06
Apr 2017

Short Story: Charlotte’s Monster

Themen: Neues |

Der nachfolgende Text geistert auf vielen Webseiten durch das Internet. Virale Literatur sozusagen. Soweit ich das recherchieren konnte, lässt sich die Story zu einer “Mindy” zurückverfolgen und auf einen “writing prompt”, also eine vorgegebene Ausgangssituation für die Handlung.

Ich dachte mir, es sollte diese Geschichte auch auf deutsch geben – also habe ich sie übersetzt.

Für mich zeigt diese Kurzgeschichte exemplarisch die Kraft des geschriebenen Wortes, die Kraft der geteilten Ängste, die Kraft der knappen Erzählung. Und darum teile ich sie mit einem gewissen Maß an Ehrfurcht und nenne sie mangels eines überlieferten Titels:

Charlotte’s Monster

Fall: #273402
Status: Katastrophal.

Ich starre auf den Bericht und mir wird klar, dass ich keine Wahl habe. In den letzten zwei Jahren hat jedes Monster, das ich Charlotte Dower zugeteilt habe, hingeschmissen. Jedes einzelne. Ihr erstes Monster war Bubba gewesen, ein Humanoide mit Goldfischgesicht. Nach vier Jahren hatte sie aufgehört, Angst vor ihm zu haben. Es folgte eine Parade von gewöhnlichen, ungewöhnlichen und außergewöhnlichen Monstern… sogar ein intelligentes Sockenbiest hatte ich auf sie angesetzt. Es kam heulend zurück!

Ich schaue auf das Tablet. Nur ein Monster übrig: ich selbst. Vor Ort-Einsätze sind nie mein Ding gewesen, aber was sein muss, muss sein. Und so warte ich, bis Mrs. Gideon um 20.03 Uhr Charlotte und ihren kleinen Bruder Daniel zur Nacht gebettet hat, um in den dunklen Spalt unter Charlottes Bett zu kriechen.

Auf der anderen Seite des Zimmer wartet schon Chico, ein Neuling der Fratzensorte, auf seinen Einsatz an Daniels Wiege. Ich konzentriere mich auf den Schlafplatz über mir. Charlotte ist wach, aber dösig, und vorsichtig taste ich nach oben und streiche ihr mit einem eiskalten Finger über die Wange. Stille. Ich versuche es noch einmal.

“Ich habe keine Angst vor dir, Monster!” flüstert sie, aber ihre Stimme zittert. Die kleine Uhr auf dem Nachttisch zeigt 8:14 Uhr. Eine Tür irgendwo im Haus wird aufgestoßen und ich höre Charlotte nach Luft schnappen. Ein paar Minuten vergehen. Francis Gideon schreit seine Frau an. Schwere Schritte auf der Treppe, schweres Atmen. Charlotte strampelt sich aus der Decke und krabbelt…

Zu mir.

Unter das Bett.

“Mach Platz!” zischt sie leise. Und ich mache Platz.

Die Tür zum Kinderzimmer springt auf und ich kann den billigen Fusel riechen, bevor der Mann über die Schwelle getreten ist.

Ich weiß auf einmal, warum Charlotte keine Angst vor meinen Monstern hat; sie hat Angst vor ihrem eigenen.

Francis grabbelt mit der Hand unter dem Bett, packt meinen Unterarm. Er zieht wütend, und ich schlängel mich hervor. “Was zum… ?”

Bevor er noch etwas sagen kann, richte ich mich zu meiner vollen Größe von drei Metern auf und beuge mich drohend über den betrunkenen Mann. Meine kalten Finger legen sich über sein Gesicht.

“Wenn du jemals wieder das Kind anrührst, es ängstigst, ihm drohst oder weh tust, werde ich dich finden. Und dann werde ich es dir heimzahlen – für alle Ewigkeit”, verspreche ich knurrend.

Francis macht sich in die Hosen, während er schreiend aus dem Zimmer flüchtet.

Ich ziehe Charlotte unter dem Bett hervor, decke sie sorgfältig zu und küsse ihr sanft die Stirn. “Ich komme morgen wieder. Schlaf schön, mein Engel.”

Charlotte Dower ist mein Kind, und ich bin das Monster unter ihrem Bett.



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4 Kommentare
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Dietmar
6. April, 2017 10:03

Wow.

Nennt sie sich nicht “Mindy”?

Fabian Neidhardt
6. April, 2017 10:40

Was für eine schöne Geschichte. Ich war ähnlich berührt von dieser, die ich auch ins Deutsche übertragen habe: http://www.mokita.de/blog/2017/01/06/deutsche-uebersetzung-player-2-von-00wartherapy00/

Lächeln, Fabian

Serrin
Serrin
6. April, 2017 11:47

Danke für übersetzen und teilen!