Lese(r)kritik: Der (un)erfreuliche Rechtsrutsch des SPIEGEL
Themen: Film, TV & Presse, Neues |Es ist mal wieder ein wenig Vorgeschichte nötig. Ich habe den SPIEGEL Mitte der 80er zu lesen begonnen. Damals bekam ich die gesammelten alten Ausgaben immer von meinem Großvater (und ausgelesene Playboys von meinem Vater, aber das ist eine andere Geschichte). Am Kiosk neu kaufen konnte ich mir mit 8 Mark Taschengeld im Monat nicht leisten. Warum ausgerechnet mein knochenkonservativer und politisch nur mäßig interessierter Opa das Hamburger Nachrichtenmagazin las, verstehe ich bis heute nicht. War mir aber damals und heute egal.
Der SPIEGEL hat, und das kann man nicht genug betonen, mein Verständnis zu Staat, Kirche und Journalismus geprägt. Bei uns daheim gab’s sonst nur den Düsseldorfer Express und das war kein Ausgleich. Vom SPIEGEL habe ich gelernt, wie man "kritisch links" denkt, dass wir alle dem Strahlen/Öko-Tod geweiht sind, und dass Kohl politisch am Ende ist (ab 1982 aufwärts). Ich habe alles über die SPIEGEL-Affäre von 1962 gelernt, die nie ohne den in Klammern gesetzten Titel der auslösenden Ausgabe genannt wurde ("Bedingt abwehrbereit") und selten ohne das Bild vom verhafteten Augstein auskam. Und natürlich Hitler – der Dauerbrenner im SPIEGEL.
Die Vermischung von Meldung und Meinung, die tiefgehenden Analysen, aber auch die teilweise peinlichen Patzer in Sachen Trivialkultur – alles SPIEGEL. Mit Genuss habe ich verfolgt, wie sich Augstein nicht nur in Sachen Wiedervereinigung mit dem New York Times-Kolumnisten William Safire balgte (auch wenn Augsteins Essays teilweise unlesbar waren). Der SPIEGEL stand immer für etwas: politisch richtig, kritisch, stramm, ungebrochen, links. Aber natürlich nicht linksradikal, denn gegen die RAF war man ebenso wie gegen die PDS. Wenn es jemals etwas gegeben hat wie staatstragende Systemkritik, dann kam sie vom SPIEGEL, der als Gegengewicht in der Balance politischer Kräfte zum Erhalt der Bundesrepublik Deutschland beitrug. Er war nie nur das "Sturmgeschütz der Demokratie" – er war das "Sturmgeschütz der herrschenden Ordnung" – gerade weil er auch die schwächsten SPD-Kanzlerkandidaten tapfer gegen die regierenden CDU-Kanzler in Stellung brachte.
Ich war auch von Anfang an dabei, als der SPIEGEL seine Marke erweitert hat. SPIEGEL TV war für mich viele Jahre Pflichtprogramm und ich habe heute noch einen ganzen Packen "Spiegel special"-Hefte im Keller – ein Projekt, das an der Problematik jeder monothematischen Publikation litt, die Leser für immer neue Themen erneut zu mobilisieren. Ich besitze auch noch die erste und einzige gedruckte Ausgabe von "Eines Tages", dem SPIEGEL-Selberschreibprogramm für ambitionierte Leser. Für meine ersten 15 Jahre im Internet war spiegel.de meine unverzichtbare Startseite.
Die Zeiten haben sich geändert.
Wirtschaftlich schwächelt der SPIEGEL, wenn auch nicht ganz so dramatisch wie Teile der Konkurrenz. Viele Projekte, darunter die "SPIEGEL special"-Ausgaben sowie das kürzlich getestete "Fernsehen", wurden eingestellt. Ich behaupte, dass die Hälfte der Leser die aktuellen Chefredakteure nicht mehr nennen können, und mit den Köpfen ist das Profil des Magazins verblasst. Der montägliche Pflichtkauf ist längst zum samstäglichen Gelegenheitskauf geworden, mein Abo ist vor vier Jahren ausgelaufen.
Trotzdem halte ich den SPIEGEL in Ehren – und nach wie vor für wichtig, auch wenn ich ihn selber gerne harsch kritisiere. Wenn ich für eine längere Bahnfahrt oder einen Flug etwas Papiergedrucktes haben will, greife ich zu einem der Sonderhefte am Kiosk. Ähnlich wie die (massiv überteuerten) Ausgaben von Geo Epoche gefällt mir die unterhaltsame, aber nicht banalisierende Übersicht über ein geschichtliches Thema, aufbereitet mit tollen Bildern und kritischen Interviews. Kompakt, kompetent, konkret.
Und so kam ich vor ein paar Wochen mit einem dicken goldenen Heft aus dem Baden-Badener Bahnhof:
Ich habe nicht erwartet, hier etwas Neues zu lernen – die Themen Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder hat der SPIEGEL in vielen, vielen Serien über die letzten 30 Jahre oft genug durchleuchtet, auch viele der Bilder im Heft kommen mir bekannt vor. Aber mich trieb der Gedanke, das Zeitkolorit zu atmen, die Jugend meiner Eltern.
In der Tat: Inhaltlich werden die üblichen Vorgänge und die üblichen Verdächtigen exhumiert. Adenauer, Erhard, Käfer, Trümmerfrauen, Grundgesetz, Bonn. Eine neue Republik aus der alten Diktatur – ohne übereifrigen Austausch des Personals.
Aber – und damit kommen wir zum Grund für diesen Blogbeitrag – die Herangehensweise des Sonderhefts hat mich teilweise ratlos zurück gelassen. Hier spürt man eine völlig andere Grundeinstellung als noch vor 10 oder 20 Jahren. Der Blickwinkel auf die Nachkriegsjahre ist neu, und mit ihm die Bewertung der 50er.
Der SPIEGEL hat sich mit dem Muff von 1000 Jahren unter den Talaren versöhnt, um es mal mit einem Sponti-Spruch der späten 60er zu beschreiben.
Adenauer ist plötzlich nicht mehr der steinern konservative Kanzler der neuen Republik, der jede ernsthafte Abrechnung mit dem Dritten Reich abblockte und seine politischen Gegner eiskalt ausbremste. Stattdessen stellt ihn der SPIEGEL nun als genau die benötigte stabilisierende Kraft dar, die das verunsicherte und kriegsversehrte Volk brauchte. Zwischen den Zeilen ist gleich mehrfach zu lesen, dass eine stärkere Einflussnahme der Sozis in den Nachkriegsjahren vermutlich Chaos oder gar die Anbiederung an den Feind im Osten bedeutet hätte.
Deutschland in den 50ern ist nicht mehr der repressive Spießerstaat mit dem Turbokapitalismus, sondern die starke Demokratie, die den Kern Europas formt und stabil hält, Vorbild und Vorreiter zugleich, aus dunkler Zeit strahlend neu geboren. Das Experiment SPD-Regierung konnte man sich überhaupt erst nach 20 Jahren CDU-Solidität leisten.
Die 68er werden nicht mehr als Rettung und seligmachende Verjüngung der BRD dargestellt, sondern als teilweise fragwürdige, destruktive Bewegung, die im Eifer nur das Erstrebenswerte, nicht aber das Erhaltenswerte sehen wollte. Noch 2007 hatte man diese Generation gegenüber der BILD deutlich entschiedener in Schutz genommen.
Kurzum: Der SPIEGEL ist mit diesem Sonderheft so rasant in die gesellschaftliche Mitte gerückt, dass er vermutlich quietschend rechts angestoßen ist. Teilweise liest sich das wie eine unausgesprochene Entschuldigung, über Jahrzehnte die konservativen Kräfte dämonisiert und die progressiven Kräfte ungeprüft durchgewunken zu haben. Und damit ist "Der SPIEGEL Edition Geschichte: Die Adenauer-Jahre – Das deutsche Wunder" eben doch mehr als eine erneute Aufarbeitung der immer gleichen Ereignisse. Es ist eine Korrektur, eine Anpassung an den aktuellen historischen Kenntnisstand, eine Ablösung lieb gewonnener Klischees.
Nur manchmal bahnt sich noch das alte linke Feuer des SPIEGEL den Weg, wenn in älteren Texten z.B. der von mir nicht gerade verehrte Karasek gegen das Spießertum des deutschen Nachkriegsentertainments anschreibt. Das beißt sich dann schon merklich mit der neuen, milderen Einschätzung der 50er.
Schlecht finde ich das nicht, denn die Notwendigkeit einer angepassten historischen Einschätzung war/ist unbestreitbar. Auf der einen Seite hätte ich mir eine klarere Ansage dieses Kurswechsels gewünscht – man muss wirklich ein langjähriger SPIEGEL-Junkie sein, um die Neuausrichtung im direkten Vergleich wahrzunehmen. Auf der anderen Seite macht es das Sonderheft einen Tacken beliebiger – weil die typische SPIEGEL-Perspektive fehlt und historische Objektivität nie Stärke oder Interesse des Hamburger Magazins war. Die linke Identität hat gelitten. Der Versuch einer Ausgewogenheit macht die Lektüre etwas zahnlos.
SPIEGEL – ihr habt ein wirklich gutes WELT-Sonderheft publiziert. Gratulation?!
Das mit der Beliebigkeit stimmt leider. Ich wünsche mir den alten Spiegel zurück.
Noch drastischer ist der Kurswechsel bei SPON. Bei manchen Artikeln und vor allem Kommentaren hat man den Eindruck, eine Pressemeldung der "Atlantikbrücke" vor sich zu haben und die Wirtschaftsabteilung wurde offensichtlich der INSM eingegliedert.
Beim links/rechts Schema muss man aber auch berücksichtigen, wie sich hier die Bewertungsmaßstäbe in den letzten Jahren verschoben haben:
Was früher CDU Mainstream war (Wehrpflicht, Ablehnung der "Ehe für Alle", keine Doppelstaatsbürgerschaft, etc.) gilt heute vielen als nicht mehr satisfaktionsfähiges AfD-Gedankengut.
Auf der anderen Seite sind urlinke Themen wie Basisdemokratie und Meinungsfreiheit bei den Linken mittlerweile ins Gegenteil verkehrt: da wird von "hate speech" palavert, wenn es schlicht um Unterdrückung anderer politischer Standpunkte geht. Und Volksentscheide lehnt man entschieden ab, weil das Volk sich womöglich nicht so entscheidet wie es der eigenen Ideologie in den Kram passt.
Passend zu diesem Thema: http://blogs.faz.net/stuetzen/2017/07/30/nur-vandalen-hassen-die-polizei-8029/
Der SPIEGEL ist doch spätesten unter Stefan Aust schon massiv nach rechts gerückt. Womit Sie allerdings recht haben ist die Beliebigkeit des Personals. Um festzustellen, wie erschütternd borniert es in der Chefetage des Magazins zugeht, muss man nur mal den morgendlichen Newsletter "die Lage" lesen.
Noch jemand kritisiert den Spiegel:
http://meedia.de/2017/07/31/gerade-den-spiegel-finde-ich-erstaunlich-mittelmaessig-ex-chefredakteur-werner-funk-rechnet-mit-dem-nachrichtenmagazin-ab/
Was mir bei der Aufarbeitung der 50er Jahre generell aufstößt, ist auch, dass immer gerne von Wirtschaftswunder, etc. schwadroniert wird und wie hier auf dem Titelbild glückliche Familien mit neuem VW Käfer gezeigt werden, aber selten kritisch nachgehakt wird, inwieweit der Aufschwung auch wirklich bei allen ankam. Wie ich von Schilderungen meiner Eltern weiß (selbst bin ich zugegebenermaßen zu jung), war damals bei der Durchschnittsbevölkerung keinesfalls alles Friede, Freude, Eierkuchen, sondern lebte das Gros der Bevölkerung immer noch in ziemlich bescheidenden Verhältnissen, die unter heutigen Hartz IV-Niveau lagen, waren Luxusgüter wie Auto, Fernseher und Waschmaschine nach wie vor kaum erschwinglich und mussten zudem noch Kriegstraumata bewältigt werden, die man gerne in Form von körperlicher Gewalt an Kindern ausließ. Wem es hingegen gut ging, waren zahlreichen Alt-Nazis, die in Politik, Wirtschaft, Behörden, etc., fröhlich weiter Karriere machen konnten. Weiß ja nicht, ob das in dem Heft angesprochen wird, aber m.E. gehört das zu einer realistischen Einschätzung der 50er Jahre auch hinzu und kommt oft zu kurz.
@ Sigur Ros: Da muss ich tatsächlich mal vehement widersprechen, auch aus den Erfahrungen meiner eigenen Familie. Für ALLE Deutschen ging es nach dem Krieg massiv aufwärts, der Lebensstandard schoss in den 50ern durch die Bank nach oben. Die Vollbeschäftigung bedeutete, dass jeder, der einen Arbeitsplatz suchte, auch einen bekommen konnte. Mehr noch: man konnte voran kommen, weil es generell voran ging – und ein Mann konnte davon eine gesamte Familie ernähren. Natürlich war der Lebensstandard generell geringer – meine Familie mütterlicherseits hat mit weniger auskommen müssen, als heute Armutsstandard ist. Trotzdem hat sie sich als Mittelklasse begriffen, weil die Kinder Kleidung hatten, der Heizkeller Kohle und die Speisekammer Dosen. Das mit heutigen Maßstäben zu messen, greift völlig daneben, weil man damals nicht weniger als heute hatte, sondern viel mehr als gestern.
Die Frage, OB man eine Arbeit findet, stellte sich meinen Eltern nicht – sie mussten nur entscheiden, welche sie wollten. Und ob sie dafür qualifiziert waren. Wenn DAS kein Luxus ist…
Rechtsruck des SPIEGEL: das aktuelle Heft SPIEGEL Biografie ist Angela Merkel gewidmet. "WENDEZEIT Lücken in der Erinnerung" steht links unten. Das spielt einerseits den Schwachmaten in die Hände, die die Kanzlerin als 'IM Erika' schmähen. Und andererseits ist es so, dass das ganze Heft aus alten SPIEGEL-Artikeln und Interviews kuratiert wurde. Ich weiss auch nicht mehr, ob ich 1990 in Dänemark oder in Schottland geurlaubt habe, bei Frau Merkel stehn Sardinien und London zur Auswahl.
Was der Verlag zwischenzeitlich ein bisschen zu extrem links war, ist er nun n bisschen zu weit über die Mitte. Es liegt vielleicht auch daran, dass den FOCUS ausserhalb von Arztwartezimmern niemand mehr ernstnimmt, und manche innert der Brandstwiete meinen, dessen Positionen mit übernehmen zu müssen.
Was mich mehr frustriert, ist das der Spiegel langweilig geworden ist. Oder mich interessiert nicht mehr so viel. Auch möglich.
Früher™ war ich Spiegel-Abonnent (ich bin 39). Jetzt gehe ich jeden Samstag zur Tanke (mein Netto führt den schon gar nicht mehr) und gucke aufs Cover und ins Inhaltsverzeichnis.
Wenn ich mindestens 3 Einträge im Inhaltsverzeichnis finde, die interessant scheinen, kaufe ich.
Ergebnis: Ich kaufe vielleicht 1 Spiegel im Monat.
Ich habe den Spiegel seit Ende der 1960er wöchentlich verschlungen. Heute empfinde ich nur noch Verachtung für die intellektuellen Dünnbrettbohrer der opportunistischen Journalisten. Hirnlose Hipster, ganz zu schweigen von der Hilfsschulabteilung 'bento' oder anderen Anbiederungen der Marketing-Nutten.