenn das anderen Leuten gar nichts bringt. Von mir: 8/10.

Manu
Manu
22. Januar, 2018 15:39

Das war klar, dass das dem Wortvogel nicht gefallen wird. Ich finde ihn dagegen super, auch mit dem ganzen Fetisch-Kunst-“Gewichse”, wahrscheinlich gerade sogar deshalb. Weil ich Inszenierung/Form ebenso wichtig finde wie Geschichte – bei manchen Künstlern steht sie (wie hier) im Vordergrund. Aber das muss man auch mögen und ich schließe mich Marcus (Stiglegger?) an: “ich kann durchaus verstehen, wenn das anderen Leuten gar nichts bringt”.

Manu
Manu
22. Januar, 2018 16:00
Reply to  Torsten Dewi

Ist es auch. 🙂 Wollte nur meine Sicht der Dinge kurz kommentieren.
Mein Hauptgrund, des Vogels Reviews zu lesen, besteht ja nicht darin, Übereinstimmung zu finden, sondern (andere) Aspekte zu sehen und die fantastische Schreibe zu genießen.

Manu
Manu
22. Januar, 2018 19:07
Reply to  Torsten Dewi

Als Warnung sehe ich das nicht. Nach all den Jahren (des Mitlesens) kennt man aber schon den Geschmack und ich meinte zu meinem Sitznachbarn (dem Zombie): Ein Film, den der Dewi hassen wird. Ok, ganz so schlimm fiel das Urteil jetzt nicht aus. 😉
Es geht ja auch um persönlichen Geschmack und wie man den erklärt. Ich kann oft/immer nachvollziehen, warum dem Vogel etwas nicht gefällt, und darum geht es ja bei Reviews.

Marcus
Marcus
22. Januar, 2018 17:14
Reply to  Manu

Nein, nicht Stiglegger. 🙂

Peroy
Peroy
22. Januar, 2018 18:51

“Leben ist hier so hässlich wie Sterben, Sex mit einer Frau ist wie Sex mit einer Schweinehälfte.”

Satz des Jahres.

Jake
Jake
29. Januar, 2018 15:43

„The strange color of your body’s tears“ noch in unguter Erinnerung, rechne ich “Let the corpses tan” hoch an, dass er in weiten Teilen eine nachvollziehbare Handlung aufweist. Trotzdem – für meinen Geschmack immer noch zu viel “Kunstgewichse” (treffender Ausdruck, Markus). 5/10

Thies
Thies
30. Januar, 2018 17:18
Reply to  Jake

Positiv: Die Handlung gibt dem Zuschauer (im starken Kontrast zum Vorgänger) ein Gerüst um die visuellen Eindrücke einordnen zu können. Der Einsatz von Großaufnahmen, Bildverfremdungen und Filtern und die Auswahl der Musikstücke ist wie immer exquisit.

Negativ: Die Handlung tritt nach kurzer Einführung nur auf der Stelle. Im Grunde genommen beginnt nach der Einführung und dem Raub ein Belagerung-Szenario mit wechselnden Fronten. Das hätte trotzdem ein spannender B-Film werden können, aber dafür hätte es einen entsprechenden Erzähler gebraucht. Und die Regisseure sind an allem möglichen interessiert, aber nicht an einer nachvollziehbaren Handlung. Zeiteinblendungen dienen nicht der Information sondern sind nur ein Stilmittel mit dem man lustig herumspielen kann; selbst Tarantino geht mit seinen willkürlichen Brüchen innerhalb der Handlung sparsamer um.

Fazit: Kein Rausch wie “Amer”, aber auch kein Härtetest für das Gesäß wie “Strange Colour”. Und das Leit-Thema “Suny road to Salina” ist sofort auf meinem MP3-Player gelandet. 6/10

Edit: ich merke beim Nachlesen der Kritik des Wortvogels, dass seine Argumente irgendwie in meinem Unterbewusstsein gelandet sind und von mir nur anders geordnet wiederholt wurden. Mea culpa für diesen geistigen Diebstahl.